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KRIEG/1720: Europa - Selbstbewußtsein tut sich auf ... (SB)



Es sind Schritte auf dem Weg zu einer Armee der
Europäer


Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. [1]

Deutschland und Frankreich, nach dem Abgang der Briten die unangefochtenen Führungsmächte Europas, treiben den Ausbau einer eigenständigen europäischen Streitmacht voran. Nachdem sich London in der Vergangenheit unter Verweis auf die enge Partnerschaft mit Washington und den ausschließlichen Vorrang der NATO als Bremsklotz betätigt hatte, steht dem ambitionierten Vorhaben der Achse Berlin-Paris zumindest in dieser Hinsicht nichts mehr Wege. So sehr Donald Trumps "America first" das Gefüge des transatlantischen Bündnisses auch erschüttern mag, reagieren Macron und Merkel mit ihren jüngsten militärstrategischen Einlassungen zwar auf die aktuellen geopolitischen Verwerfungen, doch handelt es sich keineswegs um Weichenstellungen, die ad hoc getroffen werden. Der Auf- und Ausbau gesamteuropäischer Waffengewalt ist vielmehr ein langgehegtes Vorhaben, das seit Jahrzehnten geplant und seit Jahren realisiert wird, auch wenn die Umsetzung mit den ursprünglichen Zeitvorstellungen nicht Schritt halten kann.

Die Anfänge derartiger Überlegungen liegen weit in der Vergangenheit. So waren heutige EU-Mitgliedstaaten 1954 mit dem Versuch gescheitert, über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) eine Europa-Armee zu gründen. Danach war jahrzehntelang eine gemeinsame Verteidigungspolitik auf europäischer Ebene kein offizielles Thema mehr. [2] Im Vertrag von Maastricht wurde 1992 die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU konstituiert. Aus verschiedenen Gründen wie der Neutralität einiger Mitgliedstaaten oder dem ungeklärten Verhältnis der EU zur NATO konnte die gemeinsame Verteidigung jedoch bisher kaum verwirklicht werden. Für die Durchführung europäischer Militärmissionen war man stets auf die NATO und somit auch auf die Mithilfe der USA angewiesen. Seit Anfang des Jahres 2000 wurde indessen immer wieder über den Aufbau einer europäischen Armee diskutiert und deren Realisierung gefordert.

Die Abhängigkeit von Washington soll durch die Stärkung der eigenen Fähigkeiten gemindert werden. Die Ende 2016 ins Leben gerufene Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation - Pesco) gilt als erster Schritt hin zu einer weitgehend gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU-Mitgliedsstaaten. Heute fordert Frankreichs Präsident Emanuel Macron eine "echte europäische Armee", die zur Verteidigung gegen Rußland und China unabdingbar sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese Pläne in einer Rede vor dem Europaparlament unterstützt, wobei sie allerdings von einer "Vision" sprach, die sich in absehbarer Zeit kaum verwirklichen lassen dürfte. [3] Beide wollen im Groben dasselbe, haben aber tendentiell unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der Schrittfolge und des letztendlichen Ausmaßes der Entscheidungsmacht in Händen der EU.

Wenn nur wenige Tage nach diesen vielbeachteten Positionierungen, die harsche Kritik des US-Präsidenten nach sich zogen, gemeinsame europäische Aufrüstungsprojekte auf den Weg gebracht werden, zeugt dies von einem Entwurf, der von langer Hand vorbereitet worden ist. Die Außen- und Verteidigungsminister der EU-Staaten haben bei einem Treffen in Brüssel 17 neuen Projekten für die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit zugestimmt. In diesem Rahmen sollen neue Waffensysteme entwickelt sowie verschiedene weitere Maßnahmen umgesetzt werden. Pesco war etabliert worden, um dem Ziel einer echten Verteidigungsunion näherzukommen und die EU nicht zuletzt flexibler und unabhängiger von den USA zu machen, wobei als verharmlosende Beispiele der Anwendung mögliche Friedenseinsätze in Afrika genannt wurden. Nicht mit von der Partie sind lediglich Dänemark, Großbritannien und Malta. Dänemark beteiligt sich traditionell nicht an der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Großbritannien will im kommenden Frühjahr aus der EU ausgetreten sein. Malta wollte offensichtlich die Teilnahmekriterien nicht erfüllen, die unter anderem eine regelmäßige Erhöhung der Verteidigungsausgaben vorsehen.

Neben den 17 neuen Pesco-Projekten beschlossen die Verteidigungsminister auch den Ausbau ihrer Kommandozentrale für gemeinsame Militäreinsätze. Sie soll künftig nicht nur Ausbildungseinsätze wie die in Mali oder Somalia steuern, sondern auch weiterreichende Missionen wie etwa den laufenden Einsatz zur Bekämpfung von Schleuserkriminalität im Mittelmeer. Darüber hinaus wurde vereinbart, die Einsatzbereitschaft von Personal für ziviles Krisenmanagement der EU zu erhöhen. Dazu soll ein Pool von 200 Polizisten, Juristen und anderen Experten aufgebaut werden, die innerhalb von 30 Tagen einsatzbereit sein werden. Derzeit sind EU-Experten unter anderem als Beobachter der Waffenruhe in Georgien oder zur Unterstützung beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen im Kosovo im Einsatz. Zu abgeschlossenen Einsätzen zählt beispielsweise die Ausbildung von Polizisten in Afghanistan.

Auf die Planungen für ein besseres Krisenmanagement legte vor allem die Bundesregierung Wert. Wie Außenminister Heiko Maas in Brüssel erklärte, wolle Deutschland dafür sorgen, daß die zivile Krisenprävention "ein genauso wichtiger Teil" der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik werde wie die Pesco. Daher habe sich die Bundesrepublik auch bereiterklärt, ein Zentrum zur Ausbildung ziviler Experten für Kriseneinsätze für die EU aufzubauen. Diese Fachleute sollten künftig an Ort und Stelle einen Beitrag dazu leisten, daß Krisen nicht zu großen Konflikten eskalierten, so Maas. Standort für das "europäische Krisenpräventionszentrum" soll Berlin werden. [4]

Im Rahmen von Pesco beteiligt sich Deutschland unter anderem an einem Projekt, das die gemeinsame Nutzung von Militärstützpunkten fördern soll. Zudem werden die von der Bundesrepublik unterstützte Entwicklung der sogenannten "Eurodrohne" und des neuen Kampfhubschraubers Tiger Mark 3 zu sogenannten Pesco-Projekten. "Es sind Schritte auf dem Weg zu einer Armee der Europäer", kommentierte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die aktuellen Beschlüsse. Zudem müsse Europa auch bei den Entscheidungsabläufen schneller werden.

Um an der Pesco teilnehmen zu können, müssen Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsfähigkeit stetig weiterentwickeln, indem sie insbesondere an multinationalen und europäischen Ausrüstungsprogrammen teilnehmen. Im Bedarfsfall müssen sie in der Lage sein, innerhalb von 5 bis 30 Tagen für einen Zeitraum von 30 bis 120 Tagen bewaffnete Kräfte und logistische Unterstützung bereitzustellen. Im Detail haben sich die 25 Teilnehmerstaaten auf eine Reihe verpflichtender Ziele geeinigt, darunter eine regelmäßige Erhöhung des Verteidigungshaushalts, die Durchführung gemeinsamer strategischer Rüstungsprojekte, engere Zusammenarbeit im Bereich der Cyberdefence, Bereitstellung von Einsatztruppen und Logistik für die EU-Battlegroups und gemeinsame EUFOR-Einsätze, eine gemeinsame Finanzierung der Missionen und nicht zuletzt mehr Wettbewerb auf den europäischen Rüstungsmärkten.

Dies belegt, in welch hohem Ausmaß die Pesco wesentliche Aspekte des Aufbaus einer europäischen Armee beinhaltet. Kompliziert sind zwangsläufig die Entscheidungsebenen und -wege, da sie zentrale Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten berühren. Die vereinbarte Konstruktion sieht eine Rats-Ebene vor, die für grundsätzliche Richtungsentscheidungen verantwortlich ist. Stimmberechtigt sind nur die Pesco-Teilnehmer, welche in der Regel einstimmig entscheiden. Die verschiedenen Projekte werden von den teilnehmenden Staaten hingegen selbständig organisiert, wobei diese ungeachtet der engen Zusammenarbeit auf europäischer Ebene die alleinige Verantwortung und Souveränität über ihre Streitkräfte behalten. Es findet jedoch eine Koordination durch den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, die Europäische Verteidigungsagentur, den Militärstab der Europäischen Union, den Europäischen Auswärtigen Dienst und den Militärausschuß der Europäischen Union statt.

Man darf zudem nicht außer Acht lassen, daß bislang ausschließlich von Streitkräften auf Grundlage einer EU-weiten Abmachung die Rede war, wie sie derzeit die rotierende Zuordnung multinationaler Verbände in den EU Battlegroups repräsentiert. Hinzu tritt jedoch eine ganze Reihe multinationaler, aber nicht EU-weiter Streitkräfte, an denen sich jeweils mehrere Staaten als Truppensteller oder Beobachter beteiligen. So bildet das Eurokorps mit etwa 60.000 Mann den Kern eines stehenden Heeres mit Brigaden aus verschiedenen Ländern. Den EUFOR-Operationen unterstehen Truppen in Bosnien und Herzegowina, im Tschad und Kongo. EUROMARFOR ist eine europäische Marine, der in Friedenszeiten derzeit keine Truppenkontingente zugeordnet sind. Es gibt die European Air Group, das Europäische Lufttransportkommando 2010 und eine Europäische Gendarmerietruppe. Das 1. Deutsch-Niederländisches Korps wurde als NATO Response Force weiterentwickelt, und der EU-Eingreiftruppe unterstehen in Krisenzeiten mehr als 30.000 Mann.

Dieses komplexe Gefüge zeugt einerseits von den Hürden beim Aufbau einer gesamteuropäischen Armee, zugleich aber auch von einer tiefen militaristischen Durchdringung der EU. Existierende Widerstände gegen einen zentral gesteuerten Kriegsapparat wurden umgangen und unterlaufen, nicht zuletzt aber aufgeweicht. Im Zuge grassierender Europaskepsis und Zerfallserscheinungen darauf zu setzen, daß sich die echte europäische Armee Macrons und Merkels von selbst erledigt, wäre eine fatale Fehleinschätzung. Sie wurde im Gegenteil aus den Gärungen wachsenden Ungewißheit in Gestalt der Pesco geboren und droht im Zuge einer Restauration der EU, wie sie in zunehmendem Maße als Heilsversprechen herbeigesehnt wird, ihr Haupt zu erheben.


Fußnoten:

[1] www.sueddeutsche.de/politik/pesco-eu-verteidigung-1.4218792

[2] www.tagesschau.de/ausland/eu-ruestungsprojekte-101.html

[3] kurier.at/politik/ausland/armee-der-europaeer-verteidigungsunion-wird-vorangetrieben/400329306

[4] www.spiegel.de/politik/deutschland/eu-staaten-beschliessen-17-neue-projekte-fuer-verteidigungsunion-pesco-a-1239312.html

20. November 2018


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