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KRIEG/1715: Afghanistan - der verleugnete Krieg ... (SB)



Angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul ist eine interne Schutz- oder Neuansiedlungsalternative in der Stadt generell nicht vorhanden. (...) Zivilisten, die an alltäglichen wirtschaftlichen und sozialen Aktivitäten in Kabul teilnehmen, sind der Gefahr ausgesetzt, der allgemeinen Gewalt zum Opfer zu fallen, die in der Stadt herrscht.
Aktueller Lagebericht des UNHCR zu Afghanistan [1]

Nach 17 Jahren Krieg in Afghanistan steht den westlichen Okkupationsmächten das Wasser bis zum Hals. Die Sicherheitslage gleicht jener vor dem Angriff der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, der 2001 zum Sturz der Taliban-Regierung führte. Inzwischen beherrschen die Islamisten wieder weite Landesteile und dringen selbst in die innersten und vermeintlich am besten geschützten Zirkel der Besatzer und ihrer einheimischen Kollaborateure ein. Unmittelbar vor den seit drei Jahren verschobenen und nun endlich anberaumten Parlamentswahlen wurden bei einem Attentat der Polizeichef und der Geheimdienstleiter von Kandahar erschossen, während der nur wenige Meter entfernt stehende neue NATO-Kommandeur ungeschoren davonkam. Die langjährige Strategie, den Blutzoll der Zivilbevölkerung wie auch der afghanischen Polizei und Armee aufzulasten, stößt längst an ihre Grenzen, wenn selbst die hochrangigsten Befehlshaber des transatlantischen Militärbündnisses vor Ort zu unmittelbaren Anschlagszielen werden.

Wie der Generalstabschef der afghanischen Armee, Mohammed Scharif Jaftali, bestätigt hat, sind in der südlichen Provinzhauptstadt Kandahar der einflußreiche Polizeichef der gleichnamigen Provinz, General Abdul Rasik, und der Geheimdienstchef von Kandahar, Abdul Momin Hussein Chel, getötet worden, während der Gouverneur der Provinz, Zulmai Wesa, verletzt wurde. [2] Der ebenfalls anwesende neue NATO-Oberbefehlshaber in Afghanistan, General Scott Austin Miller, blieb nach Angaben des Sprechers der NATO-Mission "Resolute Support", Knut Peters, unverletzt. Bei dem Vorfall seien drei Amerikaner im Kreuzfeuer verwundet worden, bei denen es sich um einen Soldaten, einen Zivilisten und eine Vertragskraft gehandelt habe. Zudem wurde ein Kameramann eines staatlichen Fernsehsenders getötet. [3] Salim Dschan Naumedi sei bereits der 15. Journalist, der in diesem Jahr in Afghanistan getötet wurde, sagte der Chef der Organisation NAI, Sedik Tauhidi, die Medienvertreter unterstützt. [4]

Demnach eröffnete einer der Leibwächter des Gouverneurs nach einem hochrangig besetzten Sicherheitstreffen für die bevorstehenden Parlamentswahlen das Feuer, worauf er selbst getötet wurde. Die Taliban reklamierten den Angriff über den Messenger-Dienst WhatsApp für sich und erklärten, Ziele seien der Polizeichef Rasik sowie General Miller gewesen. Im Wahlkampf haben Kämpfer der Taliban immer wieder Angriffe durchgeführt, um den Urnengang zu verhindern. Präsident Aschraf Ghani sagte in einer Fernsehansprache, eine Sicherheitsdelegation mit dem Geheimdienstchef des Landes, dem Innen- sowie dem Verteidigungsminister reise umgehend nach Kandahar, um sicherzustellen, daß die Situation unter Kontrolle sei.

Laut dem Afghanistanexperten Thomas Ruttig von der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network war Rasik mehr als nur der Polizeichef von Kandahar. Er sei vielmehr der starke Mann im Südosten des Landes und jene Person gewesen, auf die die Amerikaner zur Sicherung der Region gegen die Taliban alles gesetzt hätten. "Er wird schwer zu ersetzen sein, es gibt keinen sichtbaren adäquaten Nachfolger", sagte Ruttig. Rasik hatte in der Vergangenheit mehrere Mordversuche überlebt und kontrollierte die Provinz mit harter Hand, wobei ihm immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. Diese seien ihm, so Ruttig, allerdings von den Amerikanern verziehen worden. Zuletzt sei er, von seiner Ablösung bedroht, auf Oppositionskurs zur Regierung gegangen.

Wie gefährlich die Lage in Afghanistan auch für ausländische Truppen ist, belegt ein Zwischenfall vor wenigen Tagen, bei dem im Norden des Landes deutsche Transporthubschrauber beschossen worden sind. Laut einer Mitteilung der Bundeswehr wurden Hubschrauber vom Typ CH-53 während eines Fluges von Kundus nach Masar-i-Scharif mit Handfeuerwaffen beschossen, das Feuer sei von Bordsicherungssoldaten erwidert worden. Der verlustreichste Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr läuft bereits seit 16 Jahren, wobei sich die deutschen Soldaten seit langem in ihre Camps zurückgezogen haben, während das zeitweise von ihnen gesicherte Gebiet von Gewalt beherrscht wird. Aktuell sind rund 1300 Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan stationiert, die nur noch im Rahmen der Ausbildungsmission "Resolute Support" einheimische Sicherheitskräfte zu Kanonenfutter machen. [5] Donald Trump hatte angesichts der prekären Sicherheitslage in Afghanistan im Sommer eine neue Militärstrategie angekündigt. Sie sieht nach Jahren des Abzugs amerikanischer Soldaten eine Aufstockung von rund 3000 Mann vor. Mehrere andere NATO-Länder wollen ihre Militärpräsenz ebenfalls ausbauen.

Camp Marmal, in dem rund 980 deutsche Soldatinnen und Soldaten stationiert sind, ist das größte Feldlager der Bundeswehr. Nahe dem internationalen Flughafen von Masar-e Scharif gelegen, sind dort auch Truppen aus anderen Ländern präsent. Vor dem Camp demonstrieren seit Wochen rund 150 Afghanen und fordern Asyl ein. Bei den ehemaligen Angestellten der deutschen Truppe handelt es sich um Dolmetscher, Sicherheitspersonal oder Küchengehilfen, die nun um ihr Leben fürchten. Aus ihrer Sicht wurde das Versprechen gebrochen, ihnen für ihre Mitarbeit später Aufenthaltsrecht in Deutschland zu gewähren. Das Verteidigungsministerium hat jedoch entschieden, daß keine unmittelbare Gefahr bestehe. Die Demonstranten, von denen einige bis zu zehn Jahre für die Bundeswehr tätig waren, versuchten Beweise vorzubringen, welche die Bedrohung durch die Taliban begründen. Die Beweise wurden als unecht abgetan. In früheren Jahren sah der Umgang mit den afghanischen Helfern noch anders aus. Über 760 Ex-Mitarbeitern und deren Familien wurde aufgrund ihrer Arbeit Asyl in Deutschland gewährt. Auf diesem Weg wollte man sie vor der Rache der Taliban schützen. Heute kämpfen jedoch zahlreiche ehemalige afghanische Angestellte, die von ihren NATO-Arbeitgebern zurückgelassen wurden, zumeist vergeblich um ihr Recht auf Asyl in Deutschland, Großbritannien, den USA und anderswo. [6]

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) hat Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen zusammengetragen, um ausführliche Informationen zur Situation in allen Provinzen Afghanistans bereitzustellen. Demnach hat sich die Zahl der Sicherheitsvorfälle im Zeitraum von 2008 bis 2017 mehr als verfünffacht. 2017 starben fast 3.500 Zivilisten bei Auseinandersetzungen und Anschlägen, weitere 7.000 wurden verletzt. Vor allem Kabul wird zu einem Hauptziel für Anschläge. In fast allen Provinzen kommt es zu Vertreibungen, 2017 wurden mindestens 360.000 neue Binnenvertriebene registriert. Gesamtzahlen dazu finden sich kaum noch, es dürften inzwischen deutlich über 2 Millionen Menschen betroffen sein. Hinzu kommen in wachsendem Maße Zwangsrückkehrer aus Pakistan, dem Iran und Europa. Zudem haben rund 10 Millionen Menschen nur begrenzten oder gar keinen Zugang zur grundlegenden Gesundheitsversorgung, 3,5 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule und fast 2 Millionen Menschen haben nicht genügend zu essen. [7]

Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) beschreibt in einem aktuellen Bericht unter detaillierter Quellenangabe die Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitäre Lage in Afghanistan. Demnach herrscht in Kabul eine Situation generalisierter Gewalt, auch landesweit existierten keine Fluchtalternativen, und wenn es sie gäbe, wären sie für die Betroffenen unerreichbar, da die Taliban die Überlandstraßen kontrollieren. Dies hat selbst das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht vom 31. Mai eindeutig festgestellt. Die Lage sei "volatil", wird das Vordringen der Taliban und die zeitweise Einnahme von Städten wie Kundus und Ghazani diplomatisch umschrieben. Dessen ungeachtet werden in Deutschland weiter Sammelabschiebungen nach Afghanistan durchgeführt, indem die Bundesregierung wider besseres Wissen bestimmte Gebiete für sicher erklärt und als "inländische Fluchtalternative" bezeichnet.

Daß parallel zur Verschlechterung der Lage in Afghanistan die Anerkennungsquoten beim BAMF sinken, zeigt den unverhohlenen Zynismus deutscher Afghanistanpolitik. Die zuständigen Stellen phantasieren von "sicheren Inseln", ohne sie benennen zu können. In Beantwortung einer Anfrage im Bundestag erklärte das Innenministerium jüngst, die UNHCR-Richtlinien seien bloße Empfehlungen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe keine Hinweise, daß "relevante Änderungen der bestehenden Bewertung geboten" erschienen. Es prüfe ohnehin in jedem Einzelfall, ob es solche internen Schutzmöglichkeiten gebe, inklusive der Frage, ob der Zufluchtsort sicher und legal erreichbar sei. Wenn das so ist, hätte der NATO-Oberbefehlshaber in Afghanistan, General Scott Austin Miller, gut daran getan, zuerst beim BAMF nachzufragen, bevor er sich zu seinem Sicherheitstreffen nach Kandahar begab.


Fußnoten:

[1] www.proasyl.de/news/neue-unhcr-richtlinien-abschiebungen-sind-dringend-auszusetzen/

[2] www.tagesschau.de/ausland/kandahar-attentat-101.html

[3] www.n-tv.de/politik/Kandahars-Polizeichef-kommt-zu-Tode-article20678078.html

[4] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-polizeichef-von-kandahar-bei-anschlag-getoetet-15845489.html

[5] deutsch.rt.com/newsticker/77715-afghanistan-deutsche-hubschrauber-nahe-kundus-beschossen/

[6] deutsch.rt.com/asien/76689-protest-vor-bundeswehrbasis-in-afghanistan/

[7] www.proasyl.de/news/detaillierter-bericht-zeigt-wie-unsicher-afghanistan-ist/

19. Oktober 2018


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