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KRIEG/1688: Europäische Union treibt ihre Kriegsfähigkeit voran (SB)



Wenngleich die Europäische Union ihre seit Jahren geplante Militarisierung nicht im ursprünglich geplanten Tempo und Umfang realisiert hat, bedeutet das keineswegs, daß dieser weitreichende strategische Entwurf zum Scheitern verurteilt oder ad acta gelegt sei. Wohl trifft es zu, daß das bereits 1999 ausgewiesene Ziel, 50.000 bis 60.000 Mann innerhalb von zwei Monaten in Krisengebiete verlegen zu können, ebensowenig umgesetzt wurde wie der angestrebte Einsatz eigenständiger europäischer Battle Groups. Der Ansatz der letzten 15 Jahre, ambitionierte Vorhaben auf höchster Ebene in der Erwartung festzulegen, daß sie in der Folge von den Mitgliedsstaaten realisiert würden, wurde von politischen Kontroversen und ökonomischen Krisenszenarien gebremst und durchkreuzt. Ohne die grundsätzliche Zielsetzung preiszugeben, wird nun tendenziell die modifizierte Vorgehensweise favorisiert, kleinteiliger, abgestufter und gewissermaßen Schritt für Schritt von unten her wachsend die Aufrüstung und Kriegsfähigkeit voranzutreiben. [1]

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wirbt seit seinem Amtsantritt Ende 2014 dafür, die europäische Verteidigungspolitik zu stärken, und die EU-Staaten haben vom Grundsatz her beschlossen, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die langjährige Debatte, wie eine gemeinsame "Verteidigung" gestärkt werden könnte, hat seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump deutlich an Schwung gewonnen. Zum einen erhöhen die Vereinigten Staaten den Druck auf ihre Verbündeten, mehr für die eigene Sicherheit zu tun und die nationalen Wehretats zu erhöhen. Zugleich verdichtet sich in den europäischen Hauptstädten der Eindruck, daß die Sicherheitspolitik im Verbund mit den USA an Stabilität eingebüßt habe. Nachdem die Entfremdung beim Brüsseler NATO-Gipfel Ende Mai offen zutage getreten war, sprach Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Blick auf den US-Präsidenten das Machtwort, daß die Zeiten vorbei seien, in denen sich Deutschland und die Europäer völlig auf andere verlassen konnten.

Dabei ist die Kontroverse mit Washington weder der Grund noch ein höchst unwillkommener Anlaß, die nationalstaatliche und gesamteuropäische Aufrüstung auf die Tagesordnung zu setzen. Wenngleich Reibungsverluste oder sogar auseinanderdriftende und sich neu formierende globale Machtblöcke nicht auszuschließen sind, stellt der Streit mit der neuen US-Präsidentschaft doch geradezu einen Türöffner für die Akzeptanz zuvor für nicht durchsetzbar erachteter europäischer und NATO-Pläne dar. Augenfälligstes Beispiel dieses militaristischen Befreiungsschlags ist das von den NATO-Partnern beschlossene Vorhaben, den jeweiligen Wehretat binnen weniger Jahre auf zwei Prozent des Staatshaushalts aufzustocken. Was noch in der jüngeren Vergangenheit als utopisch ausgewiesen wurde, hat die Bundesregierung inzwischen im Handstreich auf den Weg gebracht.

Die Europäische Union treibt nun ihre Überlegungen zum Ausbau der gemeinsamen Verteidigungspolitik energisch voran. So hat die EU-Kommission Pläne für einen neuen Verteidigungsfonds der Gemeinschaft vorgelegt, der Gelder für die Rüstungsforschung bereitstellen und gemeinsame Beschaffungsprojekte anschieben soll. Zudem präsentierte die Kommission ein Strategiepapier, in dem beschrieben wird, wie die Armeen der Mitgliedstaaten enger zusammenrücken könnten.

In der Welt von heute komme es mehr denn je auf eine starke NATO und eine starke EU an, hob Kommissions-Vizepräsident Jyrki Katainen in Brüssel die parallele Ausrichtung hervor. Europa müsse seine Sicherheit selbst in die Hand nehmen und Überschneidungen sowie Doppelarbeit vermeiden. Wie EU-Chefdiplomatin Frederica Mogherini betonte, solle die Verteidigungsunion das transatlantische Bündnis keineswegs ersetzen, sondern vielmehr ergänzen. Wenngleich die meisten EU-Staaten zugleich NATO-Mitglieder sind, gibt es doch Ausnahmen wie beispielsweise Schweden, Irland und Österreich. Umgekehrt sind europäische NATO-Staaten wie die Türkei oder Norwegen nicht Mitglied der EU.

Befreit von Großbritannien, das bislang als Bremsklotz für eine gemeinsame Verteidigungspolitik galt, beschreibt die EU-Kommission in ihrem Papier drei Szenarien, wie sich die Zusammenarbeit der europäischen Armeen in Zukunft gestalten könnte. Das erste Szenario sieht nur bescheidene Fortschritte gegenüber dem Status quo vor. Demnach würden die Streitkräfte der einzelnen Mitgliedstaaten häufiger als bislang auf einer freiwilligen Basis, aber ohne größeren institutionellen Rahmen zusammenarbeiten, sofern es die sicherheitspolitische Lage akut erfordert. Szenario zwei sieht eine Bündelung bestimmter finanzieller und operativer Ressourcen der Mitgliedsstaaten im Verteidigungsbereich vor, so daß es dabei bereits um gemeinsame Wehrausgaben und -kapazitäten, wenn auch im begrenzten Rahmen, geht. Das ehrgeizigste dritte Szenario skizziert ein hohes Maß an militärischer und sicherheitspolitischer Integration jener Länder, die sich bewußt dafür entscheiden. Damit wäre der Weg zu einer eigenen, multinationalen EU-Armee nicht mehr weit, womit der Schutz Europas der Verantwortung von EU und NATO unterstellt würde. [2]

In allen drei Szenarien sollen die Staaten ihre Rüstungsforschung und ihre Beschaffungsprojekte besser miteinander abstimmen, um die vorhandenen finanziellen Mittel gezielter zu investieren und die Zahl der unterschiedlichen Waffensysteme in Europa zu reduzieren. Bislang setzt jeder Staat auf diesem Gebiet seine eigenen Schwerpunkte, die sich oftmals nach den Erzeugnissen der heimischen Rüstungsindustrie richten. Während es in der EU 178 Waffensysteme gebe, hätten die USA nur 18, heißt es dazu. [3] Schätzungen zufolge kostet dieser Mangel an Kooperation jährlich bis zu 100 Milliarden Euro, und die Zersplitterung beeinträchtigt zudem die gemeinsame militärische Schlagkraft.

In der nun angestoßenen Initiative kommt dem neuen Verteidigungsfonds eine zentrale Rolle zu, für den die Kommission bis 2020 knapp 600 Millionen Euro aus vorhandenen Haushaltsmitteln mobilisieren will. Nach 2020 sollen auch die Mitgliedsländer direkte Beiträge leisten, so daß der Fonds dann über 5,5 Milliarden Euro pro Jahr verfügen würde. Er soll die Entwicklung und den Kauf von Prototypen in Schlüsseltechnologien vorantreiben. Aus dem laufenden EU-Haushalt stehen demnach für Forschungsprojekte in diesem Jahr 25 Millionen Euro zur Verfügung, bis Ende 2019 sind es 90 Millionen. Nach 2020 soll der Fonds bis zu 500 Millionen Euro jährlich allein für die Rüstungsforschung umfassen. Erste Projekte will die Kommission noch bis zum Jahresende genehmigen.

EU-Industriekommissarin Elzbieta Bienkowska brachte die ebenso alte wie neu konfigurierte Doktrin auf den Punkt: "Europas Bürger sehen Sicherheit als das Thema Nummer eins, das ihnen Europa geben sollte, es ist also Zeit für einen solchen Vorschlag." Um Geld aus dem EU-Fonds zu erhalten, müssen sich nach den Vorstellungen der Kommission mindestens drei Firmen und zwei Mitgliedsländer für ein Projekt zusammenschließen. Ziel sei es, Anreize für einen europäischen Markt der Rüstungsindustrie zu schaffen. Nach der Finanzierung und Entwicklung eines Prototyps sollen die Mitgliedsländer die Verantwortung bis zur Serienreife übernehmen.

Das Brüsseler Papier ist aus guten Grund als Diskussionsbeitrag gekennzeichnet, da bei der Außen- und Sicherheitspolitik allein die Mitgliedstaaten das Sagen haben. Ende Juni findet in Brüssel das nächste Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs statt, bei dem auch die europäische Verteidigung auf der Tagesordnung stehen wird. In Brüssel setzt man darauf, daß Deutschland und Frankreich noch vor dem EU-Gipfel ihre Vorstellungen zur Verteidigungsunion gemeinsam präzisieren werden.

Im Jahr 2015 startete erstmals ein Projekt zur europäischen Verteidigungsforschung, das mit einem Etat von zwei Millionen Euro ausgestattet war. Bisher hat die EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik multinationale Korps an verschiedenen Standorten gegründet und 15 Missionen in zwölf Länder Europas und Afrikas geschickt. "Die EU-Soldaten beobachten, überwachen, bilden aus und verteidigen sich etwa in Afghanistan, Bosnien und Herzegowina, im Kongo, in Georgien, im Irak, in Moldau, im Niger, in Palästina, Somalia und im Südsudan." [4] Im Kontext geopolitischer Ambitionen der Brüsseler Administration und insbesondere der führenden EU-Militärmächte Deutschland, Frankreich und Italien soll diese Gemengelage allenfalls ein Zwischenetappe auf dem Weg zu eigenständiger europäischer Militärmacht mit globalem Anspruch sein.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/europaeische-verteidigungsunion-eu-wird-auf-absehbare-zeit.694.de.html

[2] http://www.mz-web.de/politik/nach-spannungen-mit-usa-eu-kommission-stellt-plaene-fuer-verteidigungsfonds-vor-27756394

[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/eu-kommission-europa-kann-militaerische-macht-werden-15050161.html

[4] http://www.zeit.de/politik/2017-06/verteidigungspolitik-eu-kommission-militaer-ausgaben-verteidigungsfonds

7. Juni 2017


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