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KRIEG/1656: Erdogan setzt auf blutige Lösung der Kurdenfrage (SB)



Dem römischen Staatsmann Cato dem Älteren wird die Aussage zugeschrieben: "Im übrigen bin ich der Meinung, daß Karthago zerstört werden muß!" Wie es heißt, habe er jede seiner Reden im Senat mit diesen Worten beendet, bis die Senatoren schließlich im Jahr 150 v. Chr. dem dritten Punischen Krieg zustimmten, in dem Karthago zerstört wurde. An diese unerbittliche strategische Konstante in einer ansonsten wechselvollen Bündnispolitik erinnert Recep Tayyip Erdogan im Umgang mit der Kurdenfrage. Für den türkischen Präsidenten und die AKP-Regierung genießt die restlose Niederwerfung jeglichen kurdischen Widerstands gegen Repression und Erniedrigung absolute Priorität. Um sie durchzusetzen, schreckt die Staatsführung vor keinem Mittel zurück, wie Vernichtung und Vertreibung in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei belegen. Auch die kurdischen Autonomiegebiete in Nordsyrien sind für Erdogan Feindesland, das er mit militärischen Mitteln angreifen läßt und durch die Einrichtung einer türkisch kontrollierten Pufferzone zu eliminieren trachtet.

Die Invasion türkischer Streitkräfte im Nachbarland Syrien mit dem Decknamen "Schutzschild Euphrat" diene der "Verbesserung der türkischen Sicherheit durch Vertreibung von Terrorgruppen aus dem Grenzgebiet" und der "Wahrung der territorialen Integrität Syriens", so die Regierung in Ankara. Der Einmarsch in Syrien und die Einrichtung einer Pufferzone wurden bereits seit langem von der türkischen Führung und verschiedentlich auch von NATO-Verbündeten gefordert. Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton verlangt die Einrichtung einer "Schutzzone" in Syrien, um eine Operationsbasis zu schaffen. Wenngleich sich dieser Plan vor allem gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad sowie den IS richtet, dient er aus Sicht der türkischen Führung doch vor allem dem Feldzug gegen Rojava. [1]

Im Norden Syriens beschossen die türkischen Invasionstruppen kurdische Stellungen nahe der Stadt Manbidsch. Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) hätten sich nicht, wie von den USA gefordert, auf das Ostufer des Euphrat zurückgezogen, hieß es zur Begründung aus Ankara. Hingegen bezeichnen syrisch-kurdische Politiker die Operation als Kriegserklärung an die kurdische autonome Verwaltung in Nordsyrien. US-Vizepräsident Joseph Biden, der sich zum Zeitpunkt der Invasion zu einem Besuch in Ankara aufhielt, erklärte auf einer Pressekonferenz mit dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim, die Kräfte der syrischen Kurden müßten sich den Forderungen der Türkei beugen und sich ans Ostufer des Euphrat zurückziehen, wenn sie weiterhin amerikanische Unterstützung erhalten wollten.

Bei der Operation "Schutzschild Euphrat" handelt es sich insbesondere um einen Präventivschlag gegen alle Versuche der syrisch-kurdischen Milizen, weiter nach Westen vorzustoßen und Dscharabulus zurückzuerobern, bevor die Freie Syrische Armee (FSA) dort die Kontrolle übernehmen kann. Ankara macht keinen Unterschied zwischen dem IS und den YPG, die sie gleichermaßen als "Terroristen" bezeichnet, und fürchtet den wachsenden Einfluß der Kurdenpartei Demokratische Union in der Koalition Demokratische Kräfte Syriens (SDF), die derzeit noch von den USA unterstützt wird. Ankara will vor allem einen territorialen Zusammenschluß der bislang getrennten autonomen Kurdengebiete im Norden Syriens verhindern und bedient sich dazu des Vorwands, zugleich den jahrelang von ihm unterstützten IS endlich doch anzugreifen.

Vorerst sind die YPG im Kampf gegen den IS der wichtigste Partner der internationalen Koalition, da die Kurden im Norden Syriens mit Luftunterstützung große Gebiete von den Islamisten befreit haben. In einer Kriegsführung, die ungeachtet einer absoluten Lufthoheit in letzter Konsequenz stets auf Bodentruppen angewiesen ist, führen die Kurdinnen und Kurden einen verlustreichen, aber erfolgreichen Kampf gegen den IS. Daher werden sie bislang von den USA unterstützt, was sich jedoch sofort ändern wird, sobald Washington ihre Dienste nicht mehr benötigt und sie seinerseits wieder als "Terroristen" brandmarkt.

Die versöhnenden Gesten, derer sich die türkische Führung in jüngster Zeit gegenüber Moskau, Washington und Damaskus bedient, dürften nicht zuletzt der Vorbereitung des Einmarsches in Syrien gedient haben. So fiel denn auch der syrische Protest gegen die Verletzung der Souveränität verhalten aus, Rußland zeigte sich lediglich besorgt über die Entwicklung im Grenzgebiet und die USA unterstützten den Vormarsch sogar mit Kampfjets, obwohl sich die Operation auch gegen die syrischen Kurden und damit ihre derzeitigen Verbündeten richtet. Auch die kürzlich getroffene Übereinkunft zwischen Ankara und Teheran zu einer Nachkriegsordnung in Syrien, die von einem einheitlichen Nationalstaat ausgeht, zeugt von der Entschlossenheit, unabhängige Regionen im Norden des Landes oder gar einen Staat der Kurden zu verhindern. [2]

Das aus drei Kantonen bestehende Rojava ist als autonomes West-Kurdistan noch kein einheitliches Gebiet, doch haben die Kämpfe der letzten zwei Jahre die Kurdinnen und Kurden der Verwirklichung ihres Traums nähergebracht, ein zusammenhängendes Territorium zu schaffen. In die verbliebene Lücke von etwa 90 Kilometer Breite sind nun die türkischen Truppen vorgestoßen, um einen Keil zwischen die kurdischen Gebiete zu treiben. Nachdem das türkische Militär Syriens Kurden schon seit Monaten immer wieder mit Artillerie angegriffen hat, läßt nun die Drohung Ankaras, man werde solange in Syrien bleiben, bis alle "Terroristen" besiegt seien, eine dauerhafte Besatzung samt verschärfter Angriffe auf Rojava befürchten. "Die Türkei wird nicht dulden, dass an der Grenze zu ihr eine Terrororganisation einen mehrere hundert Kilometer langen Landstrich durch Unterdrückung und ethnische Vertreibungen unter ihre Kontrolle bringt", lautet die offizielle Haltung Ankaras zu den Kurden in Syrien. [3]

"Wir sind froh, dass die Türkei aktiv gegen den IS eingreift", befürwortete der CDU-Europa-Abgeordnete Elmar Brok im Deutschlandfunk die türkische Offensive in Syrien [4]. Zugleich kritisierte er die syrischen Kurden, da sie seiner Ansicht nach nicht mehr nur ihr Gebiet verteidigten, sondern es ausdehnten. Das sei nicht mit ihnen vereinbart. Die Kurden sollten sich gefälligst auf das Gebiet östlich des Euphrats konzentrieren. Wie der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments nach seiner Rückkehr von politischen Gesprächen in Ankara zur türkischen Invasion erklärte, müsse man "natürlich aufpassen, dass das auch nicht übertrieben wird und die Balance nicht zerstört wird".

Brok hält den türkischen Vorstoß ins Nachbarland völkerrechtlich für einwandfrei, obgleich er sich nicht nur gegen den IS, sondern auch die Kurden richtet - schließlich seien diese ja über ihre ursprünglichen Gebiete hinaus vorgedrungen, setzt er leichterdings Äpfel mit Birnen gleich. Auch verwahrt er sich gegen den Sprachgebrauch, Erdogan einen Despoten zu nennen. Man dürfe der türkischen Regierung kein Ultimatum stellen, sondern müsse sie ermuntern, den "innertürkischen Kurden-Konflikt wieder herunterzufahren und Friedensgespräche wiederzugewinnen, und auch mit der HDP (...) ein vernünftiges Gespräch zu führen".

Die türkische Regierung milde zu ermahnen, sie möge es in Syrien bitte nicht übertreiben und wieder vernünftig mit den Kurden im eigenen Land reden, dürfte angesichts der Kriegsführung der AKP-Regierung gegen die kurdische Bevölkerung beiderseits der Grenze an Zynismus kaum zu überbieten sein. "Wir haben viel Blut verloren, um die Gebiete zu befreien", erklärt denn auch Sipan Ibrahim, der Vertreter Rojavas in Deutschland. "Wir werden kein Dorf abgeben." Wenn es sein muß, wollen sich die Kurdinnen und Kurden auch bewaffnet zur Wehr setzen. "Egal, wer uns angreift: der IS, die Türkei, das Regime oder Rebellen", warnt Ibrahim, "wir werden immer bereit sein, unsere Gebiete zu verteidigen".


Fußnoten:

[1] https://www.wsws.org/de/articles/2016/08/26/turk-a26.html

[2] http://www.n-tv.de/politik/Tuerkei-muss-jetzt-viele-Beziehungen-pflegen-article18508216.html

[3] http://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_78815648/syriens-kurden-fordern-die-tuerkei-heraus.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/syrien-wir-sind-froh-dass-die-tuerkei-aktiv-gegen-den-is.694.de.html

27. August 2016


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