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KRIEG/1561: Algerienkrieg liegt Frankreich schwer im Magen (SB)



Der Algerienkrieg liegt Frankreich noch heute schwer im Magen. Welcher Franzose wollte auch unumwunden einräumen, daß Rang und Status seines Landes wie auch der Lebensstandard seiner Bewohner in ihrer Genese ein Resultat kolonialer Unterwerfung und Ausbeutung und deren Fortsetzung in innovativen Formen imperialistischer Aggression und Expansion bis hin zu neuen Kriegen ist. Da liegt es weit näher, euphemistisch von einem dunklen Kapitel der eigenen Geschichte, einem nationalen Trauma, der Notwendigkeit einer Entschuldigung oder anderen Ausflüchten zu sprechen, als handle es sich bei diesem zweifellos außerordentlich grausamen und überdies aus französischer Perspektive verlorenen Kolonialkrieg um einen bloßen Fehltritt in der Historie der Grande Nation.

Mit dem Abkommen von Évian am Genfersee endete vor 50 Jahren am darauffolgenden 19. März 1962 der Algerienkrieg, der am 1. November 1954 mit dem Aufstand der Nationalen Befreiungsfront (FLN) begonnen hatte. Der Vertrag war zunächst ein Waffenstillstandsabkommen, das aber nach einer Übergangsfrist auch die schließlich am 3. Juli 1962 verkündete Unabhängigkeit des nordafrikanischen Landes vorsah und damit eine mehr als 130jährige französische Kolonialherrschaft beendete. Während des siebeneinhalb Jahre währenden Krieges starben nach französischen Angaben 17.459 Soldaten, die FLN schätzte ihre Verluste 1962 auf etwa 300.000. Die Gesamtzahl getöteter algerischer Bürger wurde von Frankreich später mit 350.000, von algerischen Quellen hingegen mit bis zu 1,5 Millionen angegeben, wobei die Bevölkerung des Landes Anfang 1962 lediglich rund 11 Millionen betrug, was den ungeheuren Blutzoll dieses Krieges unterstreicht.

In Frankreich zieht man es vor, den Jahrestag niedrig zu hängen: "Man gedenkt nicht", heißt es dazu in Paris. "Man muss die Glut nicht wieder anheizen", winkte ein französischer Diplomat auf die Frage nach den Feierlichkeiten ab. "Bluttaten wurden auf beiden Seiten begangen. Dieser Missbrauch, diese Bluttaten müssen verurteilt werden. Aber Frankreich kann nicht bereuen, diesen Krieg geführt zu haben", erklärte Staatschef Nicolas Sarkozy Anfang März kategorisch. Ihm liegt allenfalls an den Wählerstimmen der Algerien-Franzosen, die bei Kriegsende nach Frankreich geflohen waren. Rund 3,2 Millionen algerischstämmige Wähler zumindest in Teilen der Kandidatin der rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, abzujagen, ist Sarkozy einen Kniefall wert. Um an die muslimischen Soldaten zu erinnern, die für Frankreich gefallen sind, besuchte er gemeinsam mit einigen Ministern die große Moschee in Paris. [1]

Den Algerienkrieg zu leugnen, zu verschweigen und zu vertuschen hat in Frankreich Tradition. Nachdem in der Amtssprache jahrzehntelang lediglich von "Ereignissen" oder "Einsätzen in Nordafrika" die Rede gewesen war, verabschiedete das Parlament erst 1999 ein Gesetz, das die Bezeichnung "Algerienkrieg" festschrieb. Im Jahr 2006 sorgten Lehrpläne für eine Kontroverse, in denen einseitig die Opfer auf französischer Seite geschildert wurden, ohne die Toten unter den algerischen Unabhängigkeitskämpfern zu erwähnen. Präsident Jacques Chirac blockierte daraufhin das Gesetz, das Schülern und Studenten die "positive Rolle" Frankreichs vor allem in Nordafrika nahebringen sollte. Im Mai 1972 und damit zehn Jahre nach Kriegsende hatten sich in einer Umfrage nur 38 Prozent der befragten Franzosen zustimmend zum Abkommen von Évian geäußert. Noch immer bewerten lediglich 57 Prozent den Vertrag positiv, wie eine repräsentative Umfrage des renommierten Ifop-Instituts kürzlich ermittelt hat. Kein Wunder, daß Algerien bis heute auf eine Entschuldigung der ehemaligen Kolonialmacht wartet und Frankreich deswegen einen Freundschaftsvertrag verweigert. [2]

Das Schicksal der sogenannten "Harkis", rund 150.000 Algerier, die unter französischer Flagge gedient hatten, ist charakteristisch für Kollaborateure, die nach der Niederlage der Kolonialherren von diesen verraten werden. Sie wurden von den abziehenden Franzosen entwaffnet und sich selbst oder vielmehr der Rache ihrer Landsleute überlassen, der sie mutmaßlich zu Zehntausenden zum Opfer fielen. Waren die "Harkis" zuvor an Erniedrigung, Verrat, Folter und Massakern beteiligt, da sie den Besatzern ansonsten verschlossene Türen öffnen konnten, standen sie nun oftmals vor der Wahl zwischen "Koffer oder Sarg". Viele flohen mit ihren Familien nach Frankreich, das jedoch lange Zeit ihre Existenz leugnete. Sarkozy hatte im Wahlkampf 2007 versprochen, daß Frankreich offiziell die Verantwortung für das Massaker an den "Harkis" übernehmen werde, doch blieb diese Zusage folgenlos.

Die fliehenden "Harkis" waren indessen nur eine Minderheit in jenem Exodus, der damals die Flucht über das Mittelmeer antrat. Frankreich hatte nach dem Zweiten Weltkrieg und trotz des verlorenen Indochinakrieges die Unabhängigkeit Algeriens weiter abgelehnt, das zwar formell Teil des Mutterlands, faktisch aber dessen größte und älteste Kolonie war. Ausschlaggebend für diese Haltung waren nicht zuletzt mehr als eine Million europäische Siedler, die sich mittels ihrer Geheimorganisation OAS an der kolonialen Kriegsführung beteiligten. Nachdem Charles de Gaulle am 11. April 1961 erklärt hatte, daß er eine algerische Unabhängigkeit nicht ablehnen würde, putschten etwa zwei Wochen später in Algier mehrere Militäreinheiten unter Leitung von vier Generälen, die der OAS nahestanden und eine algerische Unabhängigkeit verhindern wollten. Der Putsch scheiterte jedoch bereits nach vier Tagen an mangelnder Unterstützung. Nach Ende des Krieges flohen mehr als eine Million nicht-muslimische Siedler größtenteils nach Frankreich.

Wenn von einer besonderen Grausamkeit des Algerienkriegs berichtet wird, kann das die Greueltaten anderer kolonialer Regimes und deren teils ungeheure Opferzahlen allein schon durch Form brutalster Ausbeutung nicht in Abrede stellen. Charakteristisch für die Repression der französischen Besatzer in Algerien wurde indessen eine neue Militärdoktrin, die auf den Antiguerillakrieg zugeschnitten war. Nachdem die französischen Truppen auf ca. 500.000 Mann verstärkt worden waren, konnten Erfolge gegen den zahlenmäßig schwachen, aber schwer greifbaren Gegner erzielt werden. An Brennpunkten wurde die aus Einheiten der Fremdenlegion und Fallschirmjägern bestehende hochmobile Elitetruppe der réserve générale eingesetzt. Vor allem aber ging man auf Grundlage von Konzepten des Offiziers Roger Trinquier zur modernen Kriegsführung gegen Aufständische zur Anwendung aller erdenklichen Foltermethoden, Infiltrationen und Repressionen über, um die Kämpfer der FLN des Schutzes der Bevölkerung zu berauben. Die Schlacht von Algier, die 1957 unter dem Kommando von General Jacques Massu gewonnen wurde, war in ihrer extremen Brutalität gegen die Bewohner der Stadt ein Musterbeispiel moderner imperialistischer Kriegsführung gegen die gesamte Bevölkerung eines Landes. Zu dieser Strategie gehörte auch die Zwangsumsiedlung von mehr als 1,6 Millionen Menschen in 2000 Dörfer, bei denen es sich de facto um Konzentrationslager handelte.

Trotz ihrer drückenden militärischen Übermacht und einer FLN am Rand der Niederlage gelang es den französischen Truppen, den Siedlern mit ihrer OAS und den kollaborierenden Hilfstruppen der "Harkis" zu keinem Zeitpunkt, das Land vollständig zu unterwerfen. Mit ihrer Kriegsführung gegen die gesamte Bevölkerung nährten sie geradezu den Widerstand, den auszurotten ihnen niemals gelang. Zur Niederlage des Kolonialregimes trug indessen auch der Stimmungsumschwung in Frankreich bei, wo sich die politische Linke, Intellektuelle, Künstler und Journalisten auch durch Zensur und Berufsverbote nicht zum Schweigen bringen ließen. "Ich entdecke mehr und mehr die Gewalt dieses Krieges", erklärte jüngst der Historiker Benjamin Stora, dessen Dokumentarfilm über den Algerienkrieg soeben zur besten Sendezeit im französischen Fernsehen gezeigt wurde. Sollte die wiedergewonnene Erinnerung dazu beitragen, eine Brücke zur aktuellen Kriegsbeteiligung Frankreichs zu schlagen, bräuchte man sich mit Phrasen wie jener von der "aufgearbeiteten" Geschichte gar nicht erst abzugeben.

Fußnoten:

[1] http://orf.at/stories/2110384/2110383/

[2] http://nachrichten.rp-online.de/politik/algerienkrieg-bewegt-frankreich-1.2758373

19. März 2012