Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1537: Zehn Jahre Afghanistankonferenz - Nebelkerzen ohne Ende (SB)



Seit der ersten Afghanistankonferenz, die vom 27. November bis zum 5. Dezember 2001 auf dem Petersberg in Königswinter stattfand, ist eine Menge erreicht worden. Wie viele Afghanen im Zuge des Angriffskriegs und des nachfolgenden Besatzungsregimes unter nicht unmaßgeblicher Beteiligung westlicher Streitkräfte getötet wurden, kann man nur schätzen. Zehntausende dürften es mit Sicherheit sein, wobei feststeht, daß das Schlachten in jüngerer Zeit Fahrt aufgenommen hat. In der Zivilbevölkerung hatte man nie zuvor so viele Tote gezählt wie im vergangenen Jahr, darunter auch 346 Kinder, die Anschlägen und Angriffen zum Opfer fielen. Auch was die soziale und humanitäre Lage der Bevölkerung betrifft, haben die Afghanen keinen Grund, übermütig zu werden. Nach Angaben des United Nations Development Program (UNDP) hat sich von einer privilegierten Minderheit in Kabul abgesehen für die breite Mehrheit der Bevölkerung die Situation seit 2002 nicht verbessert, sondern seit fünf bis sechs Jahren deutlich verschlechtert. Die erste und wichtigste Lektion, wer die Herren und wer die Knechte sind, hat also gesessen.

Daß die afghanische Bevölkerung in ihrer breiten Mehrheit die Besatzer lieber heute als morgen loswerden möchte, kann unter diesen Umständen nicht verwundern. Umfragen jüngeren Datums haben belegt, daß heute landesweit gesehen drei Viertel der Befragten den sofortigen Abzug aller ausländischen Truppen wünschen. Bei den Paschtunenstämmen im Süden des Landes, die die Hälfte der afghanischen Bevölkerung und fast alle Aufständischen repräsentieren, dürfte dies sogar zu über 90 Prozent zutreffen. Demgegenüber befürwortet eine Minderheit von fünf bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, die sich durch die Anwesenheit der Militärs und Hilfsorganisationen bereichert, eine möglichst lange Fortsetzung des Besatzungsregimes. Etwa 50 bis 60 Prozent aller Gelder, die westlicherseits nach Afghanistan gepumpt wurden, fließen in private Taschen von Kriegsherrn, Politikern und Unternehmern, die auf die sprudelnde Quelle keinesfalls verzichten wollen. Auch der zweiten Lektion war also voller Erfolg beschieden: Die Installierung und Alimentierung einer Minderheit einflußreicher Kollaborateure hält die Mehrheit der Afghanen nun schon ein Jahrzehnt lang in Schach.

Bleibt noch die dritte Lektion: Wie verkauft man den Menschen in den Herkunftsländern der Besatzungsmächte einen milliardenteuren permanenten Kriegszug am fernen Hindukusch, wo sich doch auch ihre eigenen sozialen Verhältnisse rapide verschlechtern und in den höchstentwickelten Industriestaaten Armut dramatisch um sich greift? Da man noch nie davon gehört hat, daß jemals ein Taliban hierzulande Bundesbürger angegriffen hätte, könnte die vielbeschworene Terrorgefahr fadenscheiniger kaum sein. Allenfalls wird umgekehrt ein Schuh draus, wenn man nämlich befürchten muß, daß islamfeindliche Dauerhetze und Angriffskriege gegen mehrheitlich islamische Länder früher oder später ein Echo provozieren. Wofür kämpft also "unsere" Bundeswehr in Nordafghanistan? Die Propaganda der Friedenstruppe und Aufbauhilfe hat ja längst ausgedient, so daß man inzwischen unverblümt über Rohstoffe und Transportwege, kurz die Beförderung deutschen Vormachtstrebens räsonieren darf. Die Transformation der Propaganda bundesdeutscher Kriegsbeteiligung von den lautersten Absichten humanitären Engagements bis zur heute gültigen Parole, daß wieder einmal zurückgeschossen wird, ist die wohl größte Erfolgsbilanz des Petersberg-Prozesses.

Am 21./22. Januar 2002 tagte in Tokio eine Geberkonferenz für Afghanistan, die Wiederaufbauhilfen zusagte und die Zuständigkeit für afghanische Institutionen einzelnen Staaten zuwies. Wieder auf dem Petersberg kam man am 2. Dezember 2002 zusammen, um Struktur und Größe der zu schaffenden afghanischen Armee festzulegen. Die vierte Konferenz ging am 31. März und 1. April 2004 in Berlin über die Bühne, wo man neue Hilfszusagen gab und die Bekämpfung des Drogenanbaus erörterte. Auf der Afghanistankonferenz vom 31. Januar bis 1. Februar 2006 in London wurde - man höre und staune - der erfolgreiche Abschluß des Petersberg-Prozesses verkündet und die zweite Phase des Wiederaufbaus in den folgenden fünf Jahren konzipiert. Da de facto mehr zerstört als aufgebaut wurde, nahm sich die nächste Konferenz am 2.-3. Juli 2007 in Rom das Thema "Rule of Law" vor. Am 12. Juni 2008 traf man in Paris und am 31. März 2009 in Den Haag zusammen, bis man schließlich am 28. Januar 2010 in London den Eindruck erweckte, die Übergabe der Verantwortung an die afghanische Armee könne nun eingeleitet werden. Am 20. Juli 2010 beriet man in Kabul unter immensen Schutzvorkehrungen und diversen Angriffen auf die Tagung passenderweise noch einmal die Übergabe der Sicherheitsverantwortung samt einem Aussteigerprogramm für Taliban.

Die kommende Afghanistankonferenz am 5. Dezember in Bonn soll symbolhafterweise unter afghanischem Vorsitz die Vortäuschung erzielter Fortschritte weitertreiben, im Komplott selbstmandatierter Besatzungsmächte und einheimischer Statthalter Legitimation simulieren und das sogenannte Abzugsszenario konkretisieren. Nachdem Hamid Karsai seine handverlesene Loya Jirga dazu gebracht hat, die von dem Kabuler Regime gewünschte strategische Partnerschaft mit den USA zu befürworten, kann der Fahrplan beschlossen werden: Schrittweiser Abzug der Kampftruppen, dauerhafte Stationierung eines reduzierten Besatzungskontingents. Ob dieser Plan eingehalten werden kann, steht natürlich auf einem andern Blatt.

Wie der vielbeschworene Friedensprozeß eingeleitet werden könnte, blieb der Loya Jirga zwangsläufig ein Rätsel. Da sie sich für einen Dauerpakt mit Washington und damit auch eine Dauerpräsenz US-amerikanischer Truppen oder Militärdienstleister ausgesprochen hatte, konnte sie keine Versöhnungsbereitschaft des Widerstands erwarten, der den Abzug sämtlicher ausländischen Soldaten als Voraussetzung für Friedensverhandlungen fordert. Da die westlichen Mächte keineswegs bereit sind, den geostrategischen Vorposten zu räumen, heißt es weiter nach besten Kräften Nebelkerzen zu werfen.

Hier bringt sich die Bundesregierung mit dem nicht gerade originellen Vorschlag ins Spiel, man könne und müsse mit den Taliban verhandeln. Mit wem denn sonst?, ist man geneigt zu fragen, wenn Verteidigungsminister Thomas de Maizière und Außenminister Guido Westerwelle erklären: "Wir können nicht jeden vom innerafghanischen Aussöhnungsprozess ausschließen, der einmal das Schwert in die Hand genommen hat. In dieser Situation kann der Westen nicht einfach sagen: Ihr seid die Bösen, mit euch verhandeln wir nicht." Als sei das eine neue und tiefgreifende Erkenntnis, fügt Westerwelle hinzu: "Aussöhnung findet nicht zwischen Freunden, sondern zwischen bisherigen Gegnern statt." [1] Was die beiden Minister meinen, wenn sie Verhandlungen mit den Taliban im Munde führen, sind jedoch keineswegs Gespräche mit deren Führung. Es gehe darum, junge Männer dazu zu bringen, sich von ihren extremistischen Führern loszusagen, die Verfassung zu respektieren und in ihre Dörfer zurückzukehren, wärmen de Maizière und Westerwelle im Grunde das alte Aussteigerprogramm in der Hoffnung wieder auf, den Widerstand zu spalten und mit dessen moderateren Fraktionen Übereinkünfte zu treffen.

Die internationale Besatzungstruppe, an der auch die Bundeswehr beteiligt ist, will ihre Kampfeinheiten bis Ende 2014 aus Afghanistan abziehen. Vor sechs Monaten begann die Übergabe der Verantwortung an einheimische Sicherheitskräfte in den beiden Provinzen Bamian und Panjshir, in denen es allerdings so gut wie keine Aktivitäten von Aufständischen gab. Nun sollen im zweiten Schritt fünf weitere Provinzen und dreizehn Distrikte oder Städte folgen, wobei mit Kabul, Mazar-i-Sharif, Herat und Jalalabad vier der fünf größten Städte in Regierungshand wären. [2] Ausgespart bleibt Kandahar, die traditionelle Hochburg der Taliban, womit das Dilemma der Vorgehensweise offenkundig wird: Nur auf dem Papier läßt sich eine Region nach der anderen übergeben, als würde der Widerstand damit aus immer weiteren Teilen des Landes vertrieben. Dies entspricht der Militärdoktrin einer sukzessiven Verdrängung, mit der die Besatzungstruppen schon in der Vergangenheit gescheitert sind. Nichts spricht dafür, daß die wesentlich schwächeren afghanischen Sicherheitskräfte erfolgreicher sein sollten.

In der unausgesprochenen Gewißheit, daß dieser Krieg nicht mit militärischen Mitteln gewonnen werden kann und die Farce vorgeblicher Verhandlungsbereitschaft auf tönernen Füßen steht, dämpft Westerwelle die Erwartungen an die Bonner Konferenz: "Niemand weiß heute, ob dieser afghanische Aussöhnungsprozess gelingt." Ginge es tatsächlich um Aussöhnung und eine Friedenslösung, hätte die NATO besser ihren Luftangriff in Nordpakistan unterlassen, bei dem im Verlauf von zwei Stunden 24 Soldaten getötet und dreizehn verwundet wurden. Daraufhin beschloß das pakistanische Kabinett unter anderem, der bevorstehenden Afghanistankonferenz fernzubleiben.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-11/taliban-friedensverhandlungen-westerwelle-maiziere

[2] http://www.nytimes.com/2011/11/28/world/asia/afghan-troops-will-expand-security-control.html

29. November 2011