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KRIEG/1513: Legalität des Massakers ... Bundeswehr siegt am 4. September 2009 für das Gute (SB)



In den Annalen deutscher Siege ist der 4. September 2009 von besonderer Bedeutung. An diesem Tag wurde das Leben von bis zu 142 Afghaninnen und Afghanen auf Befehl eines deutschen Obersten beendet, womit die Bundeswehr, auch wenn sie selbst nicht in letzter Instanz ausführendes Organ dieses Massakers war, zur Aggressivität der Kriegführung anderer NATO-Partner wie der USA, Britanniens und Frankreichs aufschloß. Was politisch erst verteidigt und dann bedauert wurde, war ein Kriegsakt mit besonders hoher Opferzahl, aber auch von der Normalität zahlreicher anderer Bombenangriffe auf die Bevölkerung eines Landes, das aus von vornherein irreführenden Gründen ins Visier westlicher Streitkräfte geriet. So, wie die Anschläge des 11. September 2001 längst fadenscheinig gewordene, in der Bezichtigung der Taliban als Unterstützer der Attentäter zweckdienlich übersteigerte Vorwände zur Besetzung Afghanistans sind, so ist die Behauptung, man bediene sich zum Schutz der Zivilbevölkerung einer ethisch normierten Kriegführung, ein hervorragendes Feigenblatt, das die grundsätzliche Haltlosigkeit aggressiver Kriegführung verbirgt.

Was wären die Rechtsorgane eines Staates wert, wenn sie auch gegen das Interesse der "nationalen Sicherheit", sprich imperialistischen Kriegführung, nach dem Buchstaben des Gesetzes vorgingen? Wie schon die Abwehr gut begründeter Klagen gegen die rot-grüne Bundesregierung wegen der Beteiligung am völkerrechtswidrigen Überfall der NATO auf Jugoslawien durch die Bundesanwaltschaft gezeigt hat, geht die Staatsräson gerade im Fall nationaler Bewährung, als deren höchste Stufe der kriegerische Ernstfall zu gelten hat, über alles. Die Verrechtlichung des Krieges legalisiert die Logik archaischer Grausamkeit gerade dann, wenn sie Anlaß zur Empörung gibt, ansonsten wäre der legitimatorische Wert einer legalistisch regulierten Kriegführung hinfällig. Abgerechnet wird mit den Unterlegenen zwecks Steigerung des Ansehens einer Justiz, die nicht fehl gehen mag in der Verurteilung eindeutig nachweisbarer Verbrechen, die jedoch ihren unabhängigen Status beim selektiven Vorgehen bei der Anklageerhebung zur Disposition politischer Interessen stellt.

Der Abbruch des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Georg Klein, der den Luftangriff auf zwei Tanklaster am 4. September 2009 nahe der nordafghanischen Stadt Kunduz angeordnet hatte, durch die Bundesanwaltschaft am 16. April 2010 erfolgte mit der Begründung, daß "sein Handeln nach den maßgeblichen Kriterien des humanitären Konfliktvölkerrechts rechtmäßig war" [1]. Dem schloß sich die Bundeswehr an, indem sie sich am 19. August 2010 bei der Einstellung der disziplinarrechtlichen Ermittlungen gegen Klein auf die Bundesanwaltschaft berief. Dies eröffnet der militärischen Aggressivität der sogenannten Einsatzarmee neue Horizonte, dient die erklärte Rechtmäßigkeit eines solchen Massakers doch nicht nur der nachträglichen Exkulpation eines Offiziers, der an dieser Stelle für das gesamte Projekt, die Bundeswehr in den Afghanistankrieg zu schicken, haftbar gemacht wird. Auf diese Weise wird auch die politische und rechtliche Flankierung einer Grausamkeit erprobt, die jedem Krieg wesentlich inhärent ist, auch wenn er als humanitäre Interventionen oder Polizeioperation verharmlost wird. Im strategischen Gesamtkonzept einer Besatzungsmacht, den gegen sie gerichteten Widerstand zu unterdrücken und die Bevölkerung davon abzuhalten, sich loyal zu diesem zu stellen, machte die aggressive Bekämpfung der Taliban unter Einbeziehung ziviler Opfer allemal Sinn.

Laut der Leipziger Volkszeitung (12.12.2009) hatten sich das Bundeskanzleramt, das Verteidigungsministerium und die mit der Koordination der Geheimdienste beauftragten Regierungsbeamten schon vor dem Luftangriff von Kunduz auf eine neue Eskalationsstufe in Afghanistan geeinigt. Zur geplanten Einsatzstrategie, die sich bereits in der Lockerung der auf den Taschenkarten der Soldaten mitgeteilten Rules of Engagement im Juni 2009 niederschlug, sollte die gezielte Liquidierung der Taliban-Führungsstruktur gehören. Vorgesehen war zudem eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr, dem Auslandsgeheimdienst BND und dem US-Auslandsgeheimdienst CIA.

Dementsprechend gab es von Anfang an Zweifel an der Behauptung Kleins, die Tanklaster lediglich angegriffen zu haben, weil er einen Angriff auf das Basislager der Bundeswehr befürchtete. Diese Aussage erschien schon deshalb unglaubwürdig, weil die Taliban mit den permanent unter Beobachtung befindlichen Tanklastern keinen überraschenden Angriff mehr hätten durchführen können. Zudem hätte ein vorbeugender Angriff der Bundeswehr auch am Boden erfolgen können, waren die LKWs doch auf Sandbänken des Kunduz-Flusses festgefahren. Dabei wäre die Möglichkeit, daß Zivilisten ums Leben kommen, sehr viel besser auszuschließen gewesen. Auch die Ablehnung des von den US-Piloten angebotenen Überflugs, der den zum Benzinzapfen herbeigeeilten Dorfbewohnern Gelegenheit zur Flucht gegeben hätte, spricht für die aggressive Intention des Angriffs. Diese Show of Force hätte eben auch die Taliban gewarnt, so daß deren maximale Schädigung nicht erfolgt wäre. Klein hatte fälschlicherweise einen Feindkontakt angegeben, ohne den er keinen Angriffsbefehl erteilen konnte, das behauptete jedenfalls der damalige ISAF-Oberkommandierende, US-General Stanley McChrystal.

Der Möglichkeit, daß der Luftangriff dazu gedacht war, die Taliban durch größten Personenschaden von weiteren Attacken auf die wichtige nordafghanische Nachschubroute der Besatzungsmächte abzuhalten und ihre Unterstützer in der Bevölkerung einzuschüchtern, wurde im Rahmen der formaljuristischen Abarbeitung des Vorfalls nicht untersucht. Strategische Fragen, die die Plausibilität des willkürlichen Ignorierens oder der absichtsvollen Inkaufnahme von Schäden an der Zivilbevölkerung erhärteten, werden von Gerichten, die über die Streitkräfte des eigenen Landes zu urteilen haben, bestenfalls dann behandelt, wenn sie sich vermeintlich rechtfertigen lassen. So konstatierte die Bundesanwaltschaft bei der Entlastung Kleins sicherheitshalber, daß es sich bei der Bombardierung auch ohne unmittelbare Bedrohung der Bundeswehr um eine völkerrechtlich zulässige Kampfhandlung gehandelt habe. Sie gestand Klein im Sinne des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) zu, selbst für den Fall, daß "mit der Tötung mehrerer Dutzend geschützter Zivilisten hätte gerechnet werden müssen", dies "bei taktisch-militärischer Betrachtung nicht außerhalb jeden Verhältnisses zu den erwarteten militärischen Vorteilen gestanden" hätte. Sowohl "die Vernichtung der Tanklastzüge als auch die Ausschaltung ranghoher Taliban" hätten eine "nicht zu unterschätzende militärische Bedeutung" [2] gehabt.

Dies gilt nach wie vor für die Kriegführung der Bundeswehr, die erfolgreich durchzustehen auf einer prinzipiellen Offensivdoktrin beruht, die im Massaker von Kunduz die Form eines Exempels annahm. Die Süddeutsche Zeitung (12.12.2009) hatte aus dem ISAF-Untersuchungsbericht zitiert, Oberst Georg Klein "wollte die Menschen angreifen, nicht die Fahrzeuge". Wortwörtlich soll er in einem von ihm selbst verfaßten Bericht erklärt haben, die Taliban "vernichten" zu wollen. Spiegel Online (12.12.2009) zitiert aus einer Meldung, die Klein am 5. September verfaßt haben soll: "Am 4. September um 01.51 Uhr entschloss ich mich, zwei am Abend des 3. September entführte Tanklastwagen sowie an den Fahrzeugen befindliche INS (Insurgents, auf Deutsch: Aufständische) durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten." Er habe die Bombardierung befohlen, "um Gefahren für meine Soldaten frühzeitig abzuwenden und andererseits mit höchster Wahrscheinlichkeit nur Feinde des Wiederaufbaus zu treffen". Bombardiert wurde nicht aus akutem Handlungsbedarf heraus, wenn etwa NATO-Truppen in einem aussichtslosen Kampf gegen eine feindliche Übermacht stehen. Es entspricht allemal militärischer Logik, den Erfolg im Bereich sogenannter Prävention dadurch zu sichern, daß der Gegner, wie bei der im Irak angewendeten Shock and Awe-Doktrin, ohne Not mit massiven Mitteln attackiert wird.

Welche Rolle die Sondereinheit Task Force 47 (TF 47) bei der Entscheidungsfindung spielte, in deren Befehlsstelle Klein seine Entscheidung traf, bleibt dementsprechend unaufgeklärt. Wo geheim agierende Kräfte wie das Kommando Spezialkräfte (KSK) und der Bundesnachrichtendienst involviert sind, muß an Formen der Kriegführung gedacht werden, die von der US-Regierung völlig offen als sogenanntes Targeted Killing praktiziert werden. Zur Beteiligung der Bundeswehr an der Praxis "gezielter Tötungen" erklärte der ISAF-Sprecher Brigadegeneral Josef Dieter Blotz im Interview mit dem Tagesspiegel (17.08.2010):

"Gezielte Tötungen durch Spezialkräfte der Bundeswehr hat das Verteidigungsministerium definitiv ausgeschlossen. Das Kommando Spezialkräfte, KSK, der Bundeswehr ist jedoch auch dafür eingesetzt worden, Netzwerke von Extremisten auszuschalten. Abgesehen davon sollte man dieses etwas reißerisch dargestellte Thema nüchterner betrachten. Es ist völlig klar und völlig verständlich, dass Extremisten, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, unsere Soldaten zu erschießen und in die Luft zu sprengen, verfolgt und bekämpft werden müssen. Wenn man über Informationen verfügt, wo solche Extremisten zu finden sind, muss versucht werden, diese auszuschalten noch bevor sie unsere Soldaten angreifen können. Genau darum geht es. Das ist im Wesentlichen die Aufgabe von Kräften, die speziell dafür ausgebildet, ausgerüstet und trainiert sind. Die Spezialkräftekapazität ist in Afghanistan in den letzten anderthalb Jahren ganz erheblich erhöht worden. Das ist absolut notwendig. Wir brauchen genau diese Spezialkräfte, um Talibannetzwerke effektiv ausschalten zu können. Es dürfte Ihre Leser auch interessieren, dass bei 80 Prozent unserer Spezialkräfteeinsätze kein einziger Schuss fällt. Und das gibt eine gute Vorstellung davon, wie gut es gelingt, Extremistenführer aus dem Verkehr zu ziehen und diese dann zu verhören." [3]

Es bleibt eben nicht beim Verhör, wie die restlichen 20 Prozent der Einsätze, in denen geschossen wird, belegen. Erschwerend hinzu kommt die Kollaboration der Bundeswehr mit anderen Besatzungstruppen, die insbesondere im Falle der US-Streitkräfte höchst brutal mit ihren Gefangenen umgehen.

Im März 2010 hat die Bundesanwaltschaft den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr als "nichtinternationalen bewaffneten Konflikt im Sinne des Völkerrechts" klassifiziert. Damit ist die Bundeswehr spätestens dann, wenn sie Waffengewalt anwendet, Kriegspartei in einem inneren Konflikt. An diesem nimmt sie, so behauptet es die offizielle Lesart, auf Einladung der Regierung Afghanistans teil. Mit deren postulierter Souveränität läßt sich allerdings kaum in Übereinstimmung bringen, daß ihre Rechtshoheit im Falle der Strafverfolgung auf ihrem Staatsgebiet begangener Kriegsverbrechen durch Verträge mit den Besatzern aufgehoben ist. Als deren Marionette sorgt die Kabuler Regierung für einen völkerrechtlichen Status, der die NATO-Staaten begünstigt. In einem internationalen bewaffneten Konflikt wären die Taliban als Kriegspartei etwa durch den ihnen dann zugestandenen Kombattantenstatus auf eine Weise aufgewertet, der die Handlungsfreiheit der NATO-Staaten deutlich einschränkte.

Diese völkerrechtliche Einstufung des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr verändert dessen Rechtsgrundlage. Von nun an beruhen die Einsatzregeln auf dem Völkerstrafgesetzbuch und nicht mehr auf dem Strafgesetzbuch, das Tötungsakte nach deutlich engeren Kriterien beurteilt. Während in letzterem Fall bereits die Straftat des Totschlags gegeben ist, wenn der Soldat die Tötung von Zivilpersonen für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, sieht das VStGB laut § 11 I Nr. 3 die Strafbarkeit eines militärischen Angriffs lediglich dann vor, wenn die dabei erfolgende "Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen (...) in einem Ausmaß verursacht wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht" [4].

Das im Ergebnis der massiven Einschüchterung der Bevölkerung des von der NATO besetzten Landes nur bedingt erfolgreiche, weil gleichzeitig den Wunsch nach Vergeltung in den Familien der Opfer schürende Massaker des 4. September 2009 ist allein mit rechtlichen Mitteln nicht aufzuarbeiten. Anzugreifen ist nicht nur das politische Mandat einer kriegerischen Interessensicherung, die trotz der durchsichtigen Vorwände, die sie legitimieren, von den vier notorischen Kriegsparteien des Bundestags gedeckt wird. In Frage zu stellen ist auch die rechtliche Flankierung organisierter staatlicher Gewaltanwendung, setzt diese sich doch über jegliche humanistische Moralität hinweg und verkehrt diese in ihr Gegenteil, die mörderische Aggressivität der besseren Menschen.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,712780,00.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,698922,00.html

[3] http://www.tagesspiegel.de/politik/wir-haben-auch-fehler-gemacht/1904594.html

[4] http://imi-online.de/download/MiH-April-2010.pdf

4. September 2011