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KRIEG/1366: Mehr Bundeswehr nach Afghanistan, um sie abziehen zu können? (SB)



Die im Deutschlandfunk verbreitete Nachricht über die geplante Aufstockung der Zahl der deutschen Truppen in Afghanistan von 4500 auf 7000 Soldaten will das Verteidigungsministerium nicht dementieren, sondern weist sie lediglich als "blanke, willkürlich Spekulation" zurück. Diese Entwicklung kann nicht überraschen, sondern entspricht der Logik einer Befriedung, laut der das Land militärisch gesichert werden muß, um es wieder aufzubauen. Erst wenn stabile Verhältnisse geschaffen worden wären, könne man die Präsenz der NATO-Truppen zurückschrauben. Die Logik dieses bis ins Unendliche zu verschiebenden Horizonts versprochener Ergebnisse erinnert an die neoliberale Doktrin der kreativen Zerstörung. Am Einreißen von Versorgungsstrukturen und Lebenschancen hat es bislang nicht gemangelt, nur ist der Aufbau des Wohlstands, der an ihre Stelle treten sollte, leider ausgeblieben. Die Rechnung zahlen diejenigen, die sich in die Reuse eines Heilsversprechens haben ziehen lassen, für das sich niemand haftbar machen läßt. Sie stehen nun mit leeren Händen da, während sich die Sachwalter dieser zivilreligiösen Doktrin damit herausreden, daß man nur nicht fest genug geglaubt, sprich marktradikal genug gehandelt habe.

Zentraler Bestandteil der Befriedungsperspektive der NATO-Staaten ist die Aufrüstung der afghanischen Nationalarmee und Polizei, die, so die offizielle Planung, in einigen Jahren die Anwesenheit ausländischer Truppen weitgehend überflüssig machen soll. Des weiteren soll die afghanische Bevölkerung für die Besatzer gewonnen und so den Taliban und anderen Widerstandsgruppen abspenstig gemacht werden.

Diese schöne Theorie, auf die deutsche Politiker nicht weniger als ihre US-amerikanischen Kollegen verweisen, wenn nach Sinn und Zweck der Anwesenheit der NATO in Afghanistan gefragt wird, krankt schon daran, daß sie in den letzten acht Jahren nicht funktioniert hat. Weder konnte ein nennenswerter Aufbau einsatzfähiger afghanischer Truppen erreicht werden, noch zeigt die Bevölkerung, daß sie über die Anwesenheit ausländischer Truppen besonders erfreut ist. Ganz im Gegenteil, auch unter Afghanen, die den Sturz der Taliban begrüßten, hat sich der Wind gedreht. Sie wünschen sich deren Regime zwar nicht zurück, sind aber auch nicht entschlossen, sich ihrer Beteiligung an einer künftigen afghanischen Regierung durch Unterstützung der Besatzer oder der von ihnen ausgebildeten Truppen zu widersetzen.

Die US-Autorin Ann Jones, die seit 2002 immer wieder in Afghanistan arbeitet und dort die Ausbildungsprogramme für die afghanischen Regierungstruppen und Polizeieinheiten untersucht hat, stellt auf der Website TomDispatch.com (21.09.2009) überzeugend dar, warum der Versuch, Afghanen für die Besatzer kämpfen zu lassen, müßig ist. Sie bezweifelt, daß es überhaupt stehende und einsatzfähige Regierungstruppen in der von den US-Ausbildern genannten Zahl um 90.000 Soldaten gibt. Während sich die Offiziere der NATO-Truppen bei der Offensive in Helmand darüber beklagten, daß die militärische Unterstützung durch afghanische Truppen praktisch ausblieb, berichtet Jones, daß ein Hauptantrieb afghanischer Männer, die zehnwöchige Grundausbildung zu absolvieren, schlicht darin besteht, daß ihre Familien von der dafür gewährten Bezahlung monatelang überleben können und daß sie selbst ausreichend zu essen bekommen.

Jones zufolge verfügen die afghanischen Rekruten schon von ihrer durch Mangelernährung geschwächten Physis kaum über die Voraussetzung, nach Maßgabe ihrer westlichen Ausbilder in den Stand kämpfender Truppen versetzt zu werden. Zudem kehrten die Männer nach ihrer Ausbildung häufig nicht zurück oder aber schrieben sich unter falschem Namen erneut ein, um sich die Bezahlung zu sichern. Auch wären nicht wenige Taliban unter den Rekruten, so daß die verbesserte Gefechtstaktik des Widerstands auch damit zu tun haben könnte, daß sich ursprünglich für die afghanische Nationalarmee ausgebildete Kämpfer unter ihnen befänden.

Das häufige Wechseln der Seiten, um am Ende auf der obsiegenden zu stehen, scheint unter Afghanen eine weitverbreitete, moralisch nicht verwerfliche Überlebensstrategie zu sein, die die Kampfkraft der Nationalarmee weiter unterminiert. Vor allem jedoch verfügen deren Soldaten nicht annähernd über die gleiche Motivation wie die Kämpfer der diversen Widerstandsgruppen, da die Kabuler Regierung wenig Ansehen genießt und die Besatzer allgemein abgelehnt werden, so Jones.

Dies wirke sich auf die Polizeieinheiten noch kontraproduktiver aus, da sie ein für die Taliban leicht anzugreifendes Ziel seien. Der Auftrag, in einer entlegenen Stadt eine Polizeistation zu besetzen, käme für die Betroffenen nicht selten einem Himmelfahrtskommando gleich. Über die unter den Polizisten grassierende Korruption wurde in deutschen Medien schon berichtet, so daß sie die Beliebtheit ihrer ausländischen Ausbilder unter der Bevölkerung kaum steigern dürften.

Mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken heißt nicht, daß die Finanzmittel für die Versorgung der Bevölkerung in gleichem Maße erhöht werden. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein, wie die mit der Wirtschaftskrise begründeten Mittelkürzungen der Geberstaaten für das Welternährungsprogramm belegen. Für humanitäre Zwecke wird in Afghanistan, obwohl die Absicht, die Bevölkerung für die Besatzer zu gewinnen, allgemeiner Konsens unter den Regierungen der NATO-Staaten ist, nur ein Bruchteil der Finanzmittel eingesetzt, die für die in ihrem Ausmaß weiter anwachsende Kriegführung im Lande bereitgestellt werden. Ein Land, dessen Bevölkerung zu einem großen Teil hungert und armutsbedingt im Durchschnitt mit Mitte 40 stirbt, am westlichen Werteuniversalismus genesen lassen zu wollen, ohne die Menschen zumindest satt zu machen, ist bloßer Zynismus. Wenn dieser bei Angriffen der NATO nach dem Blut der notleidenden Bevölkerung verlangt, schürt das einen Zorn, der die durch abwiegelnde und ignorante Behauptungen deutscher Politiker eher geschürt denn beschwichtigt wird.

Nicht nur US-Bürger können aus dem eigenen Scheitern in Vietnam den Schluß ziehen, daß noch so große Militärkontingente nicht in der Lage sind, glorreiche Siege zu feiern, wenn sie einen Krieg gegen die Menschen führen, deren Land sie besetzen. Was heute in Afghanistan an Befriedungsstrategien ausprobiert wird, ist in Vietnam vor 40 Jahren gründlich am Widerstand der Bevölkerung gescheitert. In Afghanistan wird dies nicht anders sein, und jede Regierung, die sich jetzt entschließt, ihre Truppen nicht bald abzuziehen, sondern aufzustocken, handelt wider besseren Wissens gegen das Interesse der betroffenen wie der eigenen Bevölkerung.

Es ist ohnehin zu bezweifeln, daß die unterstellte Logik, mehr NATO-Truppen einzusetzen, um eine Situation zu schaffen, die sie entbehrlich macht, mit der geostrategischen Agenda des Erlangens westlicher Kontrolle über Zentralasien vereinbar ist. Da die Soldaten im Sinne der behaupteten Befriedungsabsicht auf absehbare Zeit nicht entbehrlich sein werden, läuft ihre Entsendung auf die Zementierung des Status quo der Okkupation Afghanistans hinaus.

2. Oktober 2009