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KRIEG/1330: US-Richtlinien gaukeln Schutz der afghanischen Zivilbevölkerung vor (SB)



Imperialistische Angriffskriege militärisch überlegener Mächte, die in Bodenkämpfe und ein Besatzungsregime münden, fordern zwangsläufig einen fortgesetzten grausamen Blutzoll unter der Bevölkerung. Wenn die alliierten Aggressoren wie in Afghanistan vorgeben, sie stritten für die Freiheit der Menschen, die von "terroristischen" Fraktionen bedroht werde, könnte die Diskrepanz zwischen Propaganda und brutaler Wirklichkeit kaum größer sein. Insbesondere die US-amerikanischen Besatzungstruppen sehen sich nach einer Reihe von Massakern durch den Einsatz ihrer Luftwaffe mit wachsendem Widerstand konfrontiert, der die ohnehin fragwürdige Vorwandslage der ausländischen Okkupanten zu perforieren und das Erreichen der proklamierten Kriegsziele vollends obsolet zu machen droht.

Die Besatzer können keinesfalls auf ihre Luftangriffe verzichten, da diese in einem Land wie Afghanistan das einzige militärische Mittel darstellen, das zumindest theoretisch die haushohe waffentechnische Überlegenheit in greifbare Erfolge auf dem Kriegsschauplatz ummünzen könnte. Folglich werden sie derartige Einsätze allenfalls partiell und befristet reduzieren, doch keinesfalls weitgehend und dauerhaft einstellen, um die Zivilbevölkerung zu schonen. Gefragt sind daher neue Richtlinien und Sprachregulative, die Rücksichtnahme vortäuschen und Zugriffssicherheit suggerieren, wo weiterhin brachiale Vernichtungsgewalt das Feld beherrscht. Adressaten dieser Propaganda sind die Afghanen, nicht minder jedoch die Medien in den Herkunftsländern der Besatzer, die den Krieg am Hindukusch an der Heimatfront unterstützen sollen.

Im September 2008 ordnete US-Verteidigungsminister Robert M. Gates neue Rahmenrichtlinien an, welche die wachsenden Spannungen zwischen Washington und der Marionettenregierung Präsident Hamid Karzeis in Kabul abbauen sollten. Im Dezember spezifizierte der damalige Oberbefehlshaber General David D. McKiernan diesen Auftrag in Gestalt der Doktrin, die Truppen dürften Gewalt nur in einem Maße einsetzen, das der Provokation entspreche und die Gefahr ziviler Opfer minimiere. Nun hat Nachfolger General Stanley A. McChrystal angekündigt, man wolle Luftunterstützung in den meisten Fällen nur noch dann gestatten, wenn US-amerikanische oder andere Koalitionstruppen Gefahr laufen, vom Feind überrannt zu werden. Besondere Umsicht sei insbesondere in besiedelten Gebieten geboten, da man Häuser und Gebäudekomplexe nur zum Schutz der eigenen Soldaten beschießen dürfe und darauf zu achten habe, daß sich keine Zivilisten darin befinden. (New York Times 22.06.09)

Daß mit diesen Richtlinien ein bloßes Trugbild entworfen wird, liegt auf der Hand. Indem der Feind fast ausnahmslos als "Taliban" ausgewiesen wird, selbst wenn die Angreifer mutmaßlich im Dienst anderer Kriegsherrn stehen, gaukelt man einen klar identifizierbaren Gegner vor, bei dem es sich nicht um einen organisierten Widerstand gegen das Besatzungsregime, sondern gleichsam einen fremden Aggressor handelt. Auch werden getötete Afghanen fast immer pauschal zu "Taliban" erklärt, und wenn einheimische Augenzeugen und Quellen von Todesopfern unter Zivilisten berichten, versucht man deren Angaben zu bestreiten und die Zahlenangaben herunterzuspielen. Die Behauptung, man wolle und könne den Krieg nicht gegen die Zivilbevölkerung, sondern nur gegen die "Taliban" führen, wird unablässig von der Realität Lügen gestraft.

Wie General McChrystal offen eingeräumt hat, könne die Kontrolle des Luftraums das eigene Scheitern herbeiführen, wenn man sie nicht verantwortungsvoll gebrauche. Zu dieser vorgeblichen Einsicht sah sich der Oberbefehlshaber veranlaßt, nachdem sich die ungeheure Opferzahl nach dem Massaker der US-Luftwaffe am 4. Mai im Dorf Granai nicht mehr verheimlichen ließ. Dort hatte die angeforderte Luftunterstützung ein Kontingent von afghanischen Soldaten und Polizisten samt US-Ausbildern aus der Klemme geholfen, jedoch nach US-Angaben 26, laut einem Bericht der Regierung in Kabul rund 140 Zivilisten das Leben gekostet.

Das Pentagon hielt sich in diesem Fall nicht lange damit auf, die Zahlenangaben zu bestreiten, sondern gab als Resultat einer Analyse des Zwischenfalls die Erklärung heraus, man habe identifiziert, was schiefgelaufen sei. Während nämlich die erste Welle des Luftangriffs nur feindliche Kämpfer getroffen habe, sei beim nachfolgenden Bombenabwurf entgegen den geltenden Richtlinien nicht sichergestellt worden, daß sich in den getroffenen Gebäuden keine Zivilisten aufhielten. Künftig, so erklärte General McChrystal nun, werde man im Zweifelsfall lieber die "Taliban" entkommen lassen, als Zivilpersonen einer Gefahr auszusetzen.

Kreide gefressen hat auch Verteidigungsminister Gates, der kürzlich bei einem Besuch in Kabul erklärte, die US-Streitkräfte würden sich künftig entschuldigen und den Hinterbliebenen eine Entschädigung anbieten, noch bevor die offiziellen Ermittlungen im Falle ziviler Opfer abgeschlossen seien. Bei jenen seltenen Gelegenheiten, in denen es tatsächlich zu einem Fehler komme, sei rasches und großzügiges Handeln geboten. Vom blanken Zynismus dieser Abgeltung einmal abgesehen, inszenieren die Besatzungskräfte nun die Farce, ein "sauberer" Krieg sei führbar, wenn man sich nur strikt an die Richtlinien halte. Tote Afghanen sind per Definition "Taliban", und sollten sich zivile Opfer nicht vertuschen lassen, räumt man "Regelverstöße" ein, die finanziell kompensiert werden sollen. Wollte man Opfer unter der Zivilbevölkerung tatsächlich vermeiden, müßte man aus Afghanistan abziehen, wozu bislang alle Besatzungsmächte gezwungen waren, bevor sie ihre erklärten Ziele erreicht hatten.

22. Juni 2009