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KULTUR/1053: Konfliktursache - soziale Isolation ... (SB)



Diese Paare haben jetzt überhaupt keine Pausen mehr, keine Fenster der Freiheiten, wenn einer oder beide auf der Arbeit sind. Stattdessen bringt die Isolation den Täter in eine Position, in der er die Betroffene komplett abschirmen und totale Kontrolle ausüben kann. Wo die Frauen vorher vielleicht doch mal die Gelegenheit nutzen konnten, heimlich zu telefonieren, sich an eine Beratungsstelle zu wenden oder mit einer Freundin zu sprechen, fallen diese Möglichkeiten immer mehr weg. Und das beschleunigt die Gewaltspirale.
Laura Kapp vom Netzwerk der brandenburgischen Frauenhäuser zu häuslicher Gewalt [1]

Die aus Gründen der Infektionsabwehr notwendige Maßnahme der sozialen Isolation ist in der Bundesrepublik noch einen Schritt von einer regelrechten Ausgangssperre entfernt. Bei dieser sind alle nicht aus existentiellen Gründen notwendigen Wege strikt untersagt. Die dabei aus anderen Ländern gemeldete Zunahme an häuslicher Gewalt zeigt, daß mit dem noch zugestandenen Spaziergang allein oder zu zweit ein nicht unwesentliches Druckventil offengelassen wurde. So befürwortet die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig [2], die nicht vollständige Beschränkung auf die eigenen Wohnung auch in Hinsicht auf häusliche Gewalt, der in großer Überzahl Frauen zum Opfer fallen [3].

"Die Hölle, das sind die anderen" ("L'enfer, c'est les autres") - in dem Drama Geschlossene Gesellschaft (Huis Clos) hat Jean-Paul Sartre herausgearbeitet, daß sich zwischen Menschen in Situationen, die keinen Fluchtweg in andere Räume offenlassen, ein nicht zu brückender Abgrund öffnen kann. Wo die Praxis der gegenseitigen Bezichtigung nicht in die Erkenntnis mündet, daß diese Form von Schuldübertragung nur endet, wenn ohne Abstriche Verantwortung für das eigene Tun übernommen wird, kann das Hauen und Stechen finalen Charakter annehmen. Schon über den Rand des projektiven Horizontes hinauszugelangen, der stets in anderen die Ursache der eigene Misere verortet, ist vielen Menschen unmöglich. Der soziale Krieg gegen verletzliche Minderheiten und von der herrschenden Norm abweichende Menschen wäre nicht denkbar ohne die Voraussetzung einer rassistischen und patriarchalen Feindbildproduktion, mit der die Neue Rechte ihre Ambitionen politischer Herrschaft nährt.

Doch nicht nur dort wird die Angst geschürt und versucht, sie für das Erreichen eigener Ziele einzuspannen. Die neoliberale Gesellschaft hat mit der konkurrenzgetriebenen Atomisierung der Menschen die Grundlage für eine Bezichtigungslogik gelegt, die die Marktsubjekte systematisch auf sich selbst zurückwirft, um das alltägliche Scheitern mit eigenem Versagen zu begründen, anstatt den systemischen Charakter krank und kaputt machender Verhältnisse anzugreifen. Den seit Jahrzehnten anwachsenden Zahlen an behandlungsbedürftigen Depressionen und sogenanntem Burn-out-Syndrom liegt der scheinbar unauflösliche Widerspruch von eingestandener Ohnmacht und niemals vollständig versiegendem Aufbegehren zugrunde. Sich auf eine Seite dieses Widerspruches zu stellen und Widerstand gegen die objektiven, der Ausbeutung durch Lohnarbeit und dem Warencharakter menschlicher Beziehungen geschuldeten Gewaltverhältnisse zu leisten könnte aus diesem Dilemma herausführen, ist aber auch die politisch prekärste und daher massiv unterdrückte Option.

Schuld nicht auf andere umzulasten oder in Selbstdestruktivität auszuagieren setzte voraus, den Tauschwertcharakter moralischen wie ökonomischen Handels im Grundsatz zu kritisieren. Die eigene Lebenszeit und -kraft in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft zu Markte tragen zu müssen gilt zwar als Akt freien Willens, doch ist diese Freiheit an eine Überlebensnot gebunden, die diesen Willen als eisernes Korsett gesellschaftlichen Zwanges erkennen läßt. Dies als unhinterfragbare Normalität zu akzeptieren und Sicherheit im Angebot zu suchen, sich in Ehe und Familie häuslich einzurichten, heißt jedoch nicht, daß die objektiven Zwangsverhältnisse damit überwunden wären und nicht mehr als permanente Angststörung hervortreten würden.

Diese aus der klassengesellschaftlichen Widerspruchslage destillierte Unterwerfungsleistung auszuhalten bedarf permanenter Entlastung durch Konsum, Betäubung und Unterhaltung aller Art. So ist die Hoffnung auf von Liebe erfüllte Zweisamkeit dazu geeignet, in den Hafen einer Ehe zu führen, in der sich das fehlende Wissen um die Dynamik fremdbestimmter Bezichtigungen gewaltsam Bahn bricht. Angesichts der Forderung nach sozialer Isolation in der eigenen Wohnung wird die Frage akut, wie die Menschen dies überhaupt auf längere, vielleicht mehrere Monate währende Sicht aushalten sollen. Der Unterschied zwischen einer großen Wohnung mit Balkon oder Garten und einer kleinen Wohnkonserve im Mehrparteienhaus bedeutet eben auch, sich aus dem Weg gehen zu können oder so aufeinanderzuhocken, daß soziale Spannungen gewalttätig eskalieren können. Wohnen unter menschenfreundlichen Bedingungen sollte schon deshalb ein Grundrecht sein, weil die Verächtlichkeit der bourgeoisen EigentümerInnenklasse auf jenen sozialökonomischen Mißständen aufsetzt, die sie selbst produziert.

Schon im gesellschaftlichen Normalfall finden die meisten Vergewaltigungen unter Paaren und in der Ehe statt. Was sich hinter den Wänden der Wohnungen gutbürgerlicher Kleinfamilien an Abgründen menschlicher Niedertracht auftun kann ist nicht umsonst Gegenstand zahlreicher Romane, Filme und Theaterstücke. In der Keimzelle sozialer Reproduktion vermitteln sich die Anpassungsforderungen von Staat und Gesellschaft traditionell über die Autorität des Vaters, der seinerseits von Zwangsverhältnissen getrieben sein kann, die die massive Unterdrückung von Frau und Kindern vorprogrammiert erscheinen lassen. Sich davon zu emanzipieren ist denn auch ein zentrales Anliegen des Feminismus wie der Auflösung heteronormativer Geschlechterbilder in der LGBTIQ-Szene.

Im besten Falle könnte die besondere Belastungsprobe häuslicher Abschottung Anlaß zu emanzipatorischen Fragestellungen geben, die nach der Coronakrise verhindern, die ewig gleichen Fehler zu wiederholen. Aus sozialer Isolation könnten Keime kollektiver Solidarität hervorgehen, die das schon vor der Pandemie von fremdverfügten Interessen aller Art umlagerte Marktsubjekt über sich hinauswachsen lassen. Den instrumentellen Charakter idealisierter Menschenbilder in die Praxis streitbarer Überwindung welcher Form von Herrschaft auch immer zu überführen bleibt kein unerreichbares Ideal, wenn der jahrtausendealten Schuldzuweisung klerikaler und feudaler, ideologischer und staatlicher Art der Boden jeglichen Tauschens und Vergleichens entzogen wird.


Fußnoten:

[1] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/coronavirus/frauenberatungsstellen-befuerchten-zunahme-haeuslicher-gewalt.html

[2] https://www.deutschlandfunk.de/kontaktverbote-wegen-coronavirus-wir-wollen-die-menschen.694.de.html?dram:article_id=473078

[3] https://www.heise.de/tp/features/Soziale-Folgen-des-Social-Distancing-4687769.html?view=print

23. März 2020


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