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KULTUR/1052: Britanniens virale Chancen - Sparerträge und Gewissensvertuschungen ... (SB)



Wenn schon schwer zu verstehen ist, warum die von der EU beschlossenen Einreisebeschränkungen für den Schengenraum dazu dienen sollen, den Verkehr zwischen den EU-Staaten weiterhin zu ermöglichen, ohne zugleich die Verbreitung des Coronavirus zu begünstigen, so bleibt die Ausnahmeregelung für britische StaatsbürgerInnen vollends unbegreiflich. Bisher wurden im United Kingdom über allgemeine Empfehlungen, wie sich Menschen im Krankheitsfall am besten zur Vermeidung weiterer Ansteckungen verhalten sollten, keine der in den meisten Ländern der EU verordneten restriktiven Maßnahmen ergriffen. Wieso Reisende aus Großbritannien dennoch in der EU willkommen sind, bleibt das Geheimnis ihrer Kommission.

Bis vor wenigen Tagen wurde im Vereinigten Königreich die Politik verfolgt, durch die schnelle Infizierung eines Großteils der Bevölkerung eine sogenannte Herdenimmunität zu erreichen. Das führe angeblich dazu, danach weitgehend immun gegen den Erreger SARS-CoV-2 zu sein. Noch letzte Woche bestätigten Regierungsberater öffentlich die Strategie, eine Art kontrollierter Epidemie mit dem Ziel zuzulassen, daß sich etwa 60 Prozent der Bevölkerung mit COVID-19 anstecken. Dies hätte bei einer einprozentigen Sterberate auf rund 400.000 voraussichtliche Todesopfer in UK hinauslaufen können, und das wäre nach bisherigen Erkenntnissen eine moderate Letalität.

Da eine im freien Fall befindliche Zunahme der Neuerkrankungen aufgrund der dann zweifellos exponentiellen Ausbreitung von COVID-19 innerhalb kürzester Zeit das Gesundheitssystem überforderte, würden zahlreiche Menschen schon deshalb sterben, weil ihnen keine Notfalleinrichtungen in den Kliniken mehr zur Verfügung stünden. Das gilt um so mehr, als die in den letzten 10 Jahren amtierenden Tory-Regierungen das britische Gesundheitssystem NHS so massiv ausgedünnt haben, daß 17.000 Betten eingespart wurden und 100.000 ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen fehlen [2]. Die Behauptung der Regierung, durch Vorerkrankungen und gehobenes Alter besonders anfällige Gruppen der Bevölkerung bei einer weithin unbehinderten Verbreitung des Virus in besonderer Weise schützen zu wollen, entbehrte jeder Grundlage, da für die Versorgung dieser Menschen gar keine Vorkehrungen getroffen wurden.

Da die Regierung am Wochenende aufgrund des anwachsenden Widerstandes gegen ihre Corona-Politik und neuer Erkenntnisse des MRC Centres for Global Infectious Disease Analysis am Imperial College [3] einlenken mußte, hat Premierminister Boris Johnson nun empfohlen, daß besonders gefährdete Personengruppen Distanz zu anderen Menschen halten und Erkrankte in Quarantäne gehen. Laut jüngsten Informationen hat er für Freitag die Schließung der Schulen als weitere Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie angekündigt. Die stetig anwachsende Kritik an seinem Krisenmanagement scheint dazu zu führen, daß er schrittweise Abstand nimmt vom Laissez-faire-Stil seiner Amtsführung, die mitunter in naßforschen Witzen gipfelt, so am Montag bei einer Krisensitzung zum Mangel an Beatmungsgeräten, wo er den Aufruf an die Hersteller, mehr Geräte zu produzieren, scherzhaft "Operation letzter Atemzug" ("Operation Last Gasp") taufte.

Die anfangs eingeschlagene Strategie, weit mehr Tote in Kauf zu nehmen als im Fall einer strikten Unterbrechung der Infektionsketten, um schnell "über den Berg" zu sein, entspricht den neoliberalen Konzepten der "kreativen Zerstörung" und der "Disruption". Die Folgen eines massiven Einbruches in laufende Prozesse zur Entfesselung neuer wirtschaftlicher Wachstumskräfte wird stets den überflüssig gemachten Menschen aufgelastet, das gilt auch für die Anwendung neoliberaler Rezepturen auf epidemiologische Krisen. Die unter britischen WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen verbreitete utilitaristische Ethik straft den individualistischen Anspruch des Liberalismus Lügen, handelt es sich doch um eine Doktrin administrativer Verfügungsgewalt, die das Lebensrecht des einzelnen dem Erhalt des gesellschaftlichen Gesamtsystems unterwirft. Im Zweifelsfall wird die krankheitsbedingte Ausdünnung der Bevölkerung als ökonomisch erforderliche Bringschuld dargestellt und auf dem Altar des darwinistischen Glaubens an die Überlegenheit des Stärkeren geopfert.


Fußnoten:

[1] https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/mar/18/coronavirus-uk-expert-advice-wrong

[2] https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/mar/09/coronavirus-outbreak-nhs-staff-shortages

[3] https://www.theguardian.com/world/2020/mar/16/new-data-new-policy-why-uks-coronavirus-strategy-has-changed

18. März 2020


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