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KULTUR/0995: Pressefreiheit offenbar doch verhandelbar (SB)



Wenn Regierungssprecher Steffen Seibert mit Blick auf die Türkei erklärt, die Pressefreiheit sei nicht verhandelbar, ist das eine klare Ansage, die man sich viel früher, nachdrücklicher und vor allem folgenreicher gewünscht hätte. Erfreulich wäre zuallererst, wenn dieses Prinzip in der Bundesrepublik auch auf die Publikationen jener linken türkischen und kurdischen Organisationen Anwendung fände, die deutsche Behörden in Kollaboration mit der Türkei der Strafverfolgung aussetzen. Ein Fortschritt stellte sich zweifellos ein, würde die Bundesregierung die Drangsalierung von oppositionellen Journalisten und Medien durch die AKP-Regierung in aller Entschiedenheit verurteilen und diesen Worten auch Taten folgen lassen. So wurde die Vorgehensweise der türkischen Regierung, nach dem gescheiterten Putsch im Zuge einer Säuberungswelle mit ihren Gegnern aufzuräumen, von deutscher Seite gerügt, ohne daß dies Konsequenzen gehabt hätte. Seit Mitte Juli wurden mindestens 60 Journalisten und Autoren verhaftet und mehr als 130 Medienhäuser geschlossen, darunter 45 Zeitungen, 29 Buchverlage und 15 Magazine. [1]

Aus Perspektive deutscher Staatsräson ist die Türkei auch unter der autokratischen Führung Recep Tayyip Erdogans als strategischer Partner viel zu wichtig, als daß man das Abkommen zur Flüchtlingsabwehr oder den Ausbau der Bundeswehrpräsenz in Incirlik an geschundenen Menschenrechten, dem Vernichtungskrieg gegen die Kurden, willkürlichen Festnahmen, Folter und Haft oder einer zunehmend repressiven gesellschaftlichen Verfassung insbesondere für Frauen und jegliche Minderheiten scheitern lassen würde. Um Erdogan zur Rücknahme des Besuchsverbots für Bundestagsabgeordnete in Incirlik zu bewegen, wo Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen 58 Millionen Euro in den Ausbau der Basis für die Bundeswehr investieren will, machte Merkels Kabinett einen Rückzieher in der Armenienfrage. Die Entschließung des Bundestags, welche die Vertreibung und das Massaker an den Armeniern vor gut 100 Jahren durch das Osmanische Reich als Völkermord gewertet hatte, sei lediglich eine Willenserklärung und nicht rechtlich bindend. [2]

Nun wird das demonstrative Tauwetter nach dem Treffen zwischen Merkel und Erdogan am Rande des G20-Gipfels in Hangzhou bei den ohnehin nie auf den Gefrierpunkt abgekühlten Beziehungen zwischen Berlin und Ankara von einer weiteren spektakulären Kontroverse jäh wieder eingetrübt. Im Streit zwischen der Deutschen Welle und der türkischen Regierung um ein beschlagnahmtes Interview mit dem Minister für Jugend und Sport, Akif Cagatay Kilic, kann die Bundesregierung nicht umhin, wenn nicht Flagge, so doch ein Fähnchen zu zeigen. Schließlich handelt es sich um den deutschen Auslandssender der Bundesrepublik, dessen Material kurzerhand beschlagnahmt und nicht wieder freigegeben wurde.

Wie ein Sprecher des Außenministeriums in Berlin dazu mitgeteilt hat, sprach der deutsche Botschafter in Ankara mit Kilics Büroleiter. Es sei ein konstruktives Gespräch geführt worden "über das, was geschehen ist". Der Botschafter habe deutlich gemacht, daß Pressefreiheit für die deutsche Regierung und die deutschen Medien sehr wichtig sei. Zugleich wünsche sich die Bundesregierung, daß "die Pressefreiheit auch in der Türkei zur Anwendung kommt". Der Vorfall solle aber nicht zu weiteren Verwerfungen mit der Türkei führen, packte der Sprecher die ohnehin milde Mahnung zusätzlich in diplomatische Watte. [3]

Was war geschehen? Im Rahmen des für seinen konfrontativen Stil bekannten Formats "Conflict Zone" der Deutschen Welle hatte Moderator Michel Friedman den Minister unbequemen Fragen ausgesetzt. Eigenen Angaben zufolge brachte er den Putsch, die Bundeswehr in Incirlik, die Visafreiheit und den Umgang mit den Kurden zur Sprache. Er habe sich nach der Pressefreiheit, den Massenverhaftungen von Journalisten, Richtern und Lehrern und nach dem Frauenbild der türkischen Regierung erkundigt. Auch habe er wissen wollen, ob sich der türkische Präsident noch als weltlicher Herrscher sehe oder als Imam, der religiöse Vorgaben mache, etwa zu Frauenrechten und dem Thema Verhütung. Da sei es dem Minister endgültig zu viel geworden. [4]

Nach dem Interview sei das Drehteam der Deutschen Welle vom Pressesprecher des Ministers aufgehalten und aufgefordert worden, das Interview nicht zu senden. Das hätten Friedman und sein Team selbstverständlich zurückgewiesen, worauf der Presseoffizier den türkischen Kameramann des Teams angewiesen habe, ihm den Chip mit der Aufnahme des Interviews auszuhändigen, was dann auch geschehen sei. Dagegen habe die Deutsche Welle umgehend Protest bei der türkischen Regierung eingelegt und ihr eine Frist für die Rückgabe des Materials eingeräumt, die jedoch ergebnislos verstrichen sei. Daraufhin habe man den Vorgang öffentlich gemacht.

Intendant Peter Limbourg sprach von einem "echten Skandal", den die Deutsche Welle nicht hinnehmen könne. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) rief Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf, sich in den Fall einzuschalten. "Das ist der schwerstmögliche Angriff auf die Pressefreiheit, wie wir ihn nur aus Diktaturen kennen", so der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall. Für Alexander Skipis vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels kommt der jüngste Vorfall nicht überraschend: "Fast täglich erreichen uns Meldungen über neue Verstöße von türkischen Behörden gegen die Presse- und Meinungsfreiheit. Aber nach wie vor vermeiden Frau Merkel und Herr Juncker klare Aussagen und konkrete Schritte, um die Meinungsfreiheit in der Türkei zu verteidigen", so Skipis. Mit einer Online-Petition, die gemeinsam mit dem PEN-Zentrum Deutschland und der Vereinigung "Reporter ohne Grenzen" durchgeführt wird, will er den Druck auf die Politik erhöhen. Knapp 75.000 Menschen haben FreeWordsTurkey bereits unterzeichnet. [5]

Harsche Kritik am Vorgehen der türkischen Führung, aber zugleich auch an der Zurückhaltung der Bundesregierung übt die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Sie verweist auf die jahrelangen Angriffe auf die Pressefreiheit in der Türkei und verurteilt die Öffentlichkeitsarbeit der türkischen Regierung "im Mafia-Stil". Es sei "ein Stück aus dem Tollhaus", wie man es ähnlich nur aus Diktaturen kenne. Was der Deutschen Welle passiert sei, "ist genau das, was viele Journalisten in der Türkei seit Jahren erleben". Die Deutsche Welle werde aus Haushaltsmitteln finanziert und ein "massiver Angriff" auf deren Mitarbeiter müsse verurteilt werden.

Zu den internationalen Normen der Pressefreiheit gehöre natürlich auch, daß es den Journalisten selber obliege zu berichten. "Das ist das freie Wort. Das sind universelle Menschenrechte und da kann die Türkei nicht sagen, sie handhaben es anders." Daher dürfe die Bundesregierung nicht zu diesem Vorfall schweigen, wie es Kanzlerin Merkel in der Generaldebatte zum Haushalt getan habe. Sie würde sich wünschen, daß sich die Bundesregierung für die Freiheit der Presse, für freie Meinungsäußerung, für die universellen Grundrechte stark macht, bei der türkischen Regierung interveniert und selbstverständlich auch die Herausgabe dieses Materials verlangt, so Dagdelen.

Zu befürchten steht jedoch das Gegenteil. Wenngleich es durchaus zutreffen mag, daß Erdogan im unablässigen Machtkampf jedes Schweigen oder Einlenken der Bundesregierung als Erfolg und Bestätigung auslegt, seinen Kurs künftig noch zu verschärfen, gibt die vermeintliche Ohrfeige für die Bundeskanzlerin keinen Aufschluß über die beiderseitigen Interessen und Kräfteverhältnisse. Nichts wäre bei aller unverzichtbaren Kritik an dem repressiven Regime Recep Tayyip Erdogans fataler als ein wohlfeiler Konsens über die angebliche Schwäche der Bundesregierung, die sich von dem Despoten ein ums andere Mal vorführen lasse. Deutschland baut seinen hegemonialen Anspruch nicht mehr nur in Europa ambitioniert aus und bedient sich dabei der Türkei, auch wenn es unterdessen immer wieder zu Unwuchten kommt.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/dagdelen-linke-zum-interview-streit-tuerkei-betreibt.694.de.html?dra

[2] https://www.jungewelt.de/2016/09-07/001.php

[3] http://www.deutschlandfunk.de/streit-zwischen-deutscher-welle-und-tuerkei-bundesregierung.1818.de.html?

[4] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/eklat-um-in-der-tuerkei-beschlagnahmtes-interview-der-deutschen-welle-14424240.html

[5] http://www.dw.com/de/deutscher-botschafter-interveniert-in-ankara/a-19530575

7. September 2016


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