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KULTUR/0994: Anonymität und Entblößung im staatlichen Vollzug (SB)



"Gesichtzeigen ist für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft konstitutiv", meint Bundesinnenminister Thomas de Maizière angesichts der Debatte um die Gesichtsverschleierung muslimischer Frauen. Die Burka passe "nicht zu unserem weltoffenen Land", diene das Zeigen des Gesichtes etwa im öffentlichen Dienst, in Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Gerichtssälen und anderen Situationen doch der unabdinglichen Möglichkeit, Menschen identifizierbar zu machen. Die Hamburger Polizei sieht dies offensichtlich anders, machte sie doch die Gesichter von drei Kolleginnen und einem Kollegen, die auf einem Plakat am linksautonomen Zentrum Rote Flora mit ihrem Namen identifizierbar gemacht worden waren, am frühen Morgen unter dem Schutz einer halben Hundertschaft unkenntlich. Der mit dem im Kunsturhebergesetz verankerten "Recht auf das eigene Bild" begründete Eingriff in die offenkundige Satire, mit der von polizeilicher Ausspähung Betroffene die Unterwanderung durch falsche Genossinnen und Genossen auf die Spitze polizeilicher Nachwuchswerbung nahmen, zeigt zumindest, daß die öffentliche Sichtbarkeit dieses Teils des öffentlichen Dienstes beim Staat eher unerwünscht ist.

Dabei lassen die von jahrelanger Ausforschung betroffenen Aktivistinnen und Aktivisten mit der Plakataktion, die die Konterfeis ihrer ehemaligen Mitkämpferinnen als Ergebnis der Suche nach neuem "Spitzelnachwuchs" mit dem Schriftzug "Gefunden!" markierte, durchaus zugewandten und humorvollen Stil erkennen. Angesichts dessen, daß die vier bislang in Hamburg enttarnten Ermittler sich unter Vorspiegelung falscher Identitäten in das Vertrauen von Menschen einschlichen, die sich nichts als antifaschistischen Widerstand und eine antikapitalistische Gesinnung haben zuschulde kommen lassen, und ihre angeblichen Freunde über lange Zeit so wirksam hintergingen, daß sich ein Teil der Szene im Streit über den aufgekommenen Spitzelverdacht regelrecht zerlegte, wären auch harschere Formen des öffentlichen Protestes gegen die damit sicherlich nicht eingestellte Ausforschung linker Strukturen vorstellbar. "Das Leben der Anderen" findet auch in der BRD statt, wird im freiheitlichen Rechtstaat allerdings nicht mit den Meriten beworben, staatspädagogisch besonders wertvoll zu sein.

Anfang August wurde eine Demonstrantin, die sich 2015 an den Blockupy-Protesten gegen die Eröffnung des Neubaus der Europäischen Zentralbank in Frankfurt beteiligt hatte, zu 600 Euro Geldstrafe wegen sogenannter "Schutzbewaffnung" verurteilt. Die Frau hatte eine Plastikfolie auf dem Kopf getragen, die auch einen Teil des Gesichts verdeckte, um sich gegen Pfefferspray-Attacken der Polizei zu schützen. Auf diese Weise Maßnahmen von Polizeibeamten zu unterlaufen, die, behelmt und mit Schutzkleidung aller Art versehen, nurmehr als anonyme Masse erkennbar sind, erfüllt zwar noch nicht den Tatbestand des "Vermummungsverbotes", läßt jedoch einen Zwang zur Selbstentblößung erkennen, der nicht im Interesse der Betroffenen sein kann.

Sich im Sinne des Bundesinnenministers weltoffen zu zeigen setzt eine Form ziviler Verletzlichkeit voraus, die die Freiheit des Bürgers im Zweifelsfall unter Vorbehalt exekutiver Gewaltausübung stellt. Wenn das freundliche Gegenüber, die erklärte Genossin, der solidarische Aktivist ein allgemein anerkanntes Anliegen wie die Verhinderung der ökologischen Katastrophe sabotieren, wie die Teilnahme zweier verdeckter Ermittlerinnen aus Hamburg an den Protesten auf dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen belegt, dann braucht man sich keinen Illusionen über die Motive eines Staates hinzugeben, der den politischen Kampf mit diesen Mitteln führt. Menschliche Verläßlichkeit sieht anders aus, und hat sich der Virus grundlegenden Mißtrauens gegen alles und jeden einmal festgesetzt, dann gesellt sich zum neoliberalen Imperativ, sich als konkurrenzgetriebenes Marktsubjekt auch zu Lasten des anderen Menschen durchzusetzen, die gelungene Atomisierung möglichen Widerstands gegen herrschende Interessen.

Wer Gesicht zeigt und wer nicht, bleibt nicht unbedingt individuellen Neigungen, persönlichem Geltungsstreben oder dem Wunsch nach Anonymität überlassen. Die Entblößung des Körpers ist, anders als zu Zeiten beginnender sexueller Libertinage, zu einem Politikum geworden, dem egalitäre und demokratische Motive eher fremd sind. Nimmt sich der Staat bei der geheimdienstlichen und informationstechnischen Überwachung wie dem Einsatz verdeckter Ermittler oder V-Leuten umfassende Anonymität und damit die Einschränkung seiner Rechenschaftspflichten heraus, so werden Freiheit und Demokratie auch damit verteidigt, wenn schon bei Bagatelldelikten zu erkennungsdienstlichen Zwangsmaßnahmen gegriffen oder Frauen untersagt wird, sich aus angeblich unstatthaften Gründen zu bedecken.

Wenn vier bewaffneten Polizisten an einem südfranzösischen Strand eine muslimische Frau unter den Augen der anderen Badegäste umringen und sie zwingen, Teile ihres Ganzkörperschwimmanzuges auszuziehen, dann statuieren sie an ihr auch als ausführende Organe eines hoheitlichen Aktes ein drastisches Exempel patriarchaler Willkür. Wer sein Gesicht aus welchen Gründen auch immer in der Öffentlichkeit verdecken oder gar baden will, ohne mehr nackte Haut zu zeigen als üblich, bewegt sich in der Wahrnehmung dieser Polizisten schon im Vorfeld des Terrorismus. Wo der öffentliche Raum zusehends ins Blickfeld von Videoüberwachungssystemen gerät, deren - von Thomas de Maizière im jüngsten Maßnahmepaket als Mittel der Wahl ausdrücklich propagierten - Gesichtserkennungssoftware die Identität von Personen in Sekundenschnelle feststellen und deren Weg durch die Stadt mit vernetzten Kameras automatisiert begleitet werden kann, macht es für den Primat panoptischer Sicherheit allemal Sinn, Gesicht zu zeigen. Weltoffenheit wird von Sozialkontrolle ununterscheidbar, und der allgemeine Verlust von Anonymität erinnert daran, daß die schwarzen Masken der indigenen Zapatista, denen das Gelingen des kollektiven Kampfes wichtiger ist als der individuelle Erfolg, nicht zeitgemäßer sein könnten.

26. August 2016


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