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KULTUR/0976: Zukunft des Gedenkens im Schatten seiner Instrumentalisierung (SB)




Die Vergangenheit sei nie bewältigt, sondern immer auch ein "Stück Tagespolitik", erklärt der Historiker Michael Wolffsohn anläßlich des Gedenkens an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz vor 70 Jahren [1]. So naheliegend diese Erkenntnis ist, so sehr steht ihr der Anspruch auf eine Würdigung der Massenvernichtung der europäischen Juden und anderer Opfergruppen durch das NS-Regime entgegen, die nicht durch den Versuch der Instrumentalisierung dieses epochalen Bruches mit allen menschlichen Werten korrumpiert wird. Noch während in Anbetracht der bald nicht mehr gegebenen Anwesenheit von Zeitzeugen nach der Zukunft dieses Gedenkens gefragt wird, wird seine Gegenwart in den Schatten politischer Ambitionen gestellt, die sich des Vermächtnisses des mit industriellen Mitteln betriebenen Massenmordes bedienen, um ganz anderen Interessen zu frönen.

Dies trifft insbesondere auf das Verhältnis der NATO-Staaten zu Rußland zu. Der Präsident des größten Nachfolgestaates der Sowjetunion hätte an erster Stelle bei dem Gedenken an die Befreiung der überlebenden Lagerinsassen durch die Rote Armee anwesend sein müssen. Einem angeblichen Mißbrauch des Gedenkens durch Wladimir Putin [2] war dessen Fernbleiben jedoch kaum geschuldet. Zwar trifft es zu, daß die polnische Regierung anfangs keinen Staats- und Regierungschef einlud, sondern lediglich mit Hilfe diplomatischer Noten über die Gedenkfeier informierte und es den angeschriebenen Regierungen überließ, wen sie dazu entsenden wollten. In Anbetracht der tiefen Gräben zwischen Warschau und Moskau liegt jedoch nahe, daß dieses Vorgehen der Absicht geschuldet war, gar nicht erst in die Verlegenheit zu geraten, den russischen Präsidenten einladen zu müssen.

Zudem hatte die polnische Premierministerin Ewa Kopacz doch noch den ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko offiziell nach Auschwitz eingeladen und damit in die gleiche Kerbe geschlagen wie ihr Außenminister Grzegorz Schetyna. Dieser legte es darauf an, das historische Vermächtnis der Sowjetunion und ihrer multiethnischen Streitkräfte durch die Behauptung zu beschädigen, daß es Ukrainer waren, die Auschwitz befreit hätten. Bei dem Versuch, den ukrainischen Anteil an der Befreiung herauszustreichen, übersah Schetyna allerdings, daß es sich bei der "ersten ukrainischen Front der Roten Armee" [3] um einen Truppenteil handelte, dessen Benennung sich auf die Aufgabe bezog, die Ukraine von der Wehrmacht zurückzuerobern, und nicht für seine ethnische Zusammensetzung stand. Da die Befreiung der Ukraine von ihrem Premierminister Arseni Jazenjuk heute als "sowjetische Invasion" [4] bezeichnet wird, stand dieser Truppenteil wohl kaum in der Tradition jener Ukraine, die der polnische Außenminister damit aufwerten wollte.

Deutlicher als mit der Ethnisierung des Gedenkens hätte Schetyna nicht den Finger in die Wunde einer nationalistischen Restauration legen können, die nah an den völkischen Wurzeln jenes mörderischen Rassedenkens siedelt, das am offiziellen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus einhellig verurteilt wird. Er hantierte nicht nur leichtfertig mit geschichtspolitischem Sprengstoff, indem zu beweisen versuchte, "dass der erste sowjetische Panzer, der die Mauer des Konzentrationslagers durchbrach, von einem Ukrainer gesteuert wurde" [5]. Er verkannte zudem, was es bedeutet, daß das Tor des Stammlagers Auschwitz I am 27. Januar 1945 von einem jüdischen Offizier geöffnet wurde. Der hochdekorierte Major Anatoly Shapiro [6] stammte aus der Ukraine und gehörte damit zu den potentiellen Opfern der deutschen Besatzer wie ihrer einheimischen Kollaborateure, die dort längst wieder in hohem Ansehen stehen. Die staatsoffizielle Ehrung ihres Führers Stepan Bandera, das offene Tragen von Nazisymbolen, die Duldung bewaffneter Kräfte aus dem neofaschistischen Milieu und der aggressive Antikommunismus sind Elemente einer angeblichen nationalen Befreiung, die dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus so sehr widersprechen, daß Joachim Gauck in seiner langen Rede im Bundestag durchaus einige Worte darauf hätte verwenden können.

Der von Michael Wolffsohn hochgelobte Bundespräsident unterließ es auch, das besonders harte Schicksal der Hauptfeinde des antibolschewistischen Aggressionskriegs Hitlerdeutschlands zu erwähnen. So wurden die ersten Vergasungen mit Zyklon B in Auschwitz an 600 sowjetischen Kriegsgefangenen durchgeführt. Von den 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starb und verhungerte mehr als die Hälfte in deutscher Gefangenschaft, während es unter den Kriegsgefangenen der Westalliierten lediglich 3,5 Prozent waren [7].

Stattdessen knüpfte der Bundespräsident unter der Signatur des "Nie wieder" implizit an die von ihm betriebene Aufwertung deutscher Kriegsbereitschaft an. Unter anderem anhand der Beispiele Srebrenica, Syrien und Irak fragte er:

"Sind wir denn bereit und fähig zur Prävention, damit es gar nicht erst zu Massenmorden kommt? Sind wir überhaupt imstande, derartige Verbrechen zu beenden und sie zu ahnden? Fehlt manchmal nicht auch der Wille, sich einzusetzen gegen solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit?" [8]

Insbesondere das Beispiel Jugoslawien erinnert daran, daß die Bundeswehr sich dort unter der Behauptung des damaligen Außenministers Joseph Fischer an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligte, es gehe darum, ein "neues Auschwitz" [9] zu verhindern. Festzustellen, ab wann ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" Handlungsbedarf erzeugt, unterliegt einer Deutungsmacht, die nicht nur in den von Gauck genannten Beispielen alles andere als frei von eigenem geostrategischen Kalkül ist.

Als der damalige US-Vizepräsident Richard Cheney auf der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag 2005 der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz behauptete, "daß das Böse real ist, bei seinem Namen genannt und konfrontiert werden muß", kamen in dem von US-Truppen besetzten Irak jeden Tag Hunderte von Menschen gewaltsam zu Tode. Cheney war maßgeblich an der Planung und Durchführung des Überfalls auf den Irak 2003 beteiligt und hatte bereits am 11. September 2001 daran gearbeitet, eine längst widerlegte Verbindung zwischen Saddam Hussein und Al Qaida zu konstruieren. Als Cheney in Auschwitz erklärte, daß "Männer ohne Gewissen zu jeder Grausamkeit fähig sind, die sich der menschliche Geist vorstellen kann", waren die von ihm autorisierten Folterverhöre in vollem Gange. All das war bekannt, doch weder die Regierung Polens, die den USA sogenannte Black Sites zur Durchführung derartiger Verhöre im eigenen Land zur Verfügung stellte, noch die der BRD, die den Irakkrieg zumindest logistisch unterstützte, hielten es für erforderlich, sich von dieser Instrumentalisierung eines Gedenkens zu distanzieren, dessen Anlaß sich aufgrund seiner Monstrosität jeder Vergleichbarkeit entziehen soll. Dies wird zumindest immer dann eingefordert, wenn eine entsprechende Analogie von Menschen oder Gruppen in Anspruch genommen wird, die nicht über die Deutungsmacht jener verfügen, die die geschichtspolitische Letztbegründung für kriegerische Aggressionen in Anspruch nehmen und sie auch durchsetzen können.

Tagespolitik ist mithin stets im Spiel, wenn außergewöhnlicher historischer Ereignisse gedacht wird. Daß die dafür in Anspruch genommene Wahrheit anderen als Schmähung derselben erscheinen kann und umgekehrt, wird den Opfern politisch und ideologisch motivierter Gewalt nur darin gerecht, daß sie ein weiteres Mal zu Opfern gemacht werden. Wenn der Zukunft dieses Gedenkens etwas droht, dann ist es nicht nur die Leugnung seines Anlasses, sondern auch sein Mißbrauch für Zwecke, die Menschen erneut zum ohnmächtigen Erleiden gegen sie gerichteter Gewalt verurteilen. Hier genauer hinzusehen und nachwachsenden Generationen die Möglichkeit zu geben, Position nicht nur gegen faschistische Herrschaft, sondern die alltägliche Normalität von Ausbeutung und Unterdrückung im Kapitalismus zu beziehen, wäre nicht die schlechteste Möglichkeit, die angemahnten Lektionen der Geschichte ernst zu nehmen.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/auschwitz-gedenken-man-muss-emotionale-bruecken-schlagen.694.de.html?dram:article_id=309887

[2] http://www.heise.de/tp/artikel/43/43967/1.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/polen-gedenkfeier-in-auschwitz-ohne-putin.795.de.html?dram:article_id=309739

[4] http://www.nachdenkseiten.de/?p=24527

[5] http://www.deutschlandfunk.de/polen-gedenkfeier-in-auschwitz-ohne-putin.795.de.html?dram:article_id=309739

[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Anatoly_Shapiro

[7] http://www.kontakte-kontakty.de/deutsch/ns-opfer/kriegsgefangene/ueber_kriegsgefangene_als_zwangsarbeiter.php

[8] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/01/150127-Bundestag-Gedenken.html;jsessionid=45D6D2D0434AA23B0CBC14AE815A2E6D.2_cid388

[9] http://www.heise.de/tp/artikel/43/43976/1.html

27. Januar 2015


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