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KULTUR/0963: Tödliche Lebensbilanz ... nach Verbrauch Euthanasie (SB)




Das Leben in Heller und Pfennig zu taxieren, ist keine Erfindung der Moderne, treibt in der spätkapitalistischen Gesellschaft allerdings Blüten fremdnütziger Verfügungsgewalt über den individuellen Lebenswillen, die den morbiden Geruch überreifer Grabbeigaben verströmen. Lang ist es her, als im Überschwang industrieller Massenproduktion eine Zukunft voller Wohlstand, Freiheit und Freude verheißen wurde. Die noch in den 1960er Jahren in Wissenschaftsmagazinen propagierte Utopie einer computertechnisch durchorganisierten Sphäre der Produktion und Reproduktion, in der dienstbare Robotergeister dem Menschen jeden Wunsch von den Lippen ablesen und vollautomatisierte Fabriken einen endlosen Strom von Verbrauchsgütern ausstoßen, barg bei aller Kurzschlüssigkeit ihrer Realisierbarkeit die Frage, welches Interesse eigentlich das Leben der Menschen bestimmt. Der Primat kapitalistischer Marktlogik hat die Aussicht darauf, nicht nur für Lohn und Konsum leben zu müssen, durch ein Zwangsverhältnis ersetzt, das keine Alternative zuläßt, als ihm zu genügen. Was sich nicht verwerten läßt, und zwar unabhängig davon, in welchem Verhältnis es zum allgemeinen Gebrauch steht, hat keine Existenzberechtigung.

Um die Idee, es könne im Leben um etwas anderes gehen, als die dem einzelnen gegebene Zeit und Kraft dem nie zu stillenden Hunger der Akkumulation zu opfern, gänzlich aus der Gleichung zwischen Individuum und Gesellschaft zu streichen, wird das Leben selbst auf den Bogen von Gewinn und Verlust gespannt. Über der unhintergehbaren Bilanzierung des Plus und Minus thront ein abstraktes Gesamtinteresse aus Staat und Gesellschaft, aus Kapital und Nation, das in der konkreten Lebenswirklichkeit darüber befindet, wer leben darf und wer sterben muß. Was heute die den meisten Metropolengesellschaften Westeuropas eher ferne Realität der Opfer des globalen Hungers, der europäischen Flüchtlingsabwehr oder des US-amerikanischen Drohnenkriegs darstellt, durchdringt im biopolitischen Kalkül längst die Diskurse und Maßnahmen der sozial- und medizinaladministrativen Organisation der Gesellschaft.

So tritt der US-amerikanische Bioethiker Daniel Callahan in einem Meinungsbeitrag der New York Times [1] allen Hoffnungen auf physische Langlebigkeit mit dem Argument entgegen, daß die Kosten für die medizinische Behandlung alternder Menschen schon jetzt kaum mehr zu tragen seien. Chronische Erkrankungen, die verstärkt im hohen Alter auftreten, und Pflegeleistungen am Ende des Lebens sorgten dafür, daß bereits heute 80 Prozent der Gesundheitskosten auf lediglich 10 Prozent der Bevölkerung entfielen. Zudem besetzten die Älteren bei anwachsender durchschnittlicher Lebenserwartung viel zu lange all die Jobs und Ämter, die die nachwachsenden Generationen benötigten, um sich eine Existenz aufzubauen. Schließlich sei von älteren Menschen nicht zu erwarten, daß sie in ihren verbleibenden Jahren noch Substantielles beizutragen haben, wenn sie dies nicht schon in jüngeren Jahren getan hätten.

Wenn der IT-Konzern Google, der im Mittelpunkt der Kritik Callahans steht, ein Programm zur Erforschung der Möglichkeiten initiiert, die menschliche Lebensspanne zu erweitern und letztendlich Unsterblichkeit anzustreben, dann bietet das in Anbetracht dessen, daß dies unter der Bedingung ökonomischer Rationalisierung absehbar auf dem Rücken all jener Menschen erfolgte, die ihr Leben bereits als Lohnsklaven fristen oder frühzeitig an Mangelzuständen aller Art versterben, allemal Anlaß zur Kritik. Der Bioethiker frönt mit seiner Argumentation jedoch einem generalisierten Sozialdarwinismus, der dem Menschen, dessen Versorgung negativ zu Buche schlägt, das Lebensrecht streitig macht. "Sterben jenseits deiner Zeit", so der Titel seines Beitrags, warnt vor einer Lebensdauer, deren Befristung sozial und nicht biologisch determiniert ist, und stellt damit implizit die Ideologie des Lebenswerts respektive -unwerts in den Mittelpunkt politischer Entscheidungskriterien.

Wie viele Jahre diese Zeit umfaßt, unterliegt den von Callahan angelegten Maßstäben nach dem Primat fremdbestimmter Nützlichkeit. Diese im Rahmen kapitalistischer Vergesellschaftung zu definieren, heißt, das Leben selbst zur Ressource von Produktion und Reproduktion zu machen. In den Niederlanden, wo sich das angebliche Privileg, ärztliche Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können, um im Krankheitsfall keinen schmerzhaften Tod erleiden zu müssen, längst zur akuten Bedrohung aller älteren Menschen ausgewachsen hat, die nicht auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichten möchten, wird der geplante Tod bereits eingefordert [2]. Wer sein Leben "vollständig" gelebt habe, der solle ärztliche Sterbehilfe auch in gesundem Zustand in Anspruch nehmen können, verlangt die Organisation "Of Free Will", die damit bei vielen Bürgern des Landes offene Türen einrennt. Sozialer Druck aus Familie und Gesellschaft, ein angeblich nicht mehr lebenswertes Leben vorzeitig zu beenden, sei kein Problem. Daß sich ältere Menschen tatsächlich dagegen verwahren könnten, wenn von ihnen verlangt wird, ihren Verwandten und der Gesellschaft nicht länger auf der Tasche zu liegen, stimmt schon jetzt nicht. Wer wollte schon einer zum Verstummen gebrachten Stimme lauschen, wenn das Leichentuch jenes Friedens, der den sozialen Krieg nicht beendet, sondern hervorbringt, wie Mehltau auf der krampfhaften Fröhlichkeit der Konsumparadiese liegt!

Auch Callahan behauptet, daß ein Leben schon Jahre vor dem biologischen Tod "erfüllt" sein könnte, es seiner Fortsetzung also nicht bedürfe. Bricht sich die neoliberale Bezichtigung, der Mensch lebe über seine Verhältnisse, wenn er die Privatisierung der Gewinne durch Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen schmälere, erst einmal in der Kapitulation vor der ökonomischen Letztbegründung seiner Existenz Bahn, dann wird er mehr noch als bisher rechenschaftspflichtig für alles, was er tut und nicht tut. Kann er nur durch freiwilliges Ableben zu sich selbst kommen, nachdem er daran gescheitert ist, seine gesellschaftliche Existenz durch produktive Arbeit und kostendeckende Rentabilität zu begründen, dann besteht das Gelingen seines Lebens im Verzicht darauf, jemals gelebt zu haben.

Sich mit Problemen physischer Art auseinanderzusetzen, erschließt dem Menschen Möglichkeiten der Existenz, die das propagierte Ideal körperlicher Funktions- und Leistungsfähigkeit als Instrument fremdnütziger Verfügbarkeit erkennen lassen. Fernab davon, den Zerfall und die Finalität bioorganischen Lebens als Anlaß zur Entwicklung solidarischer Praktiken zu nutzen, wird das Humankapital gegen alles Leben ins Feld marktwirtschaftlicher Konkurrenz geführt, dessen Wirklichkeit aus anderen Quellen individueller Würde und Freude schöpft. Wenn einer der Autoren des belgischen Euthanasiegesetzes, das derzeit zugunsten der aktiven Sterbehilfe an Kindern novelliert werden soll, in einer öffentlichen Debatte bestätigt, daß die Tötung Behinderter ein wesentlicher Zweck der Gesetzgebung des Jahres 2002 war, und vor einem Publikum, in dem Behinderte sitzen, konstatiert, daß ein Mann ohne Arme und Beine selbstverständlich sterben wolle [3], dann bestätigt er, daß es bei der Liberalisierung der Sterbehilfe längst nicht mehr um diejenigen Menschen geht, die sich im Endstadium einer schmerzhaften Krankheit nicht selbst töten können. Es geht um die Durchsetzung einer positiven Norm der Verwertbarkeit, dergegenüber alle Abweichungen, konsequent zuendegedacht, als gesellschaftliche Belastung finanzieller wie auch ästhetischer Art ausgelöscht werden sollen.

So kommt die staatliche Verfügungsgewalt über das individuelle Leben auf den leisen Sohlen vermeintlichen Mitgefühls daher, um die eugenische Gesellschaftsplanung mit der Beseitigung vermeintlich unwerten Lebens zu krönen. Was die Herolde der kapitalistischen Nekropole beim Eindampfen des unauslotbaren Vermögens menschlicher Subjektivität auf ein Defizit in der betriebswirtschaftlichen Bilanz der Gesellschaft nicht wahrhaben wollen, ist der Zorn, der aufkeimt, wenn die Zumutungen, die zeitlebens erlitten wurden, dem alternden Menschen auch noch als schuldhaftes Versagen angelastet werden. Wo die Rechnung gegen den einzelnen aufgemacht und ihm als finales Pflaster gegen alles Aufbegehren das jeden Laut erstickende Ableben aufgenötigt wird, da wird Widerstand zur Lust. Für radikale Kritik an allem, was den Menschen im Stande eines, mit Marx gesprochen, erniedrigten, geknechteten, verlassenen, verächtlichen Wesens hält, gibt es im fortschreitenden Alter immer mehr Anlaß.


Fußnoten:

[1] http://www.nytimes.com/2013/12/01/opinion/sunday/on-dying-after-your-time.html?_r=0

[2] http://www.bioedge.org/index.php/bioethics/bioethics_article/9859

[3] http://edition.cnn.com/2013/11/27/opinion/opinion-anti-euthanasia-kevin-fitzpatrick/

8. Dezember 2013