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KULTUR/0883: Wessen Risiko? Strategien wissenschaftlich-technologischer Herrschaft (SB)



Die Unvorhersehbarkeit der Katastrophe der havarierten Atomreaktoren in Fukushima hat nicht nur den Begriff des "Restrisikos" als Verschleierung eines Kontrollverlustes von unabsehbarer Zerstörungsgewalt entlarvt. Das "Risiko" hat seinen Ursprung nicht zufällig in der Sprache früher Handelskapitalisten, die damit das "Wagnis" ihrer kaufmännischen Unternehmungen zu kalkulieren trachteten. Doch auch in seiner verwissenschaftlichten, mit statistischen Methoden operierenden Form bleibt das Risiko die Unbekannte in der Gleichung zwischen Nutzen und Gefahr. Wie groß auch immer der zu seiner Evaluation herangezogene Datenbestand ist, seine Bestimmung bleibt ein Produkt vergangener Ereignisse und kann schon aufgrund der entgrenzten Zahl an einem Verlauf beteiligter Faktoren niemals auf die Höhe des Ereignishorizontes gelangen. Eine verläßliche Simulation erforderte die Verdopplung des Universums, und da der sie untersuchende Wissenschaftler Bestandteil desselben wäre, unterläge er immer noch einer Beschleunigung, deren Analyse mit dem Mittel des Nachvollzugs notgedrungen ungenügend sein muß.

So muß bei der Risikoabwägung stets vom Eintritt eines Schadensfalls ausgegangen werden, um sich später darüber freuen zu können, daß er nicht erfolgt ist. Die Metapher, daß Gott nicht würfelt, erklärt seinen Plan nicht, an dessen vermeintlich menschenfreundlichen Charakter entsetzte Politiker appellieren, wenn sie die Schuld eigenen Versagens mit dem Stoßgebet ungeschehen machen wollen, daß nun alles in Gottes Hand läge. Der verbreitete Eindruck, man habe es bei der Evaluation von Risiken mit prognostischen Aussagen zu tun, wird auf gegenteilige Weise wahr - gerade die Unabsehbarkeit eines zukünftigen Verlaufs soll hinter dem Mantel einer Beschwichtigung verschwinden, die allein der Durchsetzbarkeit des damit verharmlosten Unterfangens dient.

Die Kalkulation von Risiken produziert in einer Welt der Kosten-Nutzen-Relationen von Großtechnologien dort Legitimation, wo das simple Alltagsverständnis dazu neigt, sich der damit vermeintlich handhabbar gemachten Gefahr lieber nicht auszusetzen. Das Beispiel, jeder Mensch überlege sich schließlich, in welchem Ausmaß er persönliche Gefahren auf sich nimmt oder eben nicht, kann bei einer Methode der Energieerzeugung von potentiell massenvernichtender Wirksamkeit nicht verfangen, weil sie Menschen in Mitleidenschaft ziehen, die nicht die Möglichkeit besitzen, sie zu verhindern. Im Kampf der deutschen Anti-AKW-Bewegung gegen den Bau von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik wurde schon vor über 30 Jahren geltend gemacht, daß es keine vollständige Gewißheit über die Beherrschbarkeit der zivilen Nutzung der Atomenergie geben kann. Während diese Position verifiziert wurde, verbuchen die Fürsprecher der Kernenergie das Risiko des Betriebs von Atomkraftwerken weiterhin auf der Seite der Kosten, die für den Nutzen der herrschenden Produktionsweise anfielen.

Die dabei in Anspruch genommene Logik wissenschaftlich-technischer Vernunft steht zu den sozialen und gesellschaftlichen Faktoren der Risikoevaluation in ausschließendem Verhältnis. So wird die Frage des Nutzens keineswegs dahingehend erweitert, daß er auf Lohnempfänger und Unternehmer in gleicher Weise entfällt. Ganz im Gegenteil, es wird von einem gesamtgesellschaftlichen Interesse an wirtschaftlichem Wachstum ausgegangen, das die Lebensrisiken von Anfang an höchst unterschiedlich verteilt. Das für den neoliberalen Kapitalismus emblematische Bild des kühnen Entrepreneurs, der sein Glück mit hochriskanten Geschäften macht, um die Menschheit damit insgesamt auf eine höhere Stufe ihrer Entwicklung zu katapultieren, findet in den Verwüstungen ganzer Landschaften, in denen menschliches Elend zu biblischer Proportion auswächst, seine die Glorifizierung des Wachstums um jeden Preis adäquate Widerlegung.

Als vermeintliche Restgröße unbestimmbarer Eingriffe in die angeblich selbstregulative Marktlogik dient das Risiko ebenso der Ausflucht in eine zivilreligiöse Schicksalgläubigkeit wie etwas das "Marktversagen", mit dem neoliberale Ökonomen die Gültigkeit ihrer Systemlogik auch dann beanspruchen, wenn sie an ihren Widersprüchen gescheitert ist. Mit der Erwirtschaftung angeblich präzise evaluierter Risiken wird darüber hinweggetäuscht, daß die Legitimation von Herrschaft die Elimination des sozialen Widerspruchs voraussetzt. So ist der Arbeiter, der gesundheitsgefährdende Lohnarbeit verrichten muß, der Schadenswirkung dieser Produktionsweise in sehr viel größerem Ausmaß ausgesetzt als der Besitzer der Produktionsmittel, der dafür einen um so größeren Anteil am erwirtschafteten Gesamtprodukt in Anspruch nimmt. Die Gewinne privatisieren, die Kosten sozialisieren gilt nicht erst im Falle unvorhersehbarer Katastrophen, sondern ist Grundlage der Mehrwertabschöpfung.

Was in entbehrungsreichen Arbeitskämpfen an sozialen Garantien erstritten wurde und eine relative Entschärfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit etablierte, wird mit der Durchsetzung des neoliberalen Marktprimats unter der Prämisse rückgängig gemacht, daß der einzelne Herr seines Schicksals sei, daß er ebenso frei sei, seine Arbeitskraft zu verkaufen, wie daran zugrundezugehen, dies nicht zu tun. Die Bezichtigungslogik der Arbeitsgesellschaft bestraft den Erwerbslosen für den Mangel an Erwerbsarbeit doppelt, durch den Verlust an einer angemessenen Lebensführung und durch die ihm aufgelastete Schuld daran. Dieser Individualisierung gesellschaftlicher Risiken, die etwa in der Einpreisung der jeweiligen Lebensführung in die Prämien der Krankenversicherung ihre disziplinatorische Absicht offenbart, wird mit der Kollektivierung langfristig angelegter und großmaßstäblicher Gefahren wie der der Kernenergie jene Legitimation entzogen, mit der die Unterwerfung menschlicher Autonomie unter die herrschenden Verwertungsbedingungen betrieben wird.

Während dem durch multiple Zwänge fremdbestimmten Subjekt das Primat der Eigenverantwortung aufgelastet wird, kulminieren die technologischen Innovationen großer Konzerne der Energiewirtschaft, der Pharmabranche oder Agroindustrie zu schierer Verantwortungslosigkeit. Kommt es zu größeren Schadensfällen etwa bei der gentechnischen Mutation essentieller Getreide mit dem Ergebnis der Unverträglichkeit als Nahrungsmittel, der Schädigung durch chemisch kontaminierte Lebensmittel oder die "Nebenwirkungen" neuer Medikamente, der Ausbildung immunresistenter Infektionserreger durch Antibiotika in der Fleischproduktion, millionenfachen Wassermangel durch industriellen Raubbau, um nur einige Beispiele von vielen zu nennen, dann wird dies als zwar bedauernswerter, aber unausweichlicher Preis für den menschlichen Fortschritt dargestellt. Wird bekannt, daß die anwachsende Ausbeutungsintensität in Industrie und Landwirtschaft zu einem noch schnelleren körperlichen Verbrauch um so früher versorgungsbedürftiger und sterbender Arbeiter führt, oder ereignet sich ein ökologischer Skandal, weil der Schutz der Umwelt aus Gründen der Kosteneffizienz minimiert wurde, dann wird die Marschmusik des Produktivitätszuwachses etwas leiser gestellt, um die Schlagzahl der Rudersklaven anschließend um so lauter zu erhöhen.

Das Risiko einer Technologie zu bestimmen erfolgte nur dann auf sozial verantwortungsvolle Weise, wenn auch die möglichen Verluste erfaßt würden, die sich als unverwertbare Lebensqualitäten nicht in Heller und Pfennig rechnen lassen, wenn davon betroffene Menschen am unterstellten Nutzen adäquat teilhätten und wenn die Irrelevanz jeder unterstellten Prognose attestiert würde. Wie auch die angesichts der Proteste im Wendland und in Stuttgart von Politkern ausgesprochene Befürchtung, in der Bundesrepublik ließen sich keine industriellen Großprojekte mehr durchsetzen, belegt, ist der Widerstand gegen die Definitionshoheit von Staat und Kapital über das, was der Bevölkerung zugemutet werden soll, längst aktiv. Diesen argumentativ aufzurüsten heißt auch, sich der Parameter dieser Entscheidungsgewalt zu bemächtigen und ihren sozialfeindlichen Charakter auf der Basis materialistischer Gesellschaftskritik zu exponieren. Den Schleier sich wissenschaftlich gebender Objektivität anhand des subjektiven Interesses derer fortzureißen, die die Gesellschaft mit dem Versprechen auf Gewinne ködern wollen, ohne für die Verluste geradezustehen, die sie damit heraufbeschwören, wäre ein wirkmächtiges emanzipatorisches Anliegen. Es löste das Elend der kategorialen Ausflucht des Mensch-Natur-Widerspruchs in der Problemstellung auf, als stoffwechselgebundener Organismus in jedem Fall mit Raubverhältnissen konfrontiert zu sein, deren Destruktivität zu minimieren erforderte, vorbehaltlose Kritik an den herrschenden Vergesellschaftungsformen und Produktionsweisen zu üben, um noch nicht dagewesene Formen der Lebensgestaltung zu entwickeln.

18. März 2011