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KULTUR/0870: Rolle der Medien beim Aufstieg Thilo Sarrazins bleibt unreflektiert (SB)



Der Aufstieg Thilo Sarrazins wäre ohne tätige Beihilfe führender Medien auf diese phänomenale Weise zweifellos nicht möglich gewesen. Daraus zu schließen, daß die breite Zustimmung, auf die seine sozialrassistischen Behauptungen gestoßen sind, ein Medienprodukt wären, greift jedoch zu kurz. Eben diese These vertritt Ralf Geißler im Fachmagazin journalist online [1]. In einer Abhandlung zum Thema "Medienskandale" läßt er sich anhand diverser Beispiele aus den letzten Jahren zutreffend über die Kurzlebigkeit und Folgenlosigkeit der professionellen Skandalisierung von allem und jedem aus. Was ohne weiteres der Jagd nach Klicks, Auflagenzahlen und Einschaltquoten zuzuschreiben ist, stößt im Falle Sarrazins jedoch auf eine gesellschaftliche Disposition, ohne die das nur oberflächlich abgeflaute Spektakel um sein Buch "Deutschland schafft sich ab" nicht zu erklären wäre.

Im Kern produzieren Sarrazins Thesen Legitimation für einen gesellschaftlichen Wandel, mit dem die Reste sozialer Solidarität zugunsten einer sozialdarwinistischen Überlebensdoktrin überwunden werden, mit der die Erschließung ökonomisch bislang ungenutzter menschlicher Autonomie vorangetrieben wird. Was unproduktiv und damit überflüssig sei, wird als inakzeptable Belastung sich seiner gewinnbringenden Verwertung überantwortenden Lebens stigmatisiert. Die Kosten der Versorgung nicht mehr erwerbsarbeitender Menschen sollen reduziert, ihre Ausgrenzung in Lebensformen, für die der Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein nicht mehr zwingend erhoben werden muß, vorbereitet werden.

Grundlage dafür ist die von Sarrazin betriebene Verabsolutierung sozialökonomischer Kalkulationen, mit der Menschen bezichtigt werden, aus ethnisch-religiösen wie erbbiologischen Gründen von vornherein ungeeignet zu sein, zum gesamtgesellschaftlich geforderten Produktivitätsniveau aufzuschließen. Die auch in einigen führenden Blättern bestrittene Relevanz der angeblich wissenschaftlichen Erkenntnisse Sarrazins ist in Anbetracht des Willens, Menschen anhand von ökonomischen Kriterien als erwünscht und unerwünscht zu bewerten, zweitrangig. Es ist das entschiedene Ausgrenzungsverdikt, das die Popularität der Thesen Sarrazins in der breiten Masse, und dessen Anschlußfähigkeit an das herrschende Krisenmanagement, das die ihm aus einflußreichen Kreisen gewährte Unterstützung erklärt. Man weiß es dort zu schätzen, daß die Atomisierung der Gesellschaft anhand einer den einzelnen für seine Malaise haftbar machenden Bezichtigungslogik vorangetrieben wird, die dem Aufbegehren gegen Ausbeutung und Unterdrückung die Sprache nimmt. Das neoliberale Dogma nichtvorhandener gesellschaftlicher Verantwortung für Wohl und Wehe des einzelnen Menschen schlägt durch in eine neofeudale Standesordnung, für deren Legitimation nicht zuletzt die Funktionseliten in den Medien und der PR-Industrie zuständig sind.

Geißlers Behauptung, "in gewisser Weise sind viele Journalisten Sarrazin auf den Leim gegangen", zeugt denn auch von einer Berufsblindheit, mit der die integrative Rolle professioneller Pressevertreter und PR-Berater als Herolde der sie nährenden und privilegierenden Verwertungsordnung unterschlagen wird. Daß Sarrazin die "mediale Skandalisierung seiner Person ... mit gezielten Provokationen selbst herbeigeführt hat", ist eben nur die halbe Wahrheit. Die Bereitschaft der Konzernmedien, diesen als bloße Provokationen weidlich unterschätzten Angriffen auf verbliebene Formen unverwertbaren Lebens Öffentlichkeit zu verschaffen, verbleibt im Dunkeln einer journalistischen Systemlogik, laut der sich Skandale, die keinen aufklärerischen Nutzen zeitigen, aus der marktwirtschaftlichen Attraktivität des Spektakels heraus selbst generieren.

Geißlers Schlußfolgerung, die Debatte um Thilo Sarrazin zeige, "dass mediale Hypes noch größer, schneller und aufgeregter verlaufen können, als es Medienprofis für möglich halten", dokumentiert denn auch, daß der journalistischen Berufsblindheit die nichtvorhandene Bereitschaft zu einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik zugrunde liegt. Nicht erst das schiere Ausmaß der Debatte um Sarrazins Thesen belegt, daß man es mit einer gesellschaftlichen Entwicklung zu tun hat, die den Wellenschlag medialer Selbstreferenzialität längst hinter sich gelassen hat und in die Arena des Sozialkampfes entlassen wurde. Schon die im Herbst 2009 losgebrochene Aufregung um seine in der Zeitschrift Lettre International publizierten sozialrassistischen Verunglimpfungen hat jeden, den es interessiert, wissen lassen, daß Sarrazin den Kapital- und Funktionseliten der Bundesrepublik als Katalysator der Krisenbewältigung hochwillkommen war und ist.

Die Kollaboration der Medien beim Aufstieg Sarrazins zum Volkstribun der neokonservativen Wende wird schon deshalb kaum in aller Öffentlichkeit debattiert, weil Produzenten und Produkt weitgehend identisch sind. Da die etablierten bürgerlichen Parteien mit den Verlagskonzernen und Funkhäusern in einem gut funktionierenden Nutznießverhältnis stehen, ist auch von ihnen nicht zu erwarten, daß sie die mediale Produktion Sarrazins in ihrem apologetischen Charakter, der Inszenierung des Skandals zur Schaffung neuer Akzeptanz, aufdecken. Als Mann der Stunde, wie er in Deutschland schon häufiger wie aus dem Nichts die politische Bühne betrat, um das Land zu retten, ist Sarrazin so austauschbar wie die ihn produzierenden Medien. Keinesfalls beliebig hingegen ist die Kritik, die erforderlich wäre, die Marschrichtung eines in verschärfte Ausbeutung und Unterdrückung führenden Sozialkampfes umzukehren. In dieser Auseinandersetzung spielt das Gros der sogenannten Qualitätsmedien die Rolle von Steigbügelhaltern, deren Eigeninteresse darin besteht, sich an der sozialrassistischen Zurichtung der Gesellschaft auf diese oder jene Weise schadlos zu halten.

Fußnote:

http://www.journalist.de/aktuelles/meldungen/medienskandale-im-zirkus.html

9. November 2010