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KULTUR/0869: Alfred Grossers Gegner im Irrgarten apodiktisch verteidigter Widersprüche (SB)



In der Sprache der neokonservativen Rechten wäre Alfred Grosser das Schimpfwort des "Gutmenschen" vorbehalten. Der deutsch-französische Publizist ist als liberaler Demokrat, Humanist und Citoyen einem Wertekodex verpflichtet, der sich im Zeitalter des ökonomischen Absolutismus wohltuend vom Diktat jener Sachzwanglogik abhebt, mit der mehr über Bord gekippt wird als das Laissez-Faire bourgeoiser Toleranz. Was nur bei schönem Wetter funktioniert und unter dem Druck krisenhafter Eskalation mit Vehemenz gegen sich selbst gekehrt wird, basiert auf einem zivilisatorischen Anspruch, der seine Verträglichkeit desto mehr einbüßt, je mehr er zur Legitimation der ihm inhärenten Hackordnung erhoben wird.

Grossers praktizierte Liberalität gerät anläßlich der Einladung, am 9. November die Festansprache zum Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 in der Frankfurter Paulskirche zu halten, zum Eklat, weil die dezidierte Kritik an der israelischen Regierungspolitik dieses in der Mainmetropole geborenen und mit seinen Eltern 1933 nach Frankreich emigrierten Juden für den Zentralrat der Juden in Deutschland untragbar ist. Diese doktrinäre Engstirnigkeit ist signifikant für einen Verlust an politischer Kritikfähigkeit, die nicht zuletzt die Transformation der demokratischen Zivilgesellschaft in eine nach Kapitalinteressen geordnete Zwangsanstalt befördert. Der niemals zuendegedachte Widerspruch der Zentralratsfunktionäre und ihrer Parteigänger in den großen Medien, zum einen ein lebendiges, jede Wiederholung der Katastrophe Einhalt gebietendes Gedenken an die Judenvernichtung im NS-Regime zu beanspruchen und zum andern den zionistischen Siedlerkolonialismus als konstitutiven Bestandteil Israels zu akzeptieren, soll zu Lasten derjenigen vor seiner produktiven Aufhebung geschützt werden, die ihn beim Namen nennen.

Dies anhand des von Martin Walser in seiner Friedenspreisrede vom Oktober 1998 geprägten Begriffs der "Moralkeule" zu tun, den Grosser auf die in Deutschland geführte Debatte zum Thema Israel anwendete, heißt fatalerweise, sie zu schwingen und dies gleichzeitig zu verurteilen. Grosser anzulasten, er beschädige das Gedenken an die Shoah und die sie vorbereitetende Verfolgung der Juden in Deutschland, indem er eine Kritik an der israelischen Regierungspolitik übt, die von zahlreichen Juden in aller Welt wie in Israel selbst unterschrieben wird, liegt ein Anspruch auf Deutungshoheit zugrunde, der mit den demokratischen Werten, die als unverzichtbar für die Verhinderung massenmörderischer Diktaturen angesehen werden, nicht in Deckung zu bringen ist.

Dementsprechend wird die Geißelung Grossers durch den Zentralrat der Juden in Deutschland mit einer moralischen Apodiktik vollzogen, die in Frage zu stellen den Maximalverdacht des Antisemitismus auf den Plan ruft. Der Vizepräsident des Zentralrats, Dieter Graumann, wirft Grosser "maßlose Feindseligkeit, ja Haß gegen Israel" vor und hält seine Einladung für eine "grandiose Fehlbesetzung". Wenn die Stadt partout wolle, daß der Publizist seine Meinung in der Paulskirche äußere, dann könne er dies "zwischen dem 10. November dieses und dem 8. November nächsten Jahres, also an 364 Tagen im Jahr", tun, aber eben nicht am 9. November.

Deutlicher könnte nicht erklärt werden, daß Gedenken nicht gleich Gedenken, Juden nicht gleich Juden und Opfer nicht gleich Opfer sind. Wer die per Übereignung an einen Staat in ein Guthaben verwandelte Betroffenheit durch den Holocaust nicht in dessen Dienst stellen will, wird von diesem verstoßen, selbst wenn er gar nicht in ihm lebt. Was die Einsicht in die Universalität der Leiderfahrung massenmörderischer Gewalt und ihrer Aufhebung befördern könnte, wird in ein nationalstaatliches Lehen verwandelt, das zu verwalten Aufgabe des Zentralrats sein soll. Muslimen wird unter Mißachtung der sozialen Heterogenität der deutschen Bevölkerung die Bildung von Parallelgesellschaften vorgeworfen, in denen sie als fünfte Kolonne potentiell feindseliger Interessen fungieren. Hierzulande lebenden Juden wird die Gutheißung der israelischen Regierungspolitik, wie sehr auch immer sie gegen den grundgesetzlichen Wertekodex verstößt, als zweite Natur angedichtet. Wer dies zu kritisieren wagt, wird zusammen mit den als unzuverlässig ausgegrenzten Muslimen in die Ecke des ideologischen Feindes gestellt.

Warum das Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht und der sich daran anschließenden Judenvernichtung kein guter Anlaß sein soll, dem Kritiker einer nationalistischen Besatzungsmacht das Wort zu erteilen, erschließt sich aus der Unterstellung, Grosser greife Israel aus niedrigen Motiven an, anstatt der Verpflichtung nachzukommen, ethnisch-religiösen Formen der Unterdrückung entgegenzutreten, wo immer man auf sie trifft. Den umgekehrten Schluß zu ziehen, daß die Opfer des Holocaust auf Grossers Seite ständen, weil sie sich einen auf ihren Gebeinen errichteten Staat als Inbegriff der Negation all dessen wünschten, das zu ihrem Verhängnis geführt hat, ist ein Sakrileg, das sich nur mit als Ideologiekritik getarnter Ideologie verhindern läßt. Indem nichtjüdischen Kritikern der israelischen Annexions- und Kriegspolitik antisemitische und jüdischen Kritikern haßerfüllte Motive angelastet werden, wird ein irrationales Ressentiment unterstellt, das mit der Leugnung des rassistischen Charakters der Judenvernichtung wesensverwandt sei. Wie unverdächtig Grosser einer solchen Verirrung auch nur sein kann, seine Ankämpfen gegen die Instrumentalisierung des Holocaust zur Durchsetzung der israelischen Staatsräson soll eben dies nahelegen.

Als des Gedenkens an die mörderische Verfolgungspraxis des NS-Faschismus unwürdig erachtet zu werden, weil die an den Palästinensern verübte Landnahme als unvereinbar mit dem Vermächtnis jüdischer Opferexistenz ausgewiesen wird, stellt nichts anderes dar als den Appendix nämlicher Staatsräson. Diese korrespondiert aufs beste mit den imperialistischen Praktiken der NATO-Staaten im Nahen und Mittleren Osten, wie deren kaum verhohlene Gutheißung des israelischen Bombenkriegs gegen den Libanon 2006 und des israelischen Überfalls auf Gaza 2008/2009 belegt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die massive militärische und diplomatische Unterstützung eines Staates beizubehalten, obwohl dieser sich zahlreiche Verstöße gegen UN-Resolutionen und internationales Recht hat zuschulde kommen lassen, ist einem machtpolitischen Opportunismus geschuldet, dem das humanistische Credo eines Grosser vollständig zuwiderläuft. Wenn dieser dem Anspruch auf Versöhnung der Konfliktparteien dadurch gerecht wird, daß er nicht schweigt, wenn der Massenmord an den europäischen Juden zum Vorwand israelischer Gewaltanwendung gerät, dann wird ihm der Haß derjenigen zum Vorwurf gemacht, die er bei diesem Geschäft gestört hat.

Der israelische Präsident Shimon Peres hat am diesjährigen Holocaust-Gedenktag ein Bekenntnis zum Frieden abgelegt, das angesichts seiner Praxis als langjähriger Regierungspolitiker Israels wie des Überfall auf Gaza ein Jahr zuvor nicht unglaubwürdiger sein könnte. Um so folgerichtiger wurde der Dissens dreier Parlamentarierinnen der Linksfraktion, die bei den stehenden Ovationen nach der Rede des israelischen Präsidenten sitzenblieben, weil sie seine Behauptung, daß der Iran für Juden heute eine ebensogroße Bedrohung darstelle wie Nazideutschland, nicht unterstützen wollten, in die Nähe des Antisemitismus gerückt. In der Lesart der meisten Medien hat nicht Peres den Holocaust relativiert, sondern die Politikerinnen, die sich beim eigentlichen Gedenken selbstverständlich erhoben hatten. Je mehr der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit israelischer Regierungspolitik an die Oberfläche drängt, desto größer ist der kompensatorische Bedarf, ihre angeschlagene moralische Glaubwürdigkeit durch Ablenkungsmanöver zu stützen.

Die mit einem NS-Vergleich, den sich Politiker und Kommentatoren, denen er im Falle des angespannten Verhältnisses zwischen Israel und dem Iran wie von selbst über die Lippen geht, bei Anwendung auf das eindeutige Gewaltverhältnis zwischen Israelis und Palästinensern aufs schärfste verbieten, eingeforderte Waffenbrüderschaft in Frage zu stellen, wie Grosser es tut, erfüllt dessen Gegner im Zentralrat der Juden in Deutschland aus gutem Grund mit Sorge. Sie müssen befürchten, daß die weitere Beschädigung des Ansehens Israels zu einem Bedeutungsverlust des jüdischen Staats führt, der diesen eines Tages in eine außenpolitische Isolation führen könnte, die seine regionale Hegemonie wirksam in Frage stellt. Gerade weil sie die Unterstützung Israels durch die Bundesrepublik trotz der offensichtlichen Verstöße seiner Regierung gegen jene Werte verteidigen, deren Einhaltung für die internationalen Beziehungen Deutschlands verbindlich sein sollen, wissen sie, daß ein schwaches Israel von der gleichen Bundesregierung im Stich gelassen würde, deren Kanzlerin seinen Schutz zur deutschen Staatsräson erklärt hat. Gerade weil den Bundesbürgern ein irrationales, gegen die ihnen gleichzeitig gepredigten Werte verstoßendes Bekenntnis zu Israel abverlangt wird, begünstigte ein Nachlassen der apodiktischen Rechtfertigung dieses Staates in Politik und Medien den massiven Umschwung in der öffentlichen Meinung zu ihm.

Wenn also der Zentralrat der Juden in Deutschland, wie es in der Berichterstattung zur Rede Grossers heißt, "zähneknirschend" an dieser Veranstaltung teilnehmen wird, anstatt ihr aus Protest fernzubleiben, dann zeigt sich daran, daß es vor allem um die von ihm beanspruchte Diskurshoheit geht, die das Verhältnis beider Staaten bestimmt. Kippt das durch unlösbare Widersprüche beschädigte Dogma von der zwingenden Kausalität zwischen jüdischem Opferschicksal und zionistischer Landnahme, dann droht das Pendel umzuschwingen. Nicht zuletzt die deutschen Eliten könnten entdecken, daß ihren imperialistischen Ambitionen auch damit aufgeholfen werden könnte, daß sie gegen Israel definiert würden.

Grossers Eintreten für eine durch die Anerkennung der legitimen Forderungen der Palästinenser bewirkte Lösung des Nahostkonflikts verkörpert konträr zu dem ihm angelasteten Extrem des Hasses auf Israel die Position einer praktizierbaren Annäherung der Konfliktparteien, die eine solche Eskalation verhinderte. Das Eintreten für eine menschlich vernünftige Politik droht allerdings nicht nur an der Weigerung der israelischen Siedler im Westjordanland, widerrechtlich annektierte Gebiete zu verlassen oder sich in einen gemeinsamen Staat aller in Palästina und Israel lebenden Menschen einzufügen, zu scheitern. Völlig unbearbeitet sind die sozialen Antagonismen der israelischen wie palästinensischen Gesellschaft sowie das steile sozialökonomische Gefälle zwischen beiden Gemeinwesen. Daß das Problem der kapitalistischen Vergesellschaftung in diesem Konflikt kaum thematisiert, sondern selbstredend zur Grundlage jedes künftigen Entwicklungsmodells erklärt wird, läßt ahnen, wie groß die vor einer tragfähigen Konfliktbewältigung zu meisternden Hindernisse sind.

siehe dazu auch: Schattenblick -> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH REZENSION/497: Alfred Grosser - Von Auschwitz nach Jerusalem (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar497.html

8. November 2010