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KULTUR/0834: Kampfansage eines Sozialtechnokraten ... Raub und Gewalt als Kernkompetenz (SB)



"Die Verlierer seid ihr!" tönte der liberale Trendforscher und Stadtsoziologe Joel Kotkin jüngst in der Wochenzeitung Die Zeit. Die USA blieben, allen Unkenrufen und ökonomischen Verwerfungen zum Trotz, "das wohlhabendste, lebendigste und ideenreichste Land der Welt, und ihr in Europa habt das Nachsehen". Bei der angeblichen "Vision", so die Einleitung des Beitrags auf Zeit Online, handelt es sich trotz des Erscheinungsdatums am 1. April nicht um einen Scherz, sondern eine Kampfansage. Kotkins Vergleich zwischen dem US-amerikanischen und dem europäischen Wirtschaftssystem arbeitet sich an hinlänglich bekannten Verallgemeinerungen über die Dynamik und Leistungsfähigkeit des ersteren und die angeblich überregulierten, etatistischen Strukturen des letzteren ab, um anhand von "zwei Faktoren, die in den kommenden Jahrzehnten die unterschiedlichen Schicksale Europas, der USA und Ostasiens bestimmen werden: Kultur und Demografie", schon einmal den Sieg des eigenen Gesellschaftsmodells zu feiern.

Die demografische Entwicklung der USA falle deutlich günstiger für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung aus, weil die durchschnittliche Alterung der Bevölkerung dort um einiges langsamer verlaufe als in Europa. In den USA lege insbesondere die Altersgruppe zwischen 15 und 44 Jahren weit mehr zu als in der EU und auch in China, zudem gelinge die Integration der Migranten besser als in Europa, so Kotkin in offensichtlicher Unkenntnis der hohen Rate an Working Poor in der rasch wachsenden Minderheit der Hispanics. Bis 2050 zeichneten sich dadurch erhebliche Produktivitäts- und Innovationsvorteile für die USA ab, schreibt der Autor, der seine Zukunftsentwürfe unter anderem beim liberalen Think Tank New America Foundation verbreitet:

"Amerikas so heterogene Bevölkerung der Zukunft wird Ideen, Innovationen und neue Formen des kulturellen Ausdrucks hervorbringen. Sie wird die Fabriken, Farmen und Labors des 21. Jahrhunderts betreiben. Sie wird die wachsende Zahl von Kindern ausbilden und die wachsende Zahl von Alten pflegen. Die Konsequenzen:

Die USA behalten ihre militärische Vorherrschaft. Eine schlagkräftige Armee bedarf einer jungen Bevölkerung. Doch wahrscheinlich macht das Land nicht viel Gebrauch von dieser Armee. Die Kriege in Vietnam, im Irak und in Afghanistan haben die Grenzen dieser Art von Superpower gezeigt.

Die USA werden ihren Einfluss durch technologische und kulturelle Innovationen geltend machen, gespeist von ihrer pluralistischen Gesellschaft. Das verspricht mehr Erfolg in einer Welt, in der sich Technologie schnell ausbreitet, in der der wirtschaftliche Wettbewerb hart ist und die Kriegsführung unkonventioneller wird."
(www.zeit.de, 01.04.2010)

Kotkins wohlwollende Ansicht zur Aggressionsbereitschaft künftiger US-Regierungen schützt eine Blauäugigkeit vor, die an der intellektuellen Leistungsfähigkeit seiner Zunft zweifeln läßt. Der Verweis auf die in Zukunft "unkonventionellere" Kriegführung - man denke etwa an die Doktrin des Prompt Global Strike, zu jeder Zeit überall auf dem Planeten mögliche Raketenangriffe auf feindliche Einrichtungen, oder der extralegalen Hinrichtungen angeblicher Terroristen durch von ferngesteuerten Drohnen abgefeuerte Lenkwaffen - läßt ahnen, das Kotkin kein solches Unschuldslamm ist, wie er glauben macht. Trumpfkarte US-amerikanischer Globalhegemonie wird die allen anderen Staaten weit überlegene Projektionsfähigkeit militärischer Macht bleiben, das gilt in desto größerem Maße, als zivile Fähigkeiten, die über das Rekrutieren neuer Arbeitsmigranten aus verarmten Nachbarstaaten und das Hochtreiben der Geburtenrate durch christlich-fundamentalistische Abtreibungsgegner hinausgehen, verfallen.

So demonstriert der Gastautor der Zeit mit der Einteilung der Welt in Gewinner und Verlierer, worauf es in seinem Konzept der unverminderten Nationenkonkurrenz in erster Linie ankommt. Die von ihm als schlagender Vorteil gepriesene Vitalität der eigenen Jugend soll vor allem der gewaltsamen Durchsetzung eigener Interessen zu Lasten anderer dienen. Das belegen - da erweist sich Kotkins Triumphalismus als primär den Klassenantagonismus verschärfendes Regulationsprinzip - die horrenden Sozialindikatoren und prekären Bruchlinien der US-Gesellschaft: Fast 40 Millionen Anspruchsberechtigte für staatliche Lebensmittelhilfen im letzten Jahr, rund sechs Millionen Haushalte, die über keinerlei Einkommen verfügen, weil sie keinerlei staatliche Hilfe in Anspruch nehmen können, Millionen illegal in den USA lebender Arbeitsmigranten, die im Notfall auf sich selbst angewiesen sind, ein am Boden liegendes öffentliches Bildungssystem, das reihenweise Analphabeten produziert, eine extrem polarisierte Hochschullandschaft, in der Jugendliche, deren Eltern keine teure Privatuniversität bezahlen können, sich die Aussicht auf ein Leben Wohlstand abschminken können, ein weiterhin sozial ungerechtes Gesundheitswesen sowie harte innergesellschaftliche Fronten zwischen reaktionären religiösen Fanatikern und Rassisten auf der einen und immer umfangreicheren ethnischen Minderheiten auf der anderen Seite.

Kotkins Argument vom gelingenden Aufwuchs des Personals der Streitkräfte basiert auf dieser sozialen Spaltung, verpflichten sich doch angesichts der realen Möglichkeit, in einem der permanent geführten Kriege ums Leben zu kommen, vor allem Angehörige unterprivilegierter Schichten für eine Dienstzeit beim Militär. Die im Irakkrieg praktizierte Methode, lateinamerikanische Einwanderer mit dem Versprechen zu ködern, die US-Staatsbürgerschaft im Tausch gegen die Beteiligung an einem Kriegseinsatz zu gewähren, ist nur eine Facette der sozialrepressiven Rekrutierungspolitik der US-Streitkräfte.

Der nicht zuletzt von der US-Kulturindustrie verstärkte Militarismus der US-Gesellschaft produziert Befehlsempfänger und keine souveränen und emanzipierten Persönlichkeiten. Die überproportional hohen Kriminalitäts-, Verelendungs- und Suizidraten unter US-Kriegsveteranen verschärfen die sozialen Probleme, die aus der Notwendigkeit resultieren, das neoliberale Akkumulationsmodell gewaltsam in aller Welt durchzusetzen. Zu der wachsenden Zahl von Alten, für die sich laut Kotkin stets genügend Pfleger finden lassen, was die hochgradige Altersarmut und die Ausdünnung staatlicher Versorgungsleistunge nicht eben wahrscheinlich erscheinen läßt, gesellen sich immer mehr Kriegsversehrte. Dank der Fortschritte bei der medizinischen Versorgung auf dem Gefechtsfeld und verbesserter Schutzbekleidungen wurde zwar die Zahl der Gefallenen gesenkt, doch dementsprechend mehr Veteranen werden noch viele Jahrzehnte vom Staat versorgt werden müssen.

Die exorbitante Staatschuld der USA wäre, wenn das Land nicht als global expansiver Gewaltakteur über die wichtigste, letztinstanzliche Gewähr eigener Zahlungsfähigkeit verfügte, längst aufgeflogen. Es gibt keinen Grund, Kotkins Räsonieren über die im Vergleich zu den USA weniger erfolgreich agierende EU in Verteidigung angeblicher europäischer Tugenden zu widerlegen, handelt es sich beim transatlantischen Bündnis doch in erster Linie um eine imperialistische Zweckgemeinschaft, deren inneres Konfliktpotential geringer wiegt als die Vorteile gemeinsamer Handlungsfähigkeit. Es bedarf allerdings schon eines Zeithorizonts von 40 Jahren, um in Anbetracht des postindustriellen Charakters der US-Volkswirtschaft und des etwa gegenüber China und Indien zusehends schwindenden Vorteils des mikroelektronischen Innovationsvorsprungs zu behaupten, das "robuste Bevölkerungswachstum in den USA und der auch dadurch zu erwartende nächste Wirtschaftsboom" würde das Land zum Besseren transformieren.

Ebensowenig wird die von Kotkin beschworene Verlegung der eigenen Produktivität auf "umweltfreundliche Technologie und Infrastruktur" die abnehmende Fähigkeit des Kapitalismus, die Reproduktion seiner Gesellschaften zu gewährleisten, umkehren. Der Wandel von der klassischen Güterproduktion des Fordismus zum "kognitiven Kapitalismus" der sogenannten Wissensgesellschaft hat vor allem zur Folge, daß die Massenbasis lohnabhängiger Erwerbsarbeit ersatzlos verschwindet. Während die Rationalisierungseffekte in Produktion und Verwaltung längst nicht ausgeschöpft sind, entstehen verhältnismäßig weniger neue Arbeitsplätze in der IKT-Industrie und den ihr zuarbeitenden Dienstleistungssektoren, als daß es noch eine gesellschaftliche Grundlage für Vollbeschäftigung unter angemessener Entlohnung gäbe. Ob nun zwei Drittel oder vier Fünftel der arbeitsfähigen Bevölkerungen in postindustriellen Gesellschaften für die Produktion überflüssig werden, in jedem Fall warten soziale Konflikte auf die hochproduktiven Gesellschaften Westeuropas und Nordamerikas, die eine "Vision" wie die Kotkins als bloßes Wunschdenken zur Beschwichtigung des Publikums erscheinen lassen.

Es kann daher nicht erstaunen, wenn der Trendforscher als Fazit zu den im Jahr 2050 angeblich erneuerten USA die Kontinuität uramerikanischer Werte, die "Ablehnung des Fatalismus und der hierarchischen Erstarrung, die man in den meisten älteren Gesellschaften findet", beschwört. Wie vergleichbare Zukunftsentwürfe aus US-amerikanischen Ideenschmieden lebt auch dieser Versuch vom Pathos einer Selbstverherrlichung, die am besten in PR-Agenturen und Marketingfirmen aufgehoben ist. Was das Anpreisen von Waren und die Emphatie der Ideologieproduktion betrifft, kann der US-Kultur zweifel- und neidlos erheblicher Einfallsreichtum attestiert werden. So hat die Glorifizierung der eigenen Gründungsmythen Generationen von US-Bürgern auf das bescheidene Glück festgeschrieben, mit erhebendem Gefühl die blauweißrote Flagge vor dem Haus aufziehen zu dürfen, um eine Welt mit der Manifest Destiny einer angeblich unverzichtbaren Nation zu beglücken, die nicht danach gefragt hat, dem Werteuniversalismus des freien Marktes unterworfen zu werden.

Wo dieser keine Verwertungsmöglichkeiten mehr findet, weil bereits alles, was für das Kapital befreit werden kann, rückstandslos eingespeist wurde, bleiben Einöden der Vernachlässigung und Unwirtlichkeit. Geht es darum, täglich satt zu werden, über angemessene Wohnverhältnisse zu verfügen, im Fernsehen nicht systematisch verdummt zu werden, dann ist jeder seines Glückes eigener Schmied. Die programmatische Entsolidarisierung des US-Liberalismus, den der Bevölkerungsstratege Kotkin mit sozialtechnokratischer Logik als gar nicht so staatsfernes Regulativ propagiert, kennt nur Verlierer und Gewinner. Den andern niederzumachen, um sich selbst ein gutes Gefühl zu verschaffen, ist eine Rezeptur für die Fortsetzung einer Lebensweise, die auf Raub und Gewalt basiert, den zwei tatsächlich signifikanten Produktivitätskriterien dieses Akkumulationsregimes.

12. April 2010