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KULTUR/0815: Zivilreligion Fußball ... Sinnstiftung zu jeder Gelegenheit (SB)



Die nach dem Freitod des Nationaltorhüters Robert Enke zu vernehmende Erklärung, der Sportler sei in den Selbstmord geflüchtet, weil er seine Depression nicht öffentlich habe machen können, demonstriert, daß er guten Grund gehabt hat, dies nicht zu tun. Schnelldiagnosen, die vor allem das berufständische Interesse der Journalisten am Überproduzieren jedes emotional verwertbaren Ereignisses reflektieren, und eine Massenemphase, deren konkreter Anlaß in irrationale Dimensionen getrieben wird, lassen erkennen, daß die mediale Öffentlichkeit der schlechteste Ort ist, um ein derartiges Problem zu bewältigen. Was auch immer für den Tod Robert Enkes verantwortlich war, die öffentlich zelebrierte Betroffenheit dreht sich, wie stets bei Trauerfällen, um die Befindlichkeit der Trauernden und nicht der Betrauerten.

Die hochgradige Emotionalität, mit der dieses Ereignis begangen wird, hat mit dem Menschen Enke nichts zu tun, sondern ist ausschließlich auf seine Rolle im Unterhaltungsbetrieb des Profifußballs gerichtet. Wäre es anders, dann böten die zahllosen Tragödien, bei denen Menschen an ihrer Einsamkeit oder ihren materiellen Problemen zugrunde gehen, keinen geringeren Anlaß zum Innehalten und Besinnen. Die alltägliche Ignoranz, mit denen Personen konfrontiert werden, deren existentielle Probleme lebensbedrohlichen Charakter annehmen, die Feindseligkeit, mit der individuelles Versagen quittiert wird, signalisieren unverhohlen, daß der andere nur dann willkommen ist, wenn er erfolgreich ist und gute Stimmung verbreitet.

Nun zu predigen, daß man auch in den dunklen Stunden des Lebens Gehör finden müsse, appelliert an ein Mitgefühl, das schneller in Flucht umschlägt, als es bedarf, einem von Problemen umlagerten Menschen richtig zuzuhören. Die von Kirche und Politik propagierte Moral, für den anderen da zu sein, hat mit selbstverständlicher praktischer Solidarität nichts zu tun. Wo es der besonderen Aufforderung bedarf, um das zerrissene Gewebe des Sozialen zu flicken, hat man bereits vor dem Schicksal kapituliert, in das das vermeintlich Unausweichliche entsorgt wird. Wo tätige Hilfe nicht aus der simplen Einsicht erfolgt, daß der Schmerz des anderen vom eigenen ununterscheidbar ist, wird mit der Währung des Guten, die wie jeder sozialer Tauschhandel durch die Endlichkeit gegeneinander abgeglichener Ressourcen begrenzt ist, gewuchert.

Eintreten für den andern in einer Verbindlichkeit, die keinen Bruch akzeptiert und damit an den Kern des Problems der Einsamkeit rührt, steht im Widerspruch zu allem, was den Menschen spaltbar und beherrschbar macht. Diese Grenze darf nicht als solche markiert, geschweige denn überschritten werden, wäre damit doch der Keim eines Zusammenhalts gelegt, der Herrschaft unmöglich machte.

Nicht das alltägliche Elend provoziert jene kollektive Betroffenheit, die mit dem Trauerkult um Prinzessin Diana staatstragenden Charakter angenommen hat. Es ist die besondere Konstellation des Scheiterns in einer privilegierten Situation, die Bestürzung hervorruft, geht man doch gemeinhin davon aus, daß sich nur Menschen umbringen, die mit einer physisch oder ökonomisch aussichtslosen Lebenslage konfrontiert sind. Der Kontrast von öffentlichem Starruhm und privatem Elend bewegt die Gemüter, weil die soziale Ordnung symbolisch egalisiert wird. Die abgehobene Sphäre über die Masse herausgewachsener Heroen wird in die begreifbare Dimension kreatürlicher Endlichkeit zurückgeholt, so daß die eigene Bescheidenheit mit Beschwichtigungen wie "Geld allein macht auch nicht glücklich" verdaulich gemacht werden kann. Indem das Schicksal der oberen Zehntausend im Guten wie im Schlechten zum Märchen verklärt und als Projektionsfläche eigener Wünsche und Hoffnungen adressiert wird, wird Herrschaft emotional reguliert, anstatt tatkräftig aufgehoben.

Wenn sich für einen verstorbenen Fußballspieler 35.000 Menschen mobilisieren lassen, um seinen Tod mit einer Anteilnahme zu betrauern, die dem namenlosen Elend in entsprechendem Maß entzogen wird, dann dokumentiert dies den zivilreligiösen Charakter des Zuschauersports im allgemeinen und des Fußballs im besonderen. An der massiven medialen Reaktion auf den Freitod Robert Enkes zeigt sich, wie unverzichtbar dieses sinn- und identitätsstiftende Element in einer Gesellschaft ist, deren Daseinszweck sich im perspektivisch unendlichen Wechsel von Produktion und Reproduktion erschöpft. Wo die Utopie einer Not und Raub überwindenden Egalität Gesellschaft ins Reich des Bösen verbannt und von der Ideologie des am Scheitern des anderen bemessenen Eigennutzes abgelöst wird, bedarf es gemeinsam zelebrierter Menschlichkeit, um die im Konkurrenzkampf erlittenen Verluste systemstabilisierend sozialisieren zu können.

Wenn nun darüber debattiert wird, ob der Leistungssport Enke in den Tod getrieben habe, sollte man zwecks wirksamer Aufklärung gleich auf die ihm zugrundeliegende, alle Lebens- und Arbeitsbereiche durchdringende Leistungsdoktrin zu sprechen kommen. "Leistung muß sich wieder lohnen" - Parolen wie diese stutzen menschlichen Wildwuchs in doppelter Weise auf das Format pflegeleichter Beherrschbarkeit zurecht. Der Imperativ der Leistung ist Ausdruck fremden Interesses, erbringt der Mensch die ihm gemäße Arbeit doch ganz ohne Bemessung und Vergleich. Der in Aussicht gestellte Lohn ist der Rest von dem, das ihm genommen wurde, um ihn über notgedrungene Abhängigkeit verfügbar zu machen.

Die Gladiatoren des Fußballspektakels sind ihrem beruflichen Auftrag in besonderer Weise verpflichtet, weil dieses Surrogat religiöser Sinnstiftung unentbehrlich für den Zusammenhalt der säkularen Zivilgesellschaft ist. Selbst in weit schlechter bezahlten Berufen wird der Angestellte dazu angehalten, sich der angestrebten Präsentation seines Unternehmens gemäß zu verhalten, warum also sollten Auftritte von Sportstars künftig den Charakter psychotherapeutischer Sitzungen annehmen? Die strikte Reglementierung der Helden des Zuschauersports ist kein Übel, das sich beliebig abstellen läßt, sondern wesentliches Element ihres Vorbildcharakters. Die am Beispiel Enkes beklagte Aufspaltung von öffentlichem Auftritt und privater Not wäre nur dadurch aufzuheben, daß dem Leistungssport sein sozialdarwinistischer Zahn gezogen wird. Da spektakulär inszenierte Wettkämpfe der Vitalfaktor dieses Unterhaltungsgeschäfts sind, ist es keineswegs nur Sache der Sportler oder Funktionäre, der Zurichtung des Sportstars auf eine Folie fremder Ansprüche und Erwartungen ein Ende zu setzen.

12. November 2009