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KULTUR/0788: Selbstbestimmt genießen ... eine subversive Praxis (SB)



Man könne gar nicht drastisch genug vor den Gefahren des Rauchens warnen, meint die Bundesärztekammer zu dem Vorstoß der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Sabine Bätzing, obligatorische "Schockbilder" auf Zigarettenpackungen anzubringen. Warum überhaupt noch warnen und nicht gleich verbieten, kann die Frage angesichts derart maximalistischer Forderungen nur lauten. Und wenn man schon dabei ist, warum dann nicht die vielen anderen Gefahren, denen Menschen durch die industrielle Umweltverschmutzung, die Arbeitsbelastung und das Verkehrswesen ausgesetzt sind, eliminieren?

Es ist noch nicht ausgemacht, daß das Durchschnittsalter dann über 100 Jahren läge oder überhaupt zunehmen würde, ist Leben doch so oder so tödlich und neigt der Mensch gerade im Alter zu Gebrechen aller Art. Zudem besteht am weiteren Ausbau der "Überalterung" kein Interesse, basieren die demografischen Hiobsbotschaften doch auf einem Kalkül ökonomischer Verwertbarkeit, demgegenüber der Mensch desto mehr Schuldner, sprich Schuldiger, ist, je weniger er sich ausbeuten und unterdrücken läßt.

Gegenreguliert wird bereits durch die Verknappung essentieller Lebensvoraussetzungen bei den Sozialtransfers, die im Zeichen der Wirtschaftskrise weiter abgebaut werden sollen. Rauchen soll der Hartz IV-Empfänger natürlich schon deshalb nicht, weil sein Notbudget dies eigentlich gar nicht zuläßt. Aber auch ohne Bier und Zigaretten gilt für ihn, daß Armut zu einem vorzeitigen Tod führen kann, und zwar ganz ohne Warnhinweis.

Auch die nervliche und emotionale Belastung, der sich Menschen aussetzen, wenn sie ihrer Pflicht zur biologischen Reproduktion der Gesellschaft nachkommen, kann bisweilen regelrecht krankmachen. Kinder sind nicht nur ein Armutsrisiko, sie legen den Bundesbürger auch auf kleinfamiliäre Strukturen fest, in denen es sich immer schlechter leben, je weniger sich ihr einengender und fremdbestimmter Charakter ignorieren läßt. Der zur Regel gewordene zyklische Wechsel des Ehepartners, Familientragödien mit blutigem Ausgang und die nach wie vor gegebene soziale Benachteiligung von Müttern laden nicht gerade zu dieser Lebensperspektive ein. Von Warnhinweisen sieht das Bundesfamilienministerium dennoch ab, ist der dank hohem Anteil an elterlicher Eigenleistung kostengünstig herangezogene Nachwuchs für Krieg und Produktion doch unentbehrlich.

Die Idee, den Raucher in sein vermeintliches Glück zu schocken, hebt auf ein antiemanzipatorisches Menschenbild ab, das repressive Verhältnisse antizipiert. Wo nicht mehr zugestanden wird, daß der einzelne weiß, was gut oder schlecht für ihn ist, muß seine Lebensführung letztlich minutiös gesteuert und kontrolliert werden. Es gibt so viele absehbare und unabsehbare Gefahren, die ihm zum Verhängnis werden können, daß ein Genußmittelkonsum mit nachteiligen Folgen für den Organismus wohl kaum Anlaß zu einer Manipulation sein kann, die an Umerziehungsmethoden in totalitären Staaten erinnert. Steigerungen bis zum Shock and Awe der US-Bomber im Irak, mit denen die Einsicht in die Nutzlosigkeit des Widerstands auf kriegspädagogische Weise gefördert werden sollte, sind nicht nur denkbar, sie werden praktiziert.

Der Elektroschocktherapie für psychisch auffällig Menschen entsprechen diverse, nicht unter allen Umständen "nichttödliche" Waffen, mit denen Gefangenen Zucht und Ordnung beigebracht wird. Der Abwehr radikaler NATO-Gegner mit Tränengas, Schockgranaten und Gummigeschossen entspricht der Einsatz schwerer Waffen bei der Befriedung Afghanistans, und der gezielte Todesschuß für Terrorverdächtige wird nicht nur in Palästina praktiziert. All das sind Variationen einer paternalistischen Kultur der Gängelung und Einschüchterung, bei denen übereinstimmend von der Funktionslogik eines reiz- und reaktionsdeterminierten Bioorganismmus ausgegangen wird, mit der sich jedes Verhalten konditionieren läßt.

In diesem Sinne kontraproduktiv wäre die schockierende Offenlegung herrschender Gewaltverhältnisse bis hin zu den Millionen Toten, die der kapitalistischen Verwertungslogik zum Opfer fallen, um in den reichen Metropolengesellschaften den Phänotypus neokonservativer Anthropologie heranzüchten zu können. Dem mit Verführung und Abschreckung herrschenden Konsumismus ist alles, was den Menschen dazu befähigt, sich für und wider welches materielle Gift oder geistige Abenteuer auch immer zu entscheiden, gerade weil er alle Freiheit der Welt hat, so sehr zuwider, daß diese Möglichkeit vor lauter Gefahrenhinweisen kaum mehr auszumachen ist.

2. Juni 2009