Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KULTUR/0781: Columbine und folgende ... Faszinosum des Unbegreiflichen (SB)



Auch zehn Jahre nach dem Massaker an der Columbine High School in Littleton, Colorado, das als Initialzündung einer Vielzahl ähnlicher Gewaltausbrüche gilt, beherrscht der Tenor des Unbegreiflichen das Feld der Debatte. Wie bereits im Falle von Winnenden durchexerziert, werden wahlweise die Verfügbarkeit von Schußwaffen, gewalttätige Videospiele, das Mobbing unter Schülern oder schlichte Psychopathologie als Faktoren diskutiert, die zu der Tragödie geführt hätten. Insbesondere letztere Theorie zur Genese der Tat gewinnt zusehends an Anhängern, soll Eric Harris doch ein eiskalter, menschenfeindlicher Psychopath gewesen sein, der seinen Mittäter Dylan Klebold mit diabolischer Energie dominiert hätte und von einer kriminellen Karriere durch nichts abzubringen gewesen wäre.

Diese von US-amerikanischen Psychologen und FBI-Experten vertretene Behauptung vervollständigt den reaktionären Charakter einer Analyse, die von gesellschaftlich verankerten Gewaltverhältnissen nichts wissen will. Sie stellt auf erbbiologische Theorien ab, laut denen Kriminalität genetisch verankert ist und ihr nur durch eine präventive Selektion entsprechender Konstitutionen zu Leibe gerückt werden könnte. Die inmitten gutbürgerlicher Lebenswelten ausbrechende Gewalt wird mit einer affirmativen Anthropologie des Bösen zivilreligiös überhöht, so daß weiterführende Fragen obsolet werden.

Vermieden wird der Blick auf die hochgradige Militarisierung der US-Gesellschaft, die nicht nur schwer bewaffnet ist, sondern deren Streitkräfte am 20. April 1999 Bombenangriffe auf Jugoslawien flogen. Auch wenn sich hier keine ursächliche Verbindung ziehen läßt, sollte die Heroisierung US-amerikanischer Kriegführung nicht völlig unbeachtet bleiben, wenn Harris und Klebold eine Menschenverachtung unterstellt wird, die sich angeblich mit einer möglichst großen Zahl von Opfern in ihrer Suprematie beweisen sollte.

Wie auch immer ihre persönlichen Motive waren, so fand die Tat im Herzen einer Gesellschaft statt, die von extremen Gegenläufigkeiten sozialer Art gezeichnet ist. Die klare Motivlage, die man in Fällen, bei denen ehemalige Angestellte an ihren früheren Kollegen und Chefs blutige Rache nehmen, zu erkennen meint, ist im Falle Columbines und weiterer Schulschießereien kaum verborgener. Es bedarf keiner sozialen Delinquenz, um Menschen zum Äußersten zu treiben, sondern lediglich der alltäglichen Ignoranz. Die extreme Individualisierung, die jeden zum vermeintlichen Herren über sein Leben macht, während die permanente Einforderung von Leistung und Anpassung im beruflichen wie persönlichen Umfeld das Gegenteil bewirkt, resultieren in Zwangslagen von einer Komplexität, deren fremdbestimmter Charakter sich nur durch eine eindeutige Positionierung negieren läßt.

Bildungseinrichtungen in kapitalistischen Gesellschaften fungieren als Labors einer sozialdarwinistischen Zurichtung, in denen die Verachtung des Schwachen kultiviert und das Gegenteil behauptet wird. Der Konflikt zwischen gesellschaftlicher Praxis und ethischem Anspruch wird so eindeutig zugunsten des Überlebens zu Lasten des anderen gelöst, daß der humanistische Wertekonsens zum Ausweis zu überwindender Schwäche degeneriert. Der ultimative Akt der Tötung eines anderen Menschen wird von den Regulativen gesellschaftlicher Reproduktion geächtet, um im Ausnahmezustand der sozialen und kriegerischen Eskalation um so mehr verherrlicht zu werden. Andere Menschen zu töten markiert die Grenze, deren Überschreiten nicht nur in infantilen Omnipotenzphantasien die Tür zur Welt der Mächtigen öffnet.

Es besteht durchaus ein Zusammenhang zwischen räuberischen und zerstörerischen Praktiken, die Staaten mit der Legalität ihres Gewaltmonopols fördern, und der Ohnmacht von Menschen, die unter existierenden Gewaltverhältnissen leiden, ohne genau artikulieren zu können, wer nun für ihre Probleme verantwortlich ist. Der Schritt zur Selbstermächtigung kann im Kontext dieser Zwangslage durchaus als Befreiungsschlag verstanden werden, gerade weil er die eigene Ohnmacht besiegelt. Gewalt impliziert Verlust, das heißt bringt niemals etwas Produktives hervor, das nicht durch Zerstörung bedingt wäre. Die Hoffnung darauf, man bliebe von der Destruktivität verschont, weil andere sie zu erleiden hätten, maximiert den Verlust durch die Atomisierung aller Beteiligten.

Wenn Menschen nicht von vornherein mit der erstrebenswerten Praxis solidarischen Umgangs vertraut gemacht, sondern einer Doktrin der Gewinner unterworfen werden, die Verlierer produziert, dann kann die Möglichkeit, daß sie auf diese oder jene Weise gegen den eigenen Partner, das eigene Kind oder auch wildfremde Menschen gewalttätig werden, nicht ausgeschlossen werden. Das Faszinosum des Unbegreiflichen, das die Schulschießereien umgibt, resultiert aus einem Harmoniestreben, das Widersprüche auflösen soll, ohne sie in ihrem konfrontativen Gehalt anfassen zu müssen. Daß die heile Welt längst bankrott gegangen ist, weiß jeder Mensch, der sich nur die Frage stellt, wie es den Zehntausenden ergeht, die täglich verhungern. Columbine und folgende sind Oberflächenphänomene einer Vergesellschaftung, der man nicht auf den Grund gehen kann, ohne eine Verwertungspraxis zu gefährden, in der Leben ausschließlich als Überleben gedacht wird.

20. April 2009