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REPRESSION/1715: Allianz der Sieger und Reichen ... (SB)



Ich danke dem brasilianischen Präsidenten für die freundschaftliche Aufnahme und bin beeindruckt von seinem klaren Verständnis für die Probleme in Europa und die politischen Herausforderungen unserer Zeit. In einer Zeit, in der die Linken ihre Ideologie über ihre internationalen Netzwerke und Organisationen auf globaler Ebene vorantreiben, müssen auch wir Konservativen uns stärker vernetzen und auf internationaler Ebene für unsere konservativen Werte einstehen.
Beatrix von Storch (AfD) nach ihrem Treffen mit Jair Bolsonaro [1]


Wenngleich Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro wie ein wahnwitziger Irrläufer anmuten mag, der ein privates Universum mit seiner nicht minder fanatischen Anhängerschaft teilt, ist er doch in seiner Ratio nicht verrückter als das System von Ausbeutung und Unterdrückung, das ihn ins höchste Staatsamt seines Landes gespült hat. Sein stärkstes Pfund, mit dem er ungehemmt wuchern kann, ist der Hunger nach brasilianischen Rohstoffen in den USA, Europa und China, deren Nachschub er mit mörderischen Mitteln garantiert. Solange die Kette des Extraktivismus nicht ins Stocken gerät, wird ihm in Washington, Brüssel oder Berlin niemand in die Parade fahren, was gleichermaßen für die Eliten seines Landes gilt, deren Macht und Einkünfte er wie kaum ein anderer Präsident vor ihm mehrt. Überdies ist er ebenso Teil wie eine Marionette des Militärs, das sich seiner bedient und de facto ohne Putsch im klassischen Sinne die Macht übernehmen konnte. Er hat zehn hochrangige Militärs in seine Regierung aufgenommen und mehr als 6000 weitere in Ministerien und Behörden platziert. Bleiben noch die rund 211 Millionen Menschen im Land, unter denen der Glauben an diesen "Messias" auf rapider Talfahrt in den Keller sackt. Ihnen droht Bolsonaro damit, die Panzer rollen zu lassen und zur offenen Diktatur überzugehen.

57 Jahre nach dem von den USA unterstützten Putsch von 1964, dem mehr als zwei Jahrzehnte der Militärjunta folgten, ist Brasilien erneut mit der Gefahr einer Diktatur konfrontiert. Angesichts extremer sozialer Ungleichheit, einer anhaltenden Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit und Inflation, eines Massensterbens durch die Corona-Pandemie wie auch katastrophaler Verheerungen im Amazonasgebiet drängt die anwachsende Verzweiflung und Wut zahlloser Menschen im Land nach einem Ausbruch. Bolsonaro und Teile des Militärs dürften durchaus bereit sein, sich im Zweifelsfall äußerster Mittel zu bedienen. Es sind keine Skrupel, die sie bremsen, sondern vielmehr Vorteilserwägungen, da die gegenwärtige Situation für sie überaus komfortabel ist. Der Präsident ist zwar erklärtermaßen ein Faschist, der sich nach der Zeit der Militärjunta zurücksehnt, aber formell der gewählte Staatschef einer Demokratie. Zwischen lächerlicher Schießbudenfigur und bösartigem Clown changierend gibt Bolsonaro den Fokus reaktionärster Heldenverehrung wie auch eine Zielscheibe wütender Anwürfe ab, wodurch er die gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Schusslinie nimmt und die Auseinandersetzung auf den Nebenschauplatz eines möglichen Regierungswechsels fixiert.

Das kapitalistische Verwertungsregime in brasilianischer Ausprägung mit seiner extrem neokolonialen, rassistischen, Menschen und Lebensräume ausplündernden und zerstörenden Aggression bleibt dabei unberührt und intakt, zumal die internationalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen ungeachtet aller oberflächlichen Irritationen und Rügen florieren. Wechselten die Eliten Brasiliens mit einem Militärputsch ins Lager der Outlaws, würde das zumindest für eine gewisse Frist zu Verwerfungen führen, deren Schadensfolgen selbst für die Militärs und deren ökonomische Interessen als allzu gravierend eingeschätzt werden könnten. Im übrigen kann Bolsonaro bei Bedarf durchaus den seriösen Staatsmann markieren, wie er dies vor zwei Jahren beim Besuch des deutschen Außenministers Heiko Maas in Brasília getan hat. Er wickelte den Gast ein, der sich gerne einwickeln ließ, worauf sich strittige Themen erübrigten und man übereinkam, den Putschversuch der US-Marionette Juan Guaidó gegen den venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro zu unterstützen. "Beide Seiten bekräftigten ihre Anerkennung Juan Guaidós als Übergangspräsident Venezuelas", verkündeten sie in einer gemeinsamen Erklärung. Die Bundesregierung hat noch nie ein Problem damit gehabt, gemeinsame Sache mit autoritären Regimen zu machen, sofern dies ihren Interessen förderlich war. Das gilt auch für den Brasilianer Bolsonaro, wobei es den Verkehr natürlich geschmeidiger macht, wenn dieser als demokratisch gewählter Staatschef, nicht aber als Militärmachthaber zu adressieren ist.

Jair Bolsonaro wäre nicht Präsident geworden, hätte man den nach wie vor sehr beliebten früheren Staatschef aus der Arbeiterpartei, Luiz Inácio Lula da Silva, nicht aus dem Verkehr gezogen. Inzwischen ist Lula zurück und würde angesichts der erodierenden Zustimmungswerte Bolsonaros bei der am 2. Oktober 2022 anstehenden Präsidentenwahl voraussichtlich das Rennen machen - sofern er kandidiert und dann nicht abermals auf die eine oder andere Weise ausgeschaltet wird. Vorsorglich arbeitet Bolsonaro ganz im Stil seines großen Vorbilds Donald Trump längst an der Legende einer Manipulation der kommenden Wahlen, der er mit der Übernahme uneingeschränkter Staatsgewalt zu begegnen droht. Er bedient sich dabei des ideologischen Baukastens der extremen Rechten, die eine abzuwendende kommunistische Machtübernahme halluziniert und sich als Opfer linksbürgerlicher Handlanger in Politik, Justiz und Gesellschaft inszeniert.

Bolsonaro droht mit einem Militärputsch

In den zurückliegenden Monaten zeugte eine Reihe von Maßnahmen von der Entschlossenheit Bolsonaros, das Schlachtfeld zu eigenen Gunsten zu bestimmen. So wurde am 31. März, kurz vor dem Jahrestag des Militärputschs von 1964, die gesamte Militärführung entlassen, was auf eine Stärkung ihm gewogener Fraktionen der Streitkräfte schließen ließ. Als ehemaliger Hauptmann der Fallschirmjäger ist er zwar ihr Gewährsmann im höchsten Staatsamt, muss aber dennoch Sorge tragen, nicht aufgrund seines Scheiterns an der Bewältigung jeglicher Krisen und des daraus resultierenden Protestpotentials in der Bevölkerung fallengelassen zu werden. Nicht lange darauf unterstrichen Militärkommandanten mit Drohungen an die Adresse des parlamentarischen Corona-Untersuchungsausschusses, dass sie keine Untersuchung gegen Angehörige der Streitkräfte seitens ziviler Behörden dulden werden.

Es folgte eine Kampagne zur Einführung von "gedruckten Stimmzetteln", die angeblich Fälschungen der elektronischen Stimmabgabe verhindern könnten, die der Präsident seinen Gegnern unterstellt. Im August belegten dann das Ergebnis der Abstimmung über diesen Vorschlag wie auch eine demonstrative Militärparade, dass sich seine Putschpläne durchaus einer beträchtlichen Unterstützung erfreuen. Auch wenn sich oftmals der Eindruck aufdrängen mag, Bolsonaro gehe freihändig und impulsiv zu Werke, werden seine Schritte doch von zivilen und militärischen Beratern gesteuert, die das Vorgehen mit rechtsextremen Verbündeten in den USA und anderen Ländern koordinieren. So richteten sich die Angriffe in der Folge insbesondere gegen den Obersten Gerichtshof (STF) und dessen Richter Alexandre de Moraes, der gegenwärtig Ermittlungen wegen Bedrohungen der verfassungsmäßigen Ordnung führt, in die der Präsident und seine Anhänger verwickelt sind. Der STF wurde zum zentralen Feindbild aufgebaut, und Bolsonaro rief zum "Gegenputsch" gegen eine angebliche Verschwörung des Obersten Gerichtshofs auf, der ihn absetzen und seine Anhängerschaft kriminalisieren wolle. Sein Schicksal sei es, entweder "verhaftet oder getötet zu werden oder siegreich zu sein", verkündete Bolsonaro.

Er benutzte den brasilianischen Unabhängigkeitstag am 7. September als Machtdemonstration und Generalprobe für einen Putsch, wobei sich die Vorgehensweise an Donald Trumps Manövern in den USA vom 6. Januar orientierte. In mehreren Städten fanden Demonstrationen statt, die systematisch orchestriert wurden. Unternehmer und rechtsextreme Organisationen finanzierten Karawanen, die Demonstranten aus allen Teilen des Landes zu den beiden Hauptkundgebungen in der Hauptstadt Brasília und in São Paulo brachten. Dass auf diese Weise hunderttausende Menschen herbeigeschafft werden konnten, zeugt von einer beträchtlichen und nicht zu unterschätzenden Mobilisierungsfähigkeit der brasilianischen Rechten.

Am Vorabend der Demonstrationen in Brasília durchbrachen Karawanen von Bolsonaro-Anhängern die Sperren der Militärpolizei, drangen in die Einkaufstraße "Esplanada" zwischen den Gebäuden der Ministerien ein und erklärten, sie würden am nächsten Tag den Obersten Gerichtshof stürmen. Videoaufnahmen dieser Szenen belegen, dass die Polizei keine ernsthaften Versuche unternahm, sie aufzuhalten, geschweige denn wie angekündigt zu durchsuchen. Kommandanten der Militärpolizei hatten sogar persönlich zur Teilnahme an den Demonstrationen aufgerufen, und einer Umfrage des Instituto Atlas Intelligence zufolge waren 30 Prozent aller aktiven Beamten der Militärpolizei bereit, an den Protesten teilzunehmen. Obgleich es nicht zu einem Eindringen in den Obersten Gerichtshof kam, erwog dieser, die Streitkräfte zum Schutz seines Hauptsitzes zu mobilisieren, nachdem die Militärpolizei des Bundesdistrikts das Vorrücken von regierungsfreundlichen Demonstranten nicht verhindern konnte oder wollte. [2]

Am 7. September folgte dann ein organisiertes Spektakel, bei dem Bolsonaro mit einem Hubschrauber über die Demonstrationen flog, auf der Tribüne landete und eine Rede hielt. Dabei wurde er frenetisch von seinen Anhängern bejubelt, auf deren Transparenten Forderungen nach dem Sturz des Obersten Gerichtshofs, einer Militärintervention und der Kriminalisierung des Kommunismus zu lesen waren. Demonstrierende trugen Plakate und T-Shirts mit Slogans in portugiesischer und englischer Sprache und signalisierten ihre Übereinstimmung mit der extremen Rechten in den USA. In der Hauptstadt, wo neben dem Präsidenten auch Vizepräsident General Hamilton Mourão und Verteidigungsminister General Walter Braga Netto sprachen, griff er Richter Alexandre de Moraes frontal an. Werde dieser nicht sofort abgesetzt, müsse der STF die Konsequenzen tragen: "Wir dürfen nicht länger akzeptieren, dass eine bestimmte Person aus dem Bereich der drei Gewalten weiterhin unsere Bevölkerung barbarisiert. Wir dürfen keine weiteren politischen Verhaftungen in unserem Brasilien akzeptieren. Entweder der Führer dieser Gewalt regiert selbst, oder diese Gewalt leidet, was wir aber nicht wollen."

Auch auf der Kundgebung in São Paulo forderte Bolsonaro die Absetzung des Richters und verkündete: "Dieser Präsident wird sich nicht mehr an die Entscheidungen von Herrn Alexandre de Moraes halten." Zum Abschluss seiner Rede rief er: "Nur Gott kann mich [aus Brasília] herausbringen" und "ich sage diesen Bastarden: Ich werde nie verhaftet werden!" Des weiteren kündigte der Präsident an, er werde in wenigen Tagen ein Treffen des Rats der Republik leiten. Dabei handelt es sich um ein Verfassungsorgan, das den Präsidenten in Fragen der nationalen Sicherheit berät, wozu auch die Verhängung des Ausnahmezustands und die Aussetzung individueller Rechte gehören.

Wenngleich es nicht wie am 6. Januar in Washington zur Erstürmung von Regierungsgebäuden oder des Obersten Gerichtshofs kam und die befürchteten Bilder ausblieben, war doch die massenhafte Mobilisierung weit mehr als eine bloße Drohgebärde zur Unterhaltung der eigenen Anhängerschaft und ein vorgezogener Wahlkampf. Denn Bolsonaro machte deutlich, dass er eine Abwahl im kommenden Jahr nicht hinnehmen, sondern mit seinen Gegnern abrechnen wird. Die spektakulären Ereignisse am Unabhängigkeitstag stellten offenbar eine Etappe im Rahmen einer weitreichenden Planung dar, es nicht auf eine mögliche Niederlage in einem regulären Wahlgang um die Präsidentschaft ankommen zu lassen. Dazu gehört auch die Schwächung oder Ausschaltung einer Gewaltenteilung, die juristische Schritte gegen Bolsonaro und seinen Familienclan durchsetzen könnte.

Der Zusammenhang zwischen den Ereignissen in Brasilien und dem von Donald Trump in den USA verfolgten Staatsstreich ist offenkundig. Als Schnittstelle fungiert Bolsonaros Sohn Eduardo als rechte Hand seines Vaters und Fraktionsvorsitzender der ultrarechten Sozialliberalen Partei (PSL) im Parlament. Eduardo Bolsonaro unterhält Verbindungen zu rechtsextremen Organisationen in diversen Ländern wie insbesondere zu Trump und dessen Familie. Am 6. Januar weilte er in Washington und dürfte direkt an den Vorbereitungen zur Erstürmung des Kapitols beteiligt gewesen sein. Auch ist er lateinamerikanischer Vertreter von The Movement, das Trumps ehemaliger Chefstratege Steve Bannon gegründet hat, um rechtsextreme Bewegungen in Europa und weltweit zu vernetzen. Im August warb Eduardo Bolsonaro auf dem "Cyber Symposium" von Trumps ehemaligem Berater Mike Lindell für die Kampagne seines Vaters bezüglich der "gedruckten Stimmzettel" und Anfang September eröffnete er die brasilianische Ausgabe der Conservative Political Action Conference (CPAC), an der Donald Trump jr. virtuell und Jason Miller vor Ort teilnahm, der sich während seines Aufenthalts in Brasilien persönlich mit Jair Bolsonaro traf. Trump jr. verglich in seinem Beitrag die bevorstehenden Wahlen in Brasilien ausdrücklich mit denen in den USA und erklärte, die Brasilianer müssten sich in einem unfairen Kampf zwischen "Sozialismus und Freiheit" entscheiden. [3]

Beatrix von Storch zeigt sich begeistert

Aus deutscher Sicht ist in diesem Zusammenhang ein Besuch der Stellvertretenden AfD-Vorsitzenden Beatrix von Storch bei Jair Bolsonaro aufschlussreich, bei dem sie sich am 21. Juli samt ihrem Mann Sven Arm in Arm mit dem brasilianischen Präsidenten ablichten ließ und ihn, wie eingangs zitiert, als "Konservativen" verharmloste, in den höchsten Tönen lobte und zu einer stärkeren internationalen Vernetzung der Rechten aufrief. Die Storchs trafen während ihrer Brasilienreise auch mit Eduardo Bolsonaro zusammen, von dem sie sich ebenfalls auf Instagram begeistert zeigten: "Wichtige Station meiner Brasilien-Reise: eine tolle Begegnung mit Eduardo Bolsonaro. Gemeinsame Werte sind die Basis für eine gute, internationale Zusammenarbeit. Im Plenum des Parlaments steht neben dem Sitz des Parlaments-Präsidenten: die Bibel."

Beatrix von Storch dürfte nicht entgangen sein, dass Jair Bolsonaro weithin als Präsident der "Bibel-, Blei- und Bullenfraktion" bezeichnet wird, weil reaktionäre Evangelikale, Waffenlobby und fleischproduzierende Großgrundbesitzer und Industrielle zu seinen wichtigsten Unterstützern neben den Militärs gehören. Wenn sie hier tunlichst nur von der Bibel im Parlament schwärmt, zeugt das keinesfalls von politischer Naivität, sondern allenfalls von taktischer Schläue, die sie durchaus mit ihren Überzeugungen in Einklang bringen kann. In ihrem Fall ist der Apfel bekanntlich nicht weit vom Stamm gefallen, war ihr Großvater mütterlicherseits, Graf Schwerin von Krosigk, doch zwölf Jahre lang Hitlers Finanzminister und wurde 1949 als Kriegsverbrecher verurteilt. Ihr Großvater väterlicherseits, Erbgroßherzog Nikolaus von Oldenburg, der durch die Novemberrevolution 1918 seinen Thron verlor, war Mitglied der NSDAP und der SA. Zu Beginn ihrer politischen Karriere setzte sich Beatrix von Storch unter anderem für die Rückgabe der Ländereien an die ostdeutschen Junker ein, die nach dem Krieg enteignet worden waren.

Später machte sie dann auf dem rechten Flügel der AfD mit menschenverachtenden Äußerungen von sich reden, als sie beispielsweise 2016 den Einsatz von Schusswaffen gegen Flüchtlinge an der Grenze, auch gegen Frauen und Kinder, forderte. Ihre Hetze gegen muslimische Männer brachte ihr Anzeigen wegen Volksverhetzung ein. Sie verbreitet auch Trumps Version von der gestohlenen US-Präsidentenwahl und verstand ihr Treffen mit Bolsonaro sicherlich als eine öffentliche Sympathiekundgebung, was von einigen deutschen Zeitungen kurz erwähnt, aber bemerkenswert einsilbig kommentiert wurde. Proteste in Medien und Politik blieben aus, was angesichts der engen deutsch-brasilianischen Beziehungen aber auch nicht weiter erstaunlich ist.

Eine abseitige Spritztour der Storchs ohne weitere Relevanz war diese Reise nicht, sondern vielmehr das Andocken an einer bereits entwickelten Vernetzung der extremen Rechten. Nach der Abwahl Donald Trumps ist das größte Land Lateinamerikas unter dem kongenialen Jair Bolsonaro zu einem führenden Zentrum des internationalen Rechtsextremismus geworden. Der Präsidentensohn arbeitet nicht nur eng mit der Trump-Familie und Steve Bannon zusammen, sondern ist auch gemeinsam mit Santiago Abascal von der spanischen Vox und dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán aufgetreten. Vox steht in der Tradition der Franco-Diktatur, Orbán bekennt sich zur "illiberalen Demokratie", hat Justiz und Presse gleichgeschaltet und diskriminiert jegliche Opposition. Dass sich die Storchs dort heimisch fühlen, nimmt nicht Wunder, geht aber weit über emotionale Reiseimpressionen hinaus. Die rechtsextremen Bewegungen lernen voneinander und ahmen sich gegenseitig nach. Sie entwickeln gemeinsame Themen wie Flüchtlingshetze, Abtreibungsverbot, Leugnung des Klimawandels, Impfverweigerung oder Diskriminierung von LGBTIQ zur massenhaften Mobilisierung und kopieren die Techniken des gewaltsamen Umsturzes.

Verstörender Auftritt bei der UN-Vollversammlung

Wie Donald Trump hat auch Jair Bolsonaro einen Hang zu verstörenden Auftritten, die sich nie konsensheischend an eine breitere Öffentlichkeit verschiedener politischer Lager, sondern stets an die eigene Anhängerschaft richten. So galt auch seine groteske Rede vor der UN-Vollversammlung in New York nicht einer weltweiten Wahrnehmung, vielmehr war sie ganz und gar auf die von ihm angeheizte Präsidentenverehrung in Brasilien gemünzt. Er überging die Empfehlungen des moderaten Flügels seiner Regierung, sich diplomatisch zu zeigen, um sein Land international nicht noch mehr zu isolieren, sondern zog mit derart widersinnigen Behauptungen vom Leder, dass Analysten unter Verweis auf mehrere nachweislich falsche, übertriebene oder widersprüchliche Darstellungen von einer "Parallel-Realität" sprachen.

Seine Regierung sei frei von Korruption, behauptete Bolsonaro, obwohl Ermittlungen laufen, die unter anderem die Beschaffung von Impfstoffen und selbst mutmaßliche Vergehen seiner Söhne betreffen. Brasilien habe hervorragende Umweltgesetze, prahlte er, während die Waldrodung seit seiner Amtsübernahme um mehr als fünfzig Prozent zugenommen hat. Seine Regierung habe die Impfkampagne unterstützt, sagte er, obgleich es Belege dafür gibt, dass Angebote für Impflieferungen über Monate unbeantwortet blieben und Bolsonaro fürs Impfen lange nur Spott und Hohn übrig hatte. Nach seinem zwölfminütigen Auftritt herrschte im Plenum betretenes bis verärgertes Schweigen.

Hatte man sich international darauf verständigt, vollständig geimpft anzureisen, so eröffnete ausgerechnet Bolsonaro als einziges nicht geimpftes Staatsoberhaupt die Vollversammlung in New York. Damit nicht genug wiederholte er seine Lobeshymne auf ineffiziente Medikamente zur "präventiven Behandlung" des Coronavirus. Schon am Vortag war er nicht gerade durch diplomatische Raffinesse aufgefallen, als der britische Premierminister Boris Johnson anwesende Journalisten ermunterte, sich mit AstraZeneca impfen zu lassen, und betonte, dass er selbst bereits beide Dosen erhalten habe. Daraufhin zeigte Bolsonaro mit dem Finger auf sich, schwenkte ihn dann verneinend und sagte: "Noch nicht." Dann brach er in Gelächter aus, während sein Gesundheitsminister Marcelo Queiroga im Hintergrund mitlachte.

Das stieß bei der britischen Boulevardpresse auf harsche Kritik, zumal Queiroga schon zuvor unangenehm aufgefallen war. Als er ein Dinner verließ und an einer Gruppe von Demonstranten vorbeifuhr, stürzte er sich an das Fenster seines Fahrzeugs und zeigte der Menge den Mittelfinger. Auch kursierten Bilder durch alle Medien, welche die brasilianische Delegation an einem Imbissstand auf der Straße zeigten, nachdem ihr der Zugang zu den Restaurants im UN-Gebäude wegen der dort geltenden Corona-Bestimmungen verwehrt worden war. Zu allem Überfluss musste Gesundheitsminister Queiroga seinen Aufenthalt in New York unfreiwillig verlängern, da er vor der Abreise der Brasilianer von der UN-Vollversammlung positiv auf das Coronavirus getestet wurde und die nächsten Tage in Quarantäne verbrachte. Während sich die brasilianische Führungsriege also nach Kräften lächerlich macht, gilt es doch vor allem zu bedenken, welche Folgen ihre grausame Überheblichkeit für andere hat. Mit rund 600.000 Menschen, die an oder mit Corona gestorben sind, weist Brasilien eine der weltweit höchsten Opferzahlen auf. Bolsonaro hat die von Gouverneuren erlassenen Corona-Maßnahmen nie unterstützt und oftmals sogar sabotiert. Er gab die Devise aus, dass sich die brasilianische Wirtschaft gesundheitspolitische Einschränkungen nicht leisten könne, zumal es sich um nicht mehr als eine leichte Grippe handle. Daher werde er auch der Allerletzte im Land sein, der sich zweimal impfen lasse, setzte er ein weiteres fatales Signal. [4]

Indigener Widerstand gegen Tod und Zerstörung

Höchst zerstörerische bis tödliche Folgen hat Bolsonaros Regime auch für den tropischen Regenwald des Amazonasgebiets und die darin lebenden indigenen Völker. Seit Beginn seiner Präsidentschaft hat sich der Krieg gegen die Waldgebiete und die sie beschützenden Menschen auf beispiellose und gleichsam finale Weise verschärft. Eine Reihe von Gesetzen förderte die Gewalt gegen Indigene, die ihr Land und Leben gegen die vernichtenden Übergriffe verteidigen. Hinzu kommt die Corona-Pandemie, welche die ursprüngliche Bevölkerung des Landes auszurotten droht. Während Bolsonaros Regierungszeit sind bislang rund 20.000 Quadratkilometer Regenwald abgeholzt worden und der Brandrodung zum Opfer gefallen, die überwiegend exportgetriebene agrarindustrielle Komplexe befeuert.

Diese forcierte Zerstörung treibt das Ökosystem auf einen Kipppunkt zu, an dem der Verlauf irreversibel seine Richtung ändert. Wie wissenschaftliche Forschung ermitteln konnte, hat der Regenwald des Amazonasgebiets 2021 erstmals mehr CO2 emittiert als absorbiert. Die "grüne Lunge" des Planeten, so scheint es, stirbt inzwischen schneller, als sie sich regenerieren kann. Was lange schon prognostiziert und befürchtet wurde, tritt schneller ein als erwartet. Wenngleich diese verhängnisvolle Entwicklung letztendlich auf die gesamte Menschheit zurückschlagen wird, trifft sie doch zuallererst die Schwächsten und am wenigsten Geschützten in der brasilianischen Gesellschaft. Eben dieses Kalkül treibt die Bolsonaros, ihre Hintermänner und Parteigänger, doch in der Kette auch die Profiteure der landwirtschaftlichen Erzeugnisse Brasiliens an: Indem sie die Vernichtung anderer forcieren, hoffen sie ihr eigenes Überleben und Wohlergehen um so nachhaltiger zu sichern. So zeigt sich auch an dieser Stelle, dass Bolsonaros Wahnsinn durchaus System hat.

Er hat de facto die Lizenz zum Töten der Indigenen erteilt oder besser gesagt ausgeweitet und dem Verdrängungs- und Vernichtungsprozess noch einmal die Sporen gegeben. Doch die Indigenen verschwinden nicht, sondern schließen sich erstmals in größerem Ausmaß zusammen, um den Kampf aufzunehmen. Ende August marschierten rund 6000 von ihnen über die Promenade in Brasília, die vom Kongressgebäude, dem Obersten Gerichtshof und dem Präsidentenpalast gesäumt wird. Menschen aus 176 indigenen Völkern trafen dort zusammen, um sich dem "Kampf für das Leben" anzuschließen. Die größte Mobilisierung dieser Art in der Geschichte des Landes könnte die Bestrebungen der "Assoziation Indigener Völker Brasiliens" (APIB) beflügeln, die "Our lives matter" geltend macht. Joênia Wapichana, die erste indigene Anwältin und Kongressabgeordnete, ruft zu einer politischen Erneuerung der Rechte Indigener auf. Die APIB hat vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Klage gegen Bolsonaro wegen Völkermords eingereicht. Erstmals in der Geschichte des ICC verteidigen sich dort indigene Völker der westlichen Hemisphäre mit Hilfe indigener Anwälte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Wenngleich in einem Land von mehr als 200 Millionen Einwohnern die rund 900.000 Indigenen, die bislang überlebt haben, nur eine kleine Minderheit darstellen, bemisst sich ihr möglicher Einfluss nicht so sehr an ihrer Zahl. Ihr Zusammenschluss im Kampf gegen den drohenden Genozid bricht mit der absoluten Ausgrenzung, der sie unablässig unterworfen waren, und ihre Stimme wird in wachsendem Maße auch von anderen gehört, die ihrerseits unter diesem Regime zu leiden haben.

Sojafelder, deren Ernte zu 90 Prozent zu Tierfutter verarbeitet wird, und riesige Rinderherden treten an die Stelle vielfältiger Waldlandschaften und traditioneller ländlicher Gemeinschaften. Die brasilianischen Agrarerzeugnisse werden größtenteils für den US-amerikanischen und europäischen Markt exportiert. Multinationale Unternehmen wie Cargill, der größte dieser Konzerne aus den USA, sind aus Sicht der indigenen Völker zu den wirkmächtigsten Treibern der Umweltzerstörung und zentralen Feindbildern geworden. Großgrundbesitzer, Holzfäller und Bergbaubetreiber terrorisieren und vertreiben indigene und kleinbäuerliche Gemeinschaften mit vorgehaltener Waffe von ihrem Land. Gesetzliche Lockerungen des Waffen- und Munitionsbesitzes haben insbesondere in ländlichen Gebieten zu einer sprunghaften Zunahme der verfügbaren Waffen und der damit verbundenen Gewaltanwendung geführt.

Bolsonaros Lieblingsgeste - Daumen und Zeigefinger zu einer imaginären Schusswaffe abgespreizt - signalisiert Unterstützung für die Aufrüstung seiner Anhängerschaft. "Es ist eine Schande, dass die brasilianische Kavallerie nicht so effizient wie die amerikanische war, die alle Indianer ausgelöscht hat", klagte er einst. Und das war keine bloße Provokation, sondern durchaus ernst gemeint, wie sich nun einmal mehr erweist. Der letzte Frontverlauf dieses Angriffs ist der rechtliche und politische Rahmen zum Schutz der indigenen Territorien, wie er in der Verfassung von 1988 festgeschrieben wurde. Der brasilianische Kongress hat eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die hart erkämpfte Rechte wie den Schutz der indigenen Territorien aufheben, illegaler Landnahme Immunität gewähren und die entsprechenden Gebiete für Infrastrukturprojekte, Bergbau und Energiegewinnung öffnen. Eines dieser Gesetze erlaubt es dem Präsidenten, die Konvention zu indigenen Völkern der International Labor Organization (ILO) zu verlassen, ein wichtiges internationales Abkommen zum Schutz dieser Gemeinschaften.

APIB und die Bewegung "Kampf für das Leben" fordern die Regierung auf, zumindest die Verfassung und Gesetze Brasiliens zu respektieren. Um dies zu unterstreichen, verbrannten am 27. August 150 Indigene symbolisch einen großen schwarzen Sarg auf den Stufen des Kongresses, auf dem die Namen der neuen Gesetze geschrieben standen. Am 1. September begannen vor dem Obersten Gerichtshof die Anhörungen in einem Rechtsstreit, dessen Ausgang darüber entscheiden soll, ob das angestammte Land indigener Völker, die nach der Ratifizierung der Verfassung im Jahr 1988 vertrieben wurden, rückwirkend geschützt oder preisgegeben wird. Am 15. September wurde das Verfahren vertagt, ohne dass ein Termin der Wiederaufnahme festgelegt worden wäre. Damit soll offenbar eine Entscheidung auf unabsehbare Zeit hinausgeschoben werden, die ein enormes Konfliktpotential birgt. Würde das Gericht die Vertreibung für rechtmäßig erklären, wären weitere Protestkampagnen und Kämpfe der Indigenen die Folge. Fiele die Entscheidung jedoch zu Gunsten der Vertriebenen aus, würde eine Rückgabe der geraubten Gebiete zweifellos unter Einsatz massiver Waffengewalt verhindert. [5]

Lula soll's richten

Die brasilianische Demokratie steht auf tönernen Füßen, wie auch ein gemeinsamer Auftritt von Eduardo Bolsonaro und Steve Bannon am 10. August in South Dakota vor Trump-Anhängern unterstrich. Dabei verteufelte Bannon den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva als "gefährlichsten Linken der Welt", dessen Rückkehr ins höchste Staatsamt es zu verhindern gelte. Zweifellos würde Lula im Falle einer erfolgreichen Kandidatur viele Maßnahmen der vierjährigen Amtszeit Jair Bolsonaros rückgängig machen und zumindest die gravierendsten Auswüchse beschneiden. Wenn die rechtsextremen Kräfte eine kommunistische Verschwörung erfinden, der auch Lula zuzurechnen sei, ist das unter brasilianischen Verhältnissen ein Aufruf zur erneuten Inhaftierung des populären Expräsidenten, wenn nicht gar Schlimmerem. In diesem gezielt geschürten Klima des Hasses ist selbst ein herbeigeredeter oder hinterrücks geplanter Mordanschlag nicht auszuschließen.

Die APIB hat Lula im Rahmen einer indigenen Zeremonie in den Rang des "Wächters über die Territorien" erhoben, sollte er abermals Präsident werden. Dies ist wohl vor allem als Erinnerung und Verpflichtung zu verstehen, der Verantwortung gegenüber den indigenen Völkern und dem Amazonasgebiet nachzukommen. Bedenken sind in diesem Zusammenhang durchaus angebracht, wie ein kurzer Rückblick zeigt: Der zur Legende gewordene Chico Mendes war zu Lebzeiten Gewerkschafter der Kautschukzapfer, Menschenrechtsverteidiger und Umweltschützer im Amazonasregenwald. Er wurde im Dezember 1988 von Großgrundbesitzern ermordet. Von ihm stammt das historische Manifest "In Verteidigung der Völker des Waldes", das auf seine Initiative hin die Ureinwohner und die Organisation der Kautschuksammler gemeinsam verabschiedeten. Mendes war Mitbegründer der Arbeiterpartei (PT), aus der die späteren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2003 bis 2011) und Dilma Rousseff (2011 bis 2016) hervorgingen. Ungeachtet dieser Herkunft seiner Partei sollte Lula als der Präsident in die Geschichte eingehen, in dessen Amtszeit die bis dahin größte Fläche des Amazonasregenwaldes vernichtet und ein gigantischer Staudamm genehmigt wurde, der nicht nur die ökologischen Verhältnisse in der Region massiv beeinträchtigt, sondern auch die Vertreibung indigener Völker zur Folge hatte. Die Umweltaktivistin Marina Silva, eine enge Mitstreiterin von Chico Mendes, die Lula später zu seiner Umweltministerin machte, verließ wegen dessen umstrittener Umweltpolitik 2008 das Kabinett.

In der Folgezeit konnte Dilma Rousseff trotz ihres Hangs zu infrastrukturellen Großprojekten zumindest die Abholzung des Amazonasgebiets etwas eindämmen, was einer der Gründe war, sie mit einem kalten Putsch aus dem Amt zu treiben und durch Michel Temer, eine Marionette einflussreicher politischer und wirtschaftlicher Kreise, zu ersetzen. Auf diesen Platzhalter folgte mit Jair Bolsonaro am 1. Januar 2019 ein rechtsextremer Präsident. Wenngleich es also nach ihm nur besser werden könnte, heißt das noch lange nicht, dass Lula willens und in der Lage wäre, den Vernichtungsprozess im gebotenen Maße zu bremsen oder gar zu beenden.

Luiz Inácio Lula da Silva regierte in einer Phase eskalierender extraktivistischer Ausbeutung und Wertschöpfung, die es ihm erlaubte, als Sachwalter eines vorgeblichen Klassenkompromisses mit Billigung der Eliten einen Bruchteil der Erträge in die erfolgreiche Bekämpfung der absoluten Armut zu investieren. Als Gegenentwurf zu radikaleren gesellschaftlichen Ansätzen eines Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien oder Rafael Correa in Ecuador und deren Bündnis mit Kuba und Nicaragua wurde Lula selbst in den USA und in Europa zur bedeutendsten Persönlichkeit der Welt hochstilisiert, weil er vermeintlich die Überlegenheit der kapitalistischen Wirtschaftsweise und deren Vereinbarkeit mit bestmöglicher sozialer Versorgung unter Beweis stellte.

Das aufstrebende Schwellenland Brasilien schien gleichermaßen einen gewaltigen ökonomischen Sprung in die Riege der Wortführer einer multipolaren Weltordnung vollzogen wie auch die extremen inneren Widersprüche gebändigt zu haben. Angesichts der globalen kapitalistischen Systemkrise mutete die damit assoziierte Botschaft, die Epoche für unvereinbar erachteter Klassengegensätze lasse sich zugunsten einer Koexistenz von Armut und Reichtum auf Grundlage einer beiderseits nutzbringenden Strategie der Versöhnung und Bündelung aller Kräfte überwinden, wie die frappierende Beweisführung einer vordem nur gepredigten Heilslehre an. Lulas Präsidentschaft stand für eine vertrauenswürdige Garantie, das Rad kapitalistischer Verwertung allen Unkenrufen zum Trotz weiterzudrehen. Brasilien galt als Beweis, dass sich die Krisenfolgen eindämmen lassen, sofern man das Tor zur Zukunft offenzuhalten versteht. Das unverhohlene Lob des brasilianischen Präsidenten war durchaus handfester Natur, schien er doch dem globalisierten Raubzug in finsterster Nacht den Weg zu leuchten.

Ohne Lulas vielschichtige Talente in Abrede zu stellen, lagen doch wesentliche Triebkräfte seines Erfolgs wie die globale Integration des Kapitalismus und der sechzehn Jahre währende Boom der Rohstoffe jenseits seiner Kontrolle. Angesichts dieser Voraussetzungen gelang es ihm, Wachstum und Konzentration des brasilianischen Kapitals auf beispiellose Weise zu befördern, wofür ihm der Rückhalt der Wirtschaftseliten sicher war. Dass ein Wirtschaftswachstum, das in erster Linie auf Produktion und Export von Rohstoffen gründet, stets im Verhältnis der Abhängigkeit von Industriestaaten mit höher entwickelten Produktivkräften wie auch den wechselhaften Entwicklungen auf dem Weltmarkt bleibt, zeigte sich nach einer Phase der Stabilität, in der man den Schwellenländern und insbesondere Brasilien fälschlich eine Immunität gegen die globale Verwertungskrise des Kapitals attestiert hatte. Als die hohen Erlöse für Rohstoffe einbrachen, stürzte auch Brasilien in die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes, während der das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2015 und 2016 um acht Prozent sank und von der sich die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas so langsam wie nie zuvor erholte.

Jair Bolsonaros Aufstieg stand demgegenüber für eine brachiale Krisenbewältigung im Dienst der reichsten und mächtigsten Fraktionen Brasiliens, einer Allianz aus religiösen Fundamentalisten, Militärs und Großgrundbesitzern, unterstützt von weiteren einflussreichen Wirtschaftskreisen, Investoren und der US-Regierung. Seine Antwort bestand in einer Verherrlichung der Militärdiktatur (1964-1985), dem Heilsversprechen einer rigorosen "Säuberung" und einer rassistischen Feindbildproduktion, die nicht-weiße Menschen, Frauen, Minderheiten und emanzipatorische Bewegungen zum Freiwild erklärte. Zu den zentralen Projekten seiner Regierung gehörte es, den indigenen Gebieten den Schutzstatus zu entziehen und das Amazonasgebiet zur wirtschaftlichen Ausbeutung freizugeben.

Die Militarisierung des Staates hat unter Bolsonaro ungeahnte Ausmaße erreicht. In seiner Administration besetzen 6.157 aktive Militärs oder Reservisten zivile Positionen, was einen Anstieg von 108 Prozent im Vergleich zu 2016 bedeutet, dem Jahr, in dem Präsidentin Dilma Rousseff abgesetzt wurde. Die Militärs besetzen aber auch die wichtigsten Ebenen des Gesundheitssystems und dringen mit der Gründung von "zivil-militärischen Schulen" und der Einmischung in die Universitäten, um ein Veto einzulegen und die Wahl der Rektoren zu kontrollieren, in die Bildung ein. Inzwischen sind 216 zivil-militärische Grundschulen geschaffen werden, die ein Modell verwenden, das auf den pädagogischen Praktiken und den Lehrmustern der Militärschulen des Armeekommandos, der Militärpolizei und der militärischen Brandschutzbrigaden basiert. [6]

So naheliegend also die Hoffnung scheint, Lula möge kandidieren, die Wahl gewinnen und uns von Bolsonaro erlösen, könnte sich diese Perspektive doch als weitere Sackgasse erweisen. Die Ausgangssituation hat sich seit seiner früheren Amtszeit derart verändert, dass einem Präsidenten der Arbeiterpartei die Hände heute weitgehend gebunden wären. Er käme diesmal nicht als Wunschkandidat auch der Eliten des Landes, sondern als deren Hassobjekt ins Amt und bedürfte schon gewaltiger und anhaltender Unterstützung aus der Bevölkerung, um sich nicht nur als Präsident zu behaupten, sondern wesentliche Veränderungen durchzusetzen.

Revolte in einer zutiefst rassistischen Gesellschaft

Hinzu kommt, dass Brasilien, das als letzte westliche Nation die Sklaverei erst im Jahr 1888 offiziell abschaffte, seinen strukturellen Rassismus nie überwunden hat. Wenngleich sich eine fragile Identitätspolitik in jüngerer Zeit für eine Milderung einsetzte, finden sich die Unterschiede nicht nur im Einkommen und Zugang zu Bildung und Gesundheit wieder, sondern auch in noch brutaleren Zahlen wie den weit über 40.000 vorwiegend schwarzen jährlichen Mordopfern. Auch tötete die wohl gewalttätigste Polizeitruppe der Welt 2019 rund 6000 Menschen, wobei mehr als 75 Prozent ihrer Opfer schwarz waren. Der Genozid war immer präsent, die Ausrottung junger Schwarzer und das Fehlen grundlegender Bürgerrechte für Bevölkerungsgruppen wie Indigene, Kleinbauern und Fischer wurde von keiner Regierung der Neuen Republik seit 1988 mit Dringlichkeit behandelt. Das gilt auch für die Jahre sozialdemokratischer Regierungen unter Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) sowie während des links-reformistischen Zyklus der Arbeiterpartei (2003-2016) unter Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Russeff. Der Staat kriminalisierte die Armen durch den mörderischen "Krieg gegen die Drogen" oder vertrieb sie von ihrem Land durch zerstörerische Großprojekte wie das Wasserkraftwerk Belo Monte. Wer die brutalen Widersprüche der brasilianischen Gesellschaftsordnung zur Sprache bringt, wird ignoriert oder mit dem Tode bedroht.

Die fortschreitende Verschlechterung der Lebensverhältnisse in Brasilien ist nicht zuletzt die Folge einer totalen Unfähigkeit der zivil-militärischen Regierung, die eskalierenden Probleme zu bewältigen. Unterdrückung und Ausplünderung sind offensichtlich, im Zuge der Pandemie haben sich Versorgung und Lebensqualität im Land noch weiter verschlechtert. Ein räuberisches Gesellschaftssystem lässt Millionen junger Menschen ohne Zukunft zurück, so dass sie allenfalls zwischen verschiedensten Formen der Prekarität hin und her wandern können: von der Arbeit über die Gesundheit bis hin zur Wohnung und einem Leben, das nicht nur von Viren, sondern von institutioneller und paramilitärischer Gewalt heimgesucht wird.

Gegen die zunehmende Radikalisierung der Rechten setzen sich wie in vielen anderen Ländern Lateinamerikas auch in Brasilien immer mehr Menschen zur Wehr, kämpfen antikoloniale, antirassistische und antipatriarchale Bewegungen zunehmend Seite an Seite mit indigenen Völkern nicht nur gegen die aktuelle Regierung, sondern auch gegen die extraktivistische Wirtschaftsweise und die ausbeuterischen gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei stehen oftmals Indigene als am stärksten unterdrückte und ausgegrenzte Menschen in vorderster Front. Neue, tendentiell progressive Regierungen, wie die von Gustavo Petro in Kolumbien und Pedro Castillo in Peru verweisen darauf, dass erhebliche Teile der Bevölkerung bereit sind, die sozialen Verheerungen nicht länger widerspruchslos zu dulden. Doch diese veränderten Administrationen haben keine Chance, allein von sich aus die herrschenden Klassen zu zügeln. Entscheidend bleibt die Fähigkeit der vielfältigen Gegenbewegungen, zu mobilisieren und sich zu organisieren. Auch im Falle Brasiliens ist eine andere Regierung eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung, um die unverzichtbare Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse herbeizuführen, ohne die es zu keiner tiefgreifenden Kurskorrektur kommen wird.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2021/09/12/stor-s12.html

[2] www.wsws.org/de/articles/2021/09/09/pers-s09.html

[3] www.wsws.org/de/articles/2021/09/08/bols-s08.html

[4] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/un-vollversammlung-bolsonaro-haelt-rede-und-lacht-boris-johnson-aus-17549572.html

[5] www.counterpunch.org/2021/09/17/indigenous-people-of-brazil-fight-for-their-future/

[6] non.copyriot.com/lateinamerika-von-unregierbarkeit-bis-zum-chaos/


18. Oktober 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 169 vom 23. Oktober 2021


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