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REPRESSION/1705: Griechenland - das Tor wird geschlossen ... (SB)



Seit der Abriegelung der Balkanroute und dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals ist Griechenland zur Endstation und zur Falle für viele Schutzsuchende geworden. Statt Schutz und Hilfe zu erhalten, stranden sie im Elend ohne Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit und Würde. In Griechenland gibt es kein funktionierendes Schutzsystem. Es mangelt Flüchtlingen an allem: an Unterkünften, Nahrungsmitteln, medizinischer Basisversorgung. Die anderen Staaten der Europäischen Union sehen dem Elend der Flüchtlinge zu. Legale Möglichkeiten, in andere EU-Staaten weiterzureisen, werden den meisten Flüchtlingen verweigert.
Pro Asyl [1]

Wie alle anderen Krisen der herrschenden Gesellschaftsordnung und Wirtschaftsweise ist auch die sogenannte Flüchtlingskrise im Rahmen der bestehenden Verhältnisse nicht zu lösen. Eine auf exzessiver Ausplünderung natürlicher Sourcen und Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft gründende Entwicklung bringt zwangsläufig unumkehrbare Zerstörungen und Zurichtungen hervor, die zahllose Menschen zu einem Leben in permanenter existentieller Not zwingen. Erst wenn die damit verbundenen Unwuchten auf die Metropolengesellschaften zurückschlagen und auch die Profiteure und Nutznießer dieses Regimes zu beeinträchtigen drohen, wird dies als Krise registriert und definiert. Deren Bewältigung besteht jedoch nicht darin, ihr durch eine Beseitigung des profitgetriebenen und wachstumsgestützten Systems den Boden zu entziehen. Ihre aufgestaute Last wird vielmehr auf viele Schultern abgewälzt, die fortan noch mehr zu tragen haben, wobei die Welle des Verhängnisses aus dem Zentrum in Richtung der Peripherie getrieben wird. Die nächstfolgende, mutmaßlich noch tiefere Krise wird nicht abgewendet, sondern für eine gewisse Frist in die Zukunft verschoben, was den unzutreffenden Eindruck erwecken mag, es handle sich um zyklische Störungen eines ansonsten gesunden Normalbetriebs.

Im Zuge der weltweit expandierenden zivilen und militärischen Kriegsführung dieses Systems werden Millionenheere für überflüssig erklärter, ausgegrenzter und in die Flucht getriebener Menschen produziert. Verschärft durch die hereinbrechende Klimakatastrophe nimmt die Migration dramatisch zu, da die Voraussetzungen des Überlebens exponentiell schwinden. Was als Flüchtlingskrise Europas wahrgenommen wurde, war demzufolge nur ein Vorbote künftiger Wanderbewegungen aus den um sich greifenden Todeszonen. Die maßgeblich von der Bundesregierung entworfene Flüchtlingspolitik der EU setzt dem ein Bollwerk der Abschreckung und gestaffelten Abschottung entgegen, das die Abwehr weit ins Vorfeld auslagert.

Das Dublin-System der Europäischen Union, dem zufolge ein Flüchtling einen Asylantrag in dem EU-Land stellen muß, das er zuerst betritt, war mit der Ankunft von Millionen Flüchtlingen im Sommer 2015 zusammengebrochen. Die meisten der Ankommenden waren damals über Griechenland in Richtung Deutschland und Nordeuropa weitergereist. Nach der Schließung der Balkanroute wurde Griechenland im Rahmen des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei dazu verpflichtet, alle eingereisten Flüchtlinge im Land unterzubringen, bis ihre Asylansprüche geklärt sind. Abgelehnte Bewerber auf den Inseln sollten im Prinzip in die Türkei zurückgeführt werden, die EU-Staaten wollten Griechenland angeblich Flüchtlinge abnehmen, und es wurde genügend Personal zugesagt, um die Asylanträge zügig zu bearbeiten.

Das Abkommen gaukelte eine Lösung vor, indem es die massive Umlastung von oben nach unten als partnerschaftliche Übereinkunft tarnte, von der nie die Rede sein konnte. Griechenland war im Rahmen des Flüchtlingspakts stets die Rolle eines Zwischenpuffers zugedacht, der alles abfedern sollte, was die Türkei an Flüchtlingen nicht aufhält. Dadurch mußte das Land letzten Endes ausbaden, was die übrigen EU-Staaten nicht übernehmen wollten und an Zusagen nicht einhielten. Das mit 6 Milliarden Euro an Ankara und über 2 Milliarden an Athen erkaufte Abkommen wurde als Erfolgsmodell gepriesen, und die EU erklärte die sogenannte Flüchtlingskrise offiziell für beendet. Die Türkei hat ihren Teil des Abkommens erfüllt und nicht zuletzt aus eigennützigen Gründen 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, mehr als alle anderen Länder zusammengenommen. Griechenland hat jedoch nur sehr wenige Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt, wobei völlig unklar ist, ob dort überhaupt Zwangsrückkehrer in größerer Zahl aufgenommen würden. Ein Memorandum, das Griechenland im Frühjahr 2019 mit dem Appell an die EU schickte, sofort 20.000 Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen, blieb unbeantwortet.

Eintreffende Flüchtlinge werden de facto in den katastrophal überfüllten Lagern auf den fünf griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos gefangengehalten, die sie bis zum Abschluß ihres Asylverfahrens, das sich unabsehbar lange hinziehen kann, nicht verlassen dürfen. Unterdessen stecken die Menschen in einer in jeder Hinsicht erbärmlichen und menschenunwürdigen Falle. Es fehlt an Unterkünften, Schlafplätzen, sanitären Anlagen, ausreichender ärztlichen Versorgung, zügiger Essensausgabe, bei Regen steht alles unter Wasser, es kommt zu sexuellen Übergriffen und nun auch noch die Corona-Pandemie hinzu.

Verantwortlich für diese verheerenden Verhältnisse sind die EU wie auch die Regierungen in Ankara und Athen, die ihre Interessen zu Lasten geflohener Menschen durchsetzen. Ist vom Versagen eines Systems die Rede, das nie funktioniert hat und nie funktionieren wird, so greift selbst diese Kritik zu kurz. Es handelt sich vielmehr um eine Kriegsführung gegen Flüchtlinge, die aus Perspektive der EU abgewehrt, in Lager gesteckt und durch ein grausames Regime abgeschreckt werden sollen. Diese Strategie wurde von der Syriza-Administration mitgetragen und wird nun unter der Regierung der konservativen Nea Dimokratia in verschärfter Form fortgesetzt. Griechenland dient sich abermals als Scherge der EU an, indem die geflohenen Menschen auf brachialste Weise drangsaliert werden. Das kommt in Brüssel und bei den europäischen Regierungen sehr gut an, die Athen der Form halber milde rügen, aber zugleich lobend dafür auf den Rücken klopfen, daß die Drecksarbeit so energisch erledigt wird.

Die Regierung Mitsotakis geht mit harten Bandagen gegen Asylbewerber vor. Als die Türkei Ende Februar eine gewisse Zahl von Flüchtlingen an die Land- und Seegrenzen Griechenlands verfrachtete, riegelte Athen die Grenzen ab und setzte im März erstmals in Europa das Asylrecht aus. Obgleich es seit April offiziell wieder angewandt wird, liegt die Zahl der Ankünfte um 97 Prozent niedriger als im April 2019. Die griechische Küstenwache verfolgt eine Politik der "aggressiven Überwachung", um Flüchtlinge an der Einreise zu hindern.

Dabei ist sehr viel Geld im Spiel, das im Namen der Flüchtlinge ausgegeben wird, doch in der Regel am allerwenigsten den Betroffenen zugute kommt. So wird der Grenzzaun am Evros-Fluß baulich erweitert und das dort stationierte Personal erheblich verstärkt. Nach Einstellung von 400 neuen Beamten bewachen nun 1100 Polizisten die Landgrenze, die nach Angaben der Regierung mit Helikoptern, Drohnen und Wärmebildkameras "versiegelt" werden soll. Der Verlängerung des knapp zehn Kilometer langen Grenzzauns auf 26 Kilometer stimmt auch die größte Oppositionspartei Syriza rückhaltlos zu.

Deren früherer Parlamentspräsident Nikos Voutsis hatte im Mai 2017 noch erklärt: "Niemals haben Zäune die Migration von Menschen stoppen können." Heute sagt er: "Der Zaun am Evros muss und wird errichtet werden. Da gibt es keine Zweifel daran, dass ein Zaun existieren muss." Für Voutsis galt damals: "Diejenigen, die Grenzen geschlossen halten, und damit diese Menschen außen vor lassen wollen, werden im Inneren den wirklichen Feind finden. Dieser heißt Faschismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ... Europa braucht keine Grenzen, keinen religiösen Fundamentalismus ... sondern Brücken des Friedens, der Solidarität und der vielfältigen Kultur."

So ändern sich die Zeiten, und mit ihnen die Positionen von Syriza. Das gilt auf höchst profitable Weise auch für den Vizepräsidenten des EU-Parlaments Dimitris Papadimoulis, der damals eine ergreifende Rede hielt, in der er eine europäische Lösung zur Flüchtlingskrise forderte. Als er 2004 ins griechische Parlament kam, wies seine Vermögenserklärung 200.000 Euro Spareinlagen sowie die Hälfte eines 1000 Quadratmeter großen Feldstücks in Marathon auf. Seit 2016 verfügt er jedoch über mehr als eine Million Euro auf seinen Konten und heute nennt er 28 Immobilien sein eigen. Im Jahr 2018, als die Griechen unter dem Sparzwang der Syriza-Regierung litten und Immobilien oft zu Schleuderpreisen verkaufen mußten, erwarb er sechs seiner acht in Athen befindlichen Mietwohnungen und übertrug zwei weitere direkt nach dem Kauf an seine Kinder. Um die Nutzung der Immobilien mußte sich Papadimoulis keine Sorgen machen, sie wurden an die NGO Solidarity Now für die Beherbergung von Flüchtlingen vermietet.

Die NGOs traten seit 2015 vermehrt auf den Plan und fingen Migranten auf, die von der Regierung Tsipras zwar ins Land, aber danach im Stich gelassen wurden. Auch die EU setzte auf die Effektivität der NGOs, als Nothelfer das Problem zu dämpfen, was sie jedoch zur Zielscheibe von Gegnern der Flüchtlingspolitik machte. Schon zu Oppositionszeiten zählte die heute regierende Nea Dimokratia zu den Hauptkritikern der insgesamt 320 NGOs, auf die die Regierung nun 40 Fahnder der Steuerfahndung, der Kriminalpolizei und der Transparenzbehörde angesetzt hat. Gleichzeitig wurde jedoch im neuen Asylrecht ein Passus eingebaut, der dem Immigrationsministerium einen geheimen Etat zubilligt, dessen Ausgaben ohne Ausschreibung erfolgen können.

Die Nea Dimokratia will Asylbewerbern offensichtlich das Leben so schwer wie möglich machen. So werden die Posten von Lagerdirektoren bevorzugt mit Personen besetzt, die ihre Abneigung gegen den Islam als Religion bereits öffentlich verbreitet haben. Nach einer während der Corona-Pandemie verabschiedeten Novelle des Asylgesetzes sind jetzt pauschale Ablehnungen ohne Einzelfallprüfung, sondern allein aufgrund der Herkunft des Antragstellers möglich. Ein Einspruch gegen diese Bescheide muß innerhalb der nun gesetzlich verkürzten Frist von zehn Tagen erfolgen. Dies war den Lagerbewohnern jedoch aufgrund der Ausgangsbeschränkungen unmöglich. [2]

Nicht alle Migranten in Griechenland leben unter den schrecklichen Bedingungen auf den Inseln der östlichen Ägäis: Von insgesamt 120.000 Flüchtlingen auf griechischem Boden leben etwa 22.000 in Häusern, Hotels oder Wohnungen, wobei das Programm ESTiA ("Zuhause") vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR verwaltet und von der Europäischen Kommission finanziert wird. Die Regierung hat jedoch beschlossen, die Aufenthaltsdauer in den Wohnungen zu verkürzen, um Platz für andere Migranten zu schaffen und den Druck auf die Flüchtlingslager zu verringern. Das führte dazu, daß nun Tausende Migranten - unter ihnen Kinder, Behinderte und anderweitig schutzbedürftige Menschen - auf der Straße landen. Ohne das Recht auf wirtschaftliche Unterstützung drohen sie obdachlos zu werden. Nach Angaben des UNHCR handelt es sich um 8.500 Personen, lokale Medien sprechen von rund 10.000. Das Programm ESTiA wurde im Laufe der Zeit mit 496 Millionen Euro finanziert, doch über die Regeln und Förderungsparameter bestimmt die griechische Regierung.

Die Stadtverwaltung von Athen, antirassistische Kollektive und Organisationen, die in der Aufnahme von Migranten tätig sind, bemühen sich um provisorische Unterkünfte und grundlegende Hilfe für Bedürftige. Wie die unabhängige Zeitung Efsyn schreibt, bestehe die Gefahr, daß öffentliche Plätze und Parks von Athen und anderen griechischen Städten mit Flüchtlingen und Obdachlosen gefüllt werden. "Das Ergebnis könnte verheerend sein. Und nicht nur für die Flüchtlinge". Die Zeitung wirft der Regierung vor, sich der Politik "fremdenfeindlicher extremistischer Gruppen" anzuschließen. Sie stelle die Entscheidung als mutige Politik dar, obwohl sie de facto "auf die dringende Notwendigkeit zurückzuführen" sei, "die Entstauung der Inseln voranzutreiben, auf denen sich ihre Wahlbasis befindet". [3]

Zudem hat ein internationales Rechercheteam unter Leitung der Deutschen Welle und Bellingcats nachgewiesen, daß im Zuge eines Push-Back illegale Abschiebungen in die Türkei vorgenommen werden. Die von den Betroffenen unabhängig voneinander getroffenen Aussagen ergeben ein klares Muster: Alle sind männlich, unter 30 Jahre alt und allein. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, einige aus Pakistan und Nordafrika. Sie wurden entweder im Lager von Diavata bei Thessaloniki festgenommen oder scheinbar zufällig in der näheren Umgebung von der örtlichen Polizei aufgegriffen. Unter Vorwänden, ihre Papiere müßten auf der Wache überprüft werden oder daß sie dort neue Papiere bekämen, wurden sie in Polizeifahrzeugen verschleppt und an die Grenze verfrachtet. Es handelt sich demnach erstmals um dokumentierte Push-Backs aus dem Landesinnern und sogar aus einem Flüchtlingslager ohne jedwedes formale Abschiebeverfahren, was gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt.

Nachgewiesen wurden auch Push-Backs in der Ägäis, wo Neuankömmlinge auf Samos von der Polizei festgehalten wurden, die ihre Telefone beschlagnahmte und die Menschen dann auf Rettungsflößen ohne Motor oder Paddel in türkische Gewässer zog, wo sie schließlich von der Küstenwache übernommen wurden. Wie andere EU-Grenzstaaten sieht sich auch Griechenland seit langem Vorwürfen ausgesetzt, illegale Abschiebungen durchzuführen. Für Dimitris Christopoulos, bis vor kurzem Präsident der Internationalen Föderation für Menschenrechte, wirft die neue Schwere der Vorfälle und die Zahl der Zeugen die Frage auf, inwieweit griechische Behörden die Push-Backs genehmigt haben und wieviel die EU darüber weiß, was an der Grenze geschieht. Man muß wohl von einer rhetorischen Frage sprechen, wenngleich die Regierung in Athen behauptet: "Die Vorwürfe zu Menschenrechtsverletzungen durch griechische Sicherheitskräfte sind erfunden, falsch und nicht bewiesen." [4]


Fußnoten:

[1] www.proasyl.de/thema/fluechtlinge-in-griechenland/

[2] www.heise.de/tp/features/Schlechte-Zeiten-fuer-Asylbewerber-in-Griechenland-4768638.html

[3] de.euronews.com/2020/06/01/wir-landen-auf-der-stra-e-bis-zu-10-000-migranten-in-griechenland-werden-heute-obdachlos

[4] www.dw.com/de/neue-beweise-für-illegale-abschiebungen-von-griechenland-in-die-türkei/a-53523933-0

4. Juni 2020


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