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REPRESSION/1654: NSU - Zusammenhänge und Folgen ... (SB)



"Blood & Honour", "Combat 18", "Kameradschaft Kassel": Die rechtsextreme Szene in Nord- und Osthessen ist gewaltbereit und gut vernetzt. Spätestens seit dem Mordfall Lübcke und dem Anschlag von Wächtersbach sind die Behörden wachgerüttelt.
Deutschlandfunk über ein "Klima des Hasses" und "Terror von rechts" [1]

Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Wohnhauses mit einem Kopfschuß aus nächster Nähe getötet. Er hatte bei einer Bürgerversammlung im hessischen Lohfelden am 13. Oktober 2015, wo über eine geplante Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber diskutiert wurde, auf aggressive Zwischenrufe mit dem Satz reagiert: "Da muß man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist, das ist die Freiheit eines jeden Deutschen." Für diese Worte erntete er wüste Beschimpfungen, und nachdem ein Video über diese Szene ins Netz gestellt worden war, erhielt Lübcke zahlreiche rechtsextreme Drohungen. Aus diesem Grund stand nach dem Mord zwangsläufig der Verdacht im Raum, der Täter gehöre diesem Milieu an. Die Polizei sprach indessen wie üblich von Ermittlungen "in alle Richtungen". [2]

Die Medien spekulierten zunächst eher über einen Zusammenhang im privaten Umfeld, da der Tatort angeblich verändert worden war. Erst als dort gefundene DNA-Spuren den vorbestraften Neonazi Stephan Ernst als mutmaßlichen Täter überführten und dieser ein umfassendes Geständnis ablegte, wurde der rechtsradikale Hintergrund des Mordes bekannt. Ernst zog zwar sein Geständnis später wieder zurück, doch hatte er darin ein umfangreiches Täterwissen wie das Versteck der Mordwaffe preisgegeben, so daß an seiner Täterschaft kaum Zweifel bestehen dürften. Ungeachtet der sieben Vorstrafen, die den 45jährigen als Neonazi auswiesen, versteiften sich die Ermittlungsbehörden auf die These vom Einzeltäter. Wie es hieß, habe sich der frühere NPD-Kader vor zehn Jahren ins Privatleben zurückgezogen und sei nicht mehr einschlägig in Erscheinung getreten. Erst die Wut über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung habe ihn wieder aktiviert und im Alleingang zum Anschlag auf Lübcke veranlaßt. Im Juni erklärte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang vor dem Innenausschuß des Bundestags, die Behörden hätten Ernst seit 2009 nicht mehr intensiv auf dem Schirm gehabt. [3]

Daß Haldenwang seine richtungsweisende Aussage angesichts der Bedeutung und Brisanz dieses Falls nicht unbedacht aus dem Ärmel geschüttelt hat, muß man annehmen. Hier geht es nicht wie bei den meisten NSU-Morden um Mitbürger mit migrantischen Wurzeln, deren Angehörige von den Behörden jahrelang ungestraft ignoriert oder sogar bezichtigt werden konnten. Mit Lübcke wurde erstmals seit 1945 ein hochrangiger deutscher Politiker von Neonazis ermordet, was dem Staatsapparat aus verschiedenen Gründen eine dezidierte Reaktion abverlangt. Wenn selbst ein Regierungspräsident der CDU in seinem eigenen Haus nicht mehr vor solchen Angriffen sicher ist, muß dies in gehobenen bürgerlichen Kreisen und in den Parteien mehr als nur Unbehagen wachrufen. Dies mag erklären, warum in der Folge dann doch recht zügig ermittelt und der Verfassungsschutz auf gerichtliche Weisung zur Offenlegung einiger aktenkundigen Erkenntnisse gezwungen wurde. Daraufhin brach die These vom Einzeltäter zusammen und es zeichnete sich ein rechtes Netzwerk ab, dessen Existenz auch dem Verfassungsschutz bekannt war. Haldenwangs Versuch, den Bundestag und die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen, war bald zum Scheitern verurteilt.

Nach einem zwei Jahre währenden Rechtsstreit verurteilte das Verwaltungsgericht Wiesbaden das hessische Landesamt für Verfassungsschutz zu einer im Mordfall Lübcke sehr bedeutsamen Auskunft. Dabei wurde offengelegt, daß der Geheimbericht des Landesamts von 2014, in dem Erkenntnisse über die militante rechte Szene in dem Bundesland zusammengefaßt sind, den Neonazi Stephan Ernst insgesamt elfmal erwähnt. Dieser stand also zu diesem Zeitpunkt unter Beobachtung, was die anfängliche Behauptung des Verfassungsschutzes widerlegt, er sei seit 2009 nicht mehr in Erscheinung getreten. [4] Um zu erschließen, worauf dieser eklatante Widerspruch gründen könnte, hilft es weiter, Ereignisse im Jahr 2010 unter die Lupe zu nehmen. Damals war Ernst vom Amtsgericht Dortmund zu sieben Monaten Haft verurteilt worden, weil er im Jahr zuvor gemeinsam mit mehreren hundert weiteren Neonazis die Maikundgebung des örtlichen DGB mit Steinen und Holzlatten angegriffen hatte. Obgleich er früher wegen eines Bombenanschlags auf eine Asylunterkunft eine sechsjährige Jugendstrafe verbüßt hatte und damit einschlägig vorbestraft war, wurde die erneute Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Das legt den Verdacht nahe, daß es damals zu einer Absprache mit den Sicherheitsbehörden gekommen sein muß, aus der dann die Version eines angeblichen Rückzugs aus der rechtsradikalen Szene resultierte.

Ende Juni nahmen die Ermittler mit dem Neonazi Markus H. und dem mutmaßlichen Waffenhändler Elmar J. zwei mögliche Komplizen fest. Markus H. steht im Verdacht, den Kontakt zum Waffenhändler hergestellt zu haben, der Ernst die Tatwaffe verkauft haben soll. Elmar J. war zuvor nicht durch politisch motivierte Straftaten aufgefallen und dem Verfassungsschutz angeblich nicht bekannt. Wie der Generalbundesanwalt zunächst erklärte, hätten die beiden nichts von den Anschlagsplänen auf Lübcke gewußt. Auch diese Version erwies sich wenig später als Zerrbild, da Markus H. inzwischen unter dringendem Verdacht steht, gemeinsam mit Ernst Anschlagspläne geschmiedet und direkt in den Mordplan verwickelt gewesen zu sein. Wie es in einem Beschluß des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 13. September heißt, mit dem die Untersuchungshaft von Markus H. verlängert wird, habe sich dieser gemeinsam mit dem ihm seit langem bekannten Stephan Ernst spätestens ab 2014 weiter radikalisiert. Sie hätten eine rechtsradikale Gesinnung geteilt, an rechten Demonstration teilgenommen und im Schützenverein gemeinsam den Umgang mit Waffen geübt. Sie hätten sich gegenseitig darin bestätigt, "zur Abwendung der aus ihrer Sicht bedenklichen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland sich bewaffnen und nunmehr aktiv werden zu müssen". Markus H. habe spätestens seit Juli 2016 gewußt, daß Ernst ein Attentat plante. Er habe dessen "Motive und Ziele" geteilt und ihn darin bestärkt, "das Vorhaben tatsächlich auszuführen".

Da die Medien nach den anfänglichen Ablenkungsmanövern inzwischen doch Witterung aufgenommen hatten, folgten sie der Fährte und förderten rasch weitere Erkenntnisse zutage. Dabei handelt es sich wohlgemerkt um keine unzugänglichen oder gar geheimen Informationen, sondern vielmehr um Fakten, die von linken Antifaschisten seit langem bekanntgemacht werden und im Internet leicht zu finden sind - wenn man sich denn dafür interessiert, was in der Vergangenheit nur für einen recht überschaubaren Kreis galt. Nun berichtete auch das ARD-Politikmagazin "Panorama", daß Stephan Ernst und Markus H. jahrelang beim gewaltbereiten "Freien Widerstand Kassel" (FWK) aktiv waren und schon damals über die Beschaffung von Waffen und Sprengstoff diskutiert haben sollen. Ernst hat demnach bis mindestens 2011 an Aktionen des FWK teilgenommen und bis zuletzt Kontakt zur Szene gehabt.

Markus H. war 2006 vom Amtsgericht Kassel zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er in einer Gaststätte den Hitlergruß gezeigt und "Sieg Heil" gerufen hatte. 2009 beteiligte er sich gemeinsam mit Ernst am Überfall auf die DGB-Demo in Dortmund, wo er verhaftet, aber im Gegensatz zu Ernst nicht verurteilt wurde. Markus H. war es auch, der Ernst den Zugang zu Waffen und Schießübungen verschaffte. Obwohl er als Rechtsextremist bekannt und vorbestraft war, erteilte ihm das Verwaltungsgericht Kassel 2015 gegen den Willen der Stadtverwaltung die Erlaubnis für eine Waffenbesitzkarte mit Munitionsberechtigung. Ermöglicht hatte dies der Verfassungsschutz, der H. wahrheitswidrig bescheinigte, er sei fünf Jahre lang nicht mehr als Rechtsextremist in Erscheinung getreten. So gewann Markus H. seinen Rechtsstreit mit der Stadt Kassel, bekam zwei Waffenbesitzkarten inklusive Munitionserlaubnis und konnte mit Ernst, der selbst keine solche Karte hatte, das Schießen üben. [5]

Als Stephan Ernst die Ermittler nach seinem Geständnis zu einem Depot führte, wurden dort fünf Waffen gefunden, darunter der Revolver, mit dem Lübcke erschossen worden war, eine Pumpgun und eine Maschinenpistole der israelischen Marke Uzi. In der Trommel der Tatwaffe steckten demnach noch vier Schuß Munition und eine leere Hülse. Das Erddepot sei gut versteckt und womöglich auf eine langfristige Lagerung angelegt gewesen, hieß es. [6] Im August wurde dann aufgrund einer Kleinen Anfrage der Linken-Abgeordneten Martina Renner bekannt, daß Ernst, Markus H. und Elgar J. ein regelrechtes Waffenarsenal angelegt hatten. Bei den drei Beschuldigten seien insgesamt 46 Schußwaffen gefunden worden, außerdem weitere Gegenstände wie China-Böller, Messer und Sportbögen, teilte das Bundesinnenministerium mit. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Arsenal der Vorbereitung auf mögliche Anschläge dienen sollte.

Wie die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mitteilte, verdächtigt sie Stephan Ernst inzwischen auch, am 6. Januar 2016 einen Mordanschlag auf einen irakischen Asylbewerber verübt zu haben. Der Mann war von hinten mit einem Messer in den Rücken gestochen worden und hatte den Anschlag nur mit Glück überlebt, der sich lediglich 2,5 Kilometer von Ernsts Wohnhaus entfernt ereignete. Die Polizei hatte ihn bereits damals überprüft, doch wurde dies aus unerklärlichen Gründen nicht in den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten erwähnt.

Am 13. Oktober 2015 besuchten H. und Ernst dann gemeinsam die Veranstaltung in Lohfelden, auf der der später ermordete Walter Lübcke Flüchtlingsgegnern entgegentrat. Markus H. drehte darüber ein Video, das er auf Youtube veröffentlichte. Dieses Video löste eine rechte Hetzkampagne mit Todesdrohungen gegen Lübcke aus, die Stephan Ernst schließlich in die Tat umsetzte.

Alles deutet darauf hin, daß Stephan Ernst und Markus H. in einem umfassenden rechtsextremen Netzwerk verwurzelt sind, das wiederum von Dutzenden V-Leuten des Verfassungsschutzes und der Polizei durchsetzt war. Die Kasseler Neonazi-Szene unterhielt enge Kontakte zum NSU, der dort im April 2006 mit Halit Yozgat sein neuntes Opfer ermordete. Ernst agierte in Kreisen von Combat 18 und der NSU-Unterstützerszene, dürfte Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begegnet sein und war mit Benjamin Gärtner befreundet, der unter der Führung von Andreas Temme als V-Mann für den Verfassungsschutz arbeitete. Temme saß im Internet-Café von Halit Yozgat, als dieser ermordet wurde, und wechselte später ins Regierungspräsidium von Walter Lübcke. Näheres weiß der hessische Verfassungsschutz, dessen Akten nach dem Willen der hessischen Landesregierung aus naheliegenden Gründen jahrzehntelang unter Verschluß bleiben. Mögen sich auch diese und jene Namen ändern, der NSU-Komplex lebt als untotes Geschöpf der Geheimdienste fort.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/klima-des-hasses-terror-von-rechts-in-hessen.724.de.html

[2] www.wsws.org/de/articles/2019/09/21/lueb-s21.html

[3] www.jungewelt.de/artikel/361633.rechter-terror-lübcke-mörder-länger-im-visier-der-behörden.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/363462.fall-lübcke-auskunft-zu-geheimberichten.html

[5] www.freitag.de/autoren/der-freitag/elf-blinde-flecken

[6] www.spiegel.de/politik/deutschland/mordfall-walter-luebcke-hinweise-auf-rechte-gesinnung-bei-waffenverkaeufer-a-1288663.html

26. September 2019


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