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REPRESSION/1618: Chemnitz - besonders rechtslastig ... (SB)



Dass die neue Zelle in Chemnitz entstanden ist, zeigt auch, welche Ausmaße die rassistische Radikalisierung vor Ort angenommen hat und dass die Gefahr neonazistischer Gewalt hochpräsent ist.
Kerstin Köditz (Abgeordnete der Linkspartei im Sächsischen Landtag) [1]

Der Tag der deutschen Einheit steht im Zeichen eines Aufstiegs der Rechten, die auf dem Nährboden hegemonialer Ambitionen und repressiver Krisenbewältigungsstrategien der Bundesrepublik herangewachsen ist und nun die Ernte einfahren will. Der mit ökonomischen und militärischen Mitteln geführte Krieg um Ressourcen und Absatzmärkte, strategische Ausgangspositionen und Vorposten der Intervention, trägt maßgeblich dazu bei, Millionen von Menschen zu Flüchtlingen zu machen, deren Abwehr ganz oben auf der Agenda der Außenpolitik steht. Der Primat ungezügelten Wachstums und brachialer Exportstärke ist mit einer Verelendung durch Niedriglohnsektor und Hartz IV erkauft und macht das Erreichen jeglicher Klimaziele obsolet. Ein nationalistischer und sozialrassistischer Tenor aus der Mitte der Gesellschaft forciert eine Feindbildproduktion, die gesellschaftliche Widersprüche verschleiert, Fremde und Minderheiten als Zielscheiben kulturalistischer Aggression aufs Korn nimmt. Repressive Staatsräson nimmt die Linke in den Würgegriff, während sie die Rechte instrumentalisiert und protegiert. Die daraus resultierende Drift in reaktionäre Abgründe setzt populistische Reflexe frei, sich an die Spitze des Trends zu setzen, wodurch sie ihn um so heftiger befeuern. Am Ende des Weges wartet die so herangezüchtete Rechte, um das deutsche Volk in die Arme zu schließen und ihm seinen Stolz zurückzugeben, wenn es schon sonst nichts mehr zu verteilen gibt.

Sachsen, neben Thüringen die rechte Hochburg unter den Bundesländern, und namentlich Chemnitz, steuern zum 3. Oktober einen Kontrapunkt extremistischer Auswüchse bei, wozu die Bundesanwaltschaft den Taktstock schwingt. Diese hat in Sachsen und Bayern sechs Männer wegen des Verdachts der Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung festnehmen lassen. Die Gruppe "Revolution Chemnitz" soll Angriffe auf Ausländer, Journalisten und Politiker geplant haben und wollte sich demnach Schußwaffen besorgen, um am Tag der deutschen Einheit einen Anschlag zu verüben. Ziel der Gruppe sei ein Umsturz in der Bundesrepublik gewesen, in abgehörten Gesprächen war offenbar davon die Rede, daß die Mitglieder des NSU wie blutige Anfänger vorgegangen seien. Die Festgenommenen sollen sich als Elite der rechten Szene in Sachsen verstanden haben.

Die Beschuldigten gehören demnach zur Szene der Hooligans, Skinheads und Neonazis im Raum Chemnitz. Bei den sieben Festgenommenen und einem achten, der bereits einige Zeit in U-Haft sitzt, handelt es sich um Sachsen, meist berufstätig und sozial unauffällig. Einer war gerade auf dem Weg zur Arbeit auf Montage nach Bayern, als er festgenommen wurde. Nach Angaben der Ermittler haben die Verdächtigen in abgehörten Telefonaten und Chats darüber gesprochen, daß man "die Mediendiktatur und deren Sklaven" angreifen und die ganze Gesellschaft umwälzen wolle. Bei den Festnahmen und Hausdurchsuchungen wurden keine Schußwaffen, jedoch Schlagstöcke und sonstige Ausrüstung gefunden.

Einzelne Mitglieder der Gruppe sind offenbar seit längerem aktiv und betreiben bei Facebook seit Mitte Oktober 2013 die Seite "Revolution-Chemnitz ANW", auf der immer wieder Inhalte der Gruppe "Ein Prozent" geteilt wurden, die der rechtsextremen Identitären Bewegung nahesteht. Unter den Beiträgen finden sich auch Veranstaltungshinweise wie etwa zum Neonazi-Konzert im thüringischen Themar. Dort fand im Sommer 2017 das bisher größte derartige Konzert in Deutschland statt. In Chemnitz selbst gibt es bereits seit Jahrzehnten enge Verbindungen zwischen Rechtsextremen und Hooligans. Mitglieder der Hooligangruppe "NS-Boys" haben sich nach einem Stadionverbot des lokalen Fußballvereins neu organisiert, etwa bei "Kaotic Chemnitz". Inzwischen demonstriert das rechte Bündnis "Pro Chemnitz" regelmäßig in der Stadt, dessen Gründer Kontakte zu verbotenen Neonazi-Gruppen gehabt haben und unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen soll. Wie Fotos auf der Facebook-Seite nahelegen, waren die Mitglieder von "Revolution Chemnitz" bei den jüngsten Kundgebungen von "Pro Chemnitz" wie auch bei den rechtsextremen Demonstrationen in Köthen in Sachsen-Anhalt anwesend. [2]

"Revolution Chemnitz" trat erstmals öffentlich in Erscheinung, als nach dem Aufmarsch von "Pro Chemnitz" am 14. September eine selbsternannte Bürgerwehr auf der Schloßteichinsel mit Glasflaschen, Quarzhandschuhen und einem Elektroschocker Ausländer angriff und verletzte. Der 31jährige mutmaßliche Anführer Christian K. wurde daraufhin wegen besonders schweren Landfriedensbruchs festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Nach Einschätzung der Ermittler war dieser Vorfall der Probelauf für eine größere Aktion.

Die Radikalisierung, Bewaffnung und Gewaltbereitschaft rechtsextremer Gruppierungen wurde seitens der Sicherheitsbehörden lange unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung gehalten oder in seiner Bedeutung heruntergespielt. Wegen der Planung eines Bombenattentats auf die Einweihungsfeier des Jüdischen Zentrums in München verurteilte das Bayerische Oberste Landesgericht 2005 den Neonazi Martin Wiese zu sieben Jahren Haft. Wiese und drei mit ihm verurteilte Täter waren Mitglieder der rechtsextremen Vereinigung "Kameradschaft Süd". Der 2011 offiziell enttarnte "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) war mit zehn Mordopfern, 15 Raubüberfällen und mindestens drei Bombenanschlägen die bislang gewalttätigste rechtsradikale Terrorgruppe in der Geschichte der Bundesrepublik. Im Mai 2015 wurden die führenden Köpfe der "Oldschool Society" (OSS) festgenommen, die Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte, Moscheen und Angehörige der salafistischen Szene in Deutschland geplant hatten. Im März 2017 wurden drei Männer und eine Frau vor dem Oberlandesgericht München dafür zu Haftstrafen von drei bis fünf Jahren verurteilt.

Im März 2016 verhängte Bundesinnenminister Thomas de Maizière ein Verbot gegen die "Weisse Wölfe Terrorcrew", nachdem bei Mitgliedern Waffen und explosives Material gefunden worden waren. Die Gruppe bekenne sich "offen zu den Werten des Nationalsozialismus" und wolle "eine Diktatur nach diesem Vorbild errichten". Im März 2018 wurden acht Mitglieder der rechtsextremen "Gruppe Freital" zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Oberlandesgericht Dresden sprach sie unter anderem wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung schuldig und verhängte Freiheitsstrafen zwischen vier und zehn Jahren. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß die Gruppe in wechselnder Besetzung und Tatbeteiligung 2015 insgesamt fünf Sprengstoffanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und politische Gegner in Freital und Dresden verübt hat. [3]

Als Beate Zschäpe nach mehr als fünf Jahren Prozeß im Juli 2018 wegen der NSU-Mordserie und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, verließ der angeklagte Neonazi André Eminger den Gerichtssaal als freier Mann. Zwei Wochen später kam auch der frühere NPD-Funktionär Ralf Wohlleben auf freien Fuß. Beide haben nie mit ihren Kameraden gebrochen und gelten als Märtyrer der rechten Szene, die sich durch den NSU-Prozeß keineswegs eingeschüchtert fühlt, sondern im Aufwind befindet. Der offene Schulterschluß von Chemnitz, als AfD-Politiker Seite an Seite mit Neonazis marschierten, dürfte rechte Militante darin bestärkt haben, daß die Zeit gekommen ist, endlich aufs Ganze zu gehen.

André Eminger ist der Neonazi-Szene weiterhin verbunden und gilt offenbar als eine Art Heldenfigur, weil er als NSU-Unterstützer zur Tat geschritten ist und keine Reue gezeigt hat. Anfang August besuchte er in Kirchheim bei Erfurt das konspirative Abschiedskonzert zweier Musiker der Neonazi-Rocker "Turonen", die demnächst wegen des Angriffs auf die Ballstädter Kirmesgesellschaft 2014 mehrjährige Haftstrafen antreten. Die Gruppierung wird vom Verfassungsschutz beobachtet und hat immer wieder Großkonzerte in der Schweiz und in Thüringen organisiert. Die Zahl der Neonazi-Konzerte ist in den letzten fünf Jahren von rund 150 auf 260 gestiegen, wobei Thüringen und Sachsen einen Schwerpunkt bilden. Die Konzerte dienen nicht nur dem Gelderwerb, sondern spielen auch eine wichtige Rolle bei der Vernetzung militanter Gruppierungen wie "Blood & Honour" und "Combat 18". Erst kürzlich war bekannt geworden, daß sich "Combat 18", der bewaffnete Arm des in Deutschland verbotenen Neonazi-Netzwerks "Blood & Honour", weltweit reorganisiert und bewaffnet haben soll. [4]

Seitdem die extreme Rechte den gewaltsamen Tod von Daniel H. in der Nacht auf den 26. August in Chemnitz instrumentalisiert hat, haben unabhängige Opferberatungsstellen bundesweit 93 Vorfälle rassistischer, rechter und antisemitisch motivierter Gewalt und Bedrohung registriert. Diese Zahl umfaßt zwangsläufig nur Fälle, die auf die eine oder andere Weise öffentlich gemacht worden sind. Hinzu kommen mindestens 34 Vorfälle allein in Chemnitz, die von der Opferberatung der RAA Sachsen registriert worden sind. Wie es dazu hieß, steige das ohnehin schon viel zu hohe Niveau solcher Angriffe in einem besorgnisserregenden Maß weiter an. Die Allgegenwart rassistischer Hetze führe dazu, daß es für Geflüchtete, Familien mit Migrationshintergrund und schwarze Deutsche keine sicheren Orte mehr gibt. Sie müßten überall damit rechnen, von organisierten Neonazis, Rassisten oder rassistischen Gelegenheitstätern attackiert zu werden. [5]

Die Radikalisierung der Rechten schreitet dramatisch voran, ihre Hemmschwelle, mit massiver Gewalt vorzugehen, ist erschreckend gesunken. Hooligans, Skinheads und Neonazis schließen sich zu Gruppen zusammen, um mit schweren Gewalttaten Angst und Haß zu verbreiten. Gewachsene Strukturen kreuzen sich mit frischen Zellen, alte Kämpfer treffen sich wieder und bilden neue Allianzen, militante Netzwerke reorganisieren sich, auf die Präsenz des NSU in Sachsen und die "Gruppe Freital" folgt nun die "Revolution Chemnitz". Wie der rechte Aufmarsch in Dortmund oder die Präsenz von "Combat 18" in Schleswig-Holstein, Hessen und Nordrhein-Westfalen belegen, kann indessen von regionalen Ausnahmefällen in ostdeutschen Bundesländern keine Rede sein. Jahrelang als Fiktion ewig gestriger und irrelevanter Splittergruppen mißdeutet und verharmlost, ist "die Bewegung" längst in den Parlamenten und auf der Straße eine höchst reale Gefahr.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/deutschland/article181729564/Terrorgruppe-Revolution-Chemnitz-soll-rechtsradikalen-Umsturz-geplant-haben.html

[2] www.sueddeutsche.de/politik/mutmassliche-terrorgruppe-revolution-von-rechts-1.4152545

[3] www.tagesschau.de/inland/rechter-terror-103.html

[4] www.mdr.de/thueringen/nsu-unterstuetzer-neonazi-konzert-100.html

[5] www.verband-brg.de/index.php/161-pe-vom-25-09-2018-opferberatungsstellen-registrieren-unertraegliches-ausmass-rechter-gewalt-seit-chemnitz

2. Oktober 2018


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