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REPRESSION/1571: Weitere Repressionswelle in der Türkei (SB)



Mit Hilfe von Notverordnungen und der Verfassungsänderung zugunsten einer Präsidialdiktatur setzt Recep Tayyip Erdogan seine Machtergreifung Zug um Zug durch. Der Ausnahmezustand war am 20. Juli 2016, fünf Tage nach dem Putschversuch, verhängt und wiederholt für jeweils drei Monate verlängert worden. Auf dieser Rechtsgrundlage kann der Staatschef und de facto AKP-Vorsitzende per Dekret regieren und jegliche Zwangsmaßnahmen verfügen. So geht das türkische Regime weiter mit voller Härte gegen Regierungsgegner, Kritiker und Journalisten vor, verschärft ihre Kriegsführung gegen die Kurdinnen und Jesiden, bringt mit unablässigen Säuberungswellen alle maßgeblichen Institutionen des Landes unter seine Kontrolle.

Mit dem offiziellen Wiedereintritt Erdogans in die AKP ist in der Türkei die Zeit des parteiunabhängigen Staatspräsidenten zu Ende gegangen. Nachdem seine Parteimitgliedschaft durch das Referendum ermöglicht wurde, will der 63jährige bald auf einem Sonderparteitag auch wieder den Parteivorsitz übernehmen. Medienberichten zufolge plant Erdogan eine Säuberungswelle in der Regierungspartei AKP, von der er bislang abgesehen hat, um die Mehrheitsverhältnisse im Marionettenparlament nicht zu gefährden. Da Erdogan und Fethullah Gülen einst islamistische Brüder im Geiste waren, bis sich ihre Wege aufgrund unvereinbarer Vorstellungen vom Erlangen der Macht im Staate trennten, gibt es auch in der AKP nach wie vor mutmaßliche Sympathisanten des inzwischen verfemten Predigers wie auch verstohlene Kritiker der Übermacht des Präsidenten, die sich dieser nun ebenfalls vom Hals schaffen will.

Unter dem neuen Präsidialsystem soll der einflußreiche Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) umstrukturiert werden. Die Zahl der bislang 22 HSYK-Mitglieder wird in den kommenden Wochen auf 13 verringert werden, von denen das Parlament sieben ernennen darf. Die übrigen sechs werden direkt oder indirekt durch den Staatschef nominiert. Damit steht zu erwarten, daß Erdogan die Kontrolle über die Zusammensetzung des Gremiums ausübt, das für Ernennungen und Entlassungen im Justizwesen zuständig ist, und damit letzten Endes die gesamte Justiz des Landes unter seine Kontrolle bringen will.

Soeben haben die türkischen Justizbehörden die Entlassung von 107 weiteren Richtern und Staatsanwälten bekanntgegeben. Wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, wird ihnen wie immer in solchen Fällen pauschal vorgeworfen, Unterstützer der Gülen-Bewegung zu sein, die Ankara für den gescheiterten Militärputsch vom vergangenen Juli verantwortlich macht. Damit ist die Zahl der seit dem Putschversuch entlassenen Richter und Staatsanwälte auf 4238 gestiegen. Die Behörden gingen gegen Zehntausende mutmaßliche Kritiker oder Gegner insbesondere in der Armee, bei der Polizei und im Justizwesen vor. Es gab mehr als 47.000 Inhaftierungen, mehr als 100.000 Beamte wurden entlassen oder vorübergehend aus dem Staatsdienst entfernt. [1] Die jüngste Entlassung war vom Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte angeordnet wurde, der zudem eine Beschwerde gegen die entlassenen Juristen einreichte. Beobachter vermuten, daß dieser Schritt zu weiteren Festnahmen führen wird. Am vergangenen Wochenende waren bereits etwa 4000 Staatsbedienstete wegen mutmaßlicher Gülen-Verbindungen entlassen, wenige Tage zuvor mehr als 9000 Polizisten suspendiert worden. [2]

Unterdessen bestätigen Regierungskritiker die nach dem Ausgang des manipulierten Referendums befürchtete Verschärfung der Repression auf breiter Front. Die angesehene Kolumnistin Nuray Mert schrieb in der Hürriyet Daily News, die Repression sei so stark geworden, daß sie sich das demokratisch mangelhafte Regierungssystem der Vergangenheit zurückwünsche. Bei Kundgebungen am 1. Mai gingen die Behörden erneut gegen mutmaßliche Kritiker vor. Laut Medienberichten wurden bei Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten in Istanbul mehr als 200 Menschen festgenommen. Wie die Oppositionspartei CHP abermals kritisierte, hebe die Regierung mit Hilfe des Ausnahmezustandes die Grundrechte der Bürger auf.

Die Behörden ließen den Zugang zu dem Online-Lexikon Wikipedia sperren und schnitten die Bevölkerung damit von einer der meistgenutzten Internetseiten ab. Ein Gericht in Ankara begründete das Verbot mit Einträgen, in denen von türkischer Unterstützung für Dschihadisten in Syrien die Rede sei. Das türkische Kommunikationsministerium warf Wikipedia vor, sich an einer "Schmierkampagne" gegen die Türkei beteiligt zu haben. Gleichzeitig wächst der Druck auf türkische Medien weiter und erfaßt jetzt sogar die beliebten Heiratssendungen im Fernsehen, die per Erlaß verboten wurden. Die Fernsehaufsicht erlegte zwei Sendern zudem ein Bußgeld auf, weil die Modeschau der Dessous-Marke Victoria's Secret als "Teil der türkischen Tradition" bezeichnet worden sei. Damit schadeten die Sender der moralischen Entwicklung von Kindern, so die Begründung. [3] Wenngleich das Verbot einer Modeschau im Fernsehen fast schon wie eine Marginalie anmuten mag, ist es doch ein Mosaikstein in der umfassenden Säuberungs- und Repressionswelle, mit der das Regime Staat und Gesellschaft tiefgreifend durchdringen und nach seinem reaktionären, rassistischen und bigotten Entwurf umformen will.

Die EU-Kommission fordert die Regierung in Ankara dazu auf, eine ganze Reihe von Voraussetzungen zu erfüllen, wenn sie Fortschritte in den EU-Beitrittsverhandlungen sehen wolle. Dazu gehörten die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Ob die Verhandlungen ausgeweitet werden können, hänge von den Bemühungen der Türkei ab. Demgegenüber fordert Erdogan die EU mit harschen Worten zur Fortsetzung der Beitrittsgespräche mit seinem Land auf: "Ihr habt keine andere Wahl, als jene Kapitel zu öffnen, die ihr noch nicht eröffnet habt", sagte er in Anspielung auf bislang nicht angeschnittene Themenbereiche. "Falls ihr sie nicht öffnet: auf Wiedersehen."

Zugleich legt sich Erdogan mit den USA an, die er erneut wegen deren Unterstützung für die syrischen Kurden scharf kritisiert hat. Nachdem die türkischen Streitkräfte in der vergangenen Woche bei Luftangriffen auf kurdische Einrichtungen in Rojava und jesidische im Sindschar im Nordirak Dutzende Menschen getötet und zwei Sender zerstört hatten, übte Washington vergleichsweise harsche Kritik am eigenmächtigen und unangekündigten Vorgehen der türkischen Regierung. In den vergangenen Tagen waren dann US-Militärfahrzeuge nahe der türkischen Grenze in Nordsyrien aufgetaucht, wo sie demonstrativ kurdische Milizionäre schützten. Daraufhin droht Präsident Erdogan jetzt mit weiteren Angriffen und setzt dabei offenbar auf die Vereinbarungen mit Rußland und dem Iran zur Einrichtung von sogenannten deeskalierten Zonen. Die Kurdinnen und Kurden in Rojava und die Jesidinnen und Jesiden im Sindschar sind unmittelbar von einem Vernichtungskrieg bedroht, der zu den vordringlichsten Anliegen des Machthabers von Ankara zählt.


Fußnoten:

[1] http://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Erdogan-entlaesst-erneut-mehr-als-hundert-Richter-und-Staatsanwaelte-id40876406.html

[2] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-05/tuerkei-entlassungen-107-richter-staatsanwaelte

[3] http://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Erdogan-macht-nach-dem-Referendum-weiter-Kritiker-mundtot-id41332851.html

6. Mai 2017


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