Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


REPRESSION/1564: Wie "gemeingefährlich" können Autos sein? (SB)



Viel Zustimmung gab es für das Urteil im Berliner Raserprozeß. Das ist rein gefühlsmäßig gut nachzuvollziehen, haben doch viele Menschen schon erlebt, durch rücksichtslose Autofahrer etwa bei riskanten Überholmanövern auf der Landstraße in Lebensgefahr zu geraten. Raser leben sich zu Lasten anderer aus, und kommt es zum tödlichen Unfall, dann ist nichts wiedergutzumachen. Wer seine Befriedigung daraus zieht, die Straße zu ficken, wie sich einer der beiden zu lebenslänglicher Haft wegen Mordes verurteilten Raser in einem Handyvideo brüstet, der scheint es nicht anders verdient zu haben, als die volle Härte des Gesetzes zu spüren zu bekommen.

Mitten in Berlin mit 170 Stundenkilometern 11 rote Ampel zu überfahren heißt zweifellos, dabei "billigend in Kauf" zu nehmen, so das Gericht, daß Verkehrsteilnehmer wie das 69jährige Todesopfer in den Weg geraten, weil sie die Kreuzung gerade bei Grün überqueren. Die in den Kommentarspalten der Online-Presse vielfach geäußerte Genugtuung über das Strafmaß, laut dem die Täter für den Unfalltod des Mannes eine lebenslängliche Haftstrafe wegen Mordes verbüßen müssen, läßt jedoch außer Acht, welche Umstände noch alles für das Zustandekommen von Autorennen in Großstädten verantwortlich sind.

Da dabei das eigene Leben nicht minder aufs Spiel gesetzt wurde, konnte der vorsätzliche Charakter der Tat nicht ohne weiteres mit dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe erklärt werden. Von daher wurde das Urteil juristisch mit der "Verwendung eines gemeingefährlichen Mittels" begründet. Die Täter fuhren bei ihrem Rennen so schnell, daß sie keine Kontrolle mehr über ihre Fahrzeuge ausübten und damit zu einer Gefahr für die Allgemeinheit wurden. Ab wann jedoch wird ein Auto zu einem gemeingefährlichen Mittel? Darüber könnte weit umfassender diskutiert werden, als es im aktuellen Fall geschieht.

Schußwaffenbesitz ohne Waffenschein ist in der Bundesrepublik von vornherein ein strafwürdiges Vergehen. Der Staat besteht auf sein Gewaltmonopol und damit auch auf die Vollmacht, legal töten zu können. Der Kauf eines PKWs mit mehreren hundert PS, der in wenigen Sekunden auf ein Tempo von 100 Stundenkilometer beschleunigen kann und auch bei 200 km/h auf der Autobahn längst nicht sein Geschwindigkeitspotential ausgeschöpft hat, ist hingegen nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht, stellt man die politische Begünstigung der Autoindustrie durch den Staat in Rechnung. Obschon für den bloßen Zweck, motorisiert von einem Ort zum anderen zu kommen, dabei nicht witterungsabhängig zu sein und etwas transportieren zu können, völlig überflüssig, gelten derartige Fahrzeuge als Statussymbol. Sie werden einem meist männlichen Publikum mit leichtbekleideten Frauen schmackhaft gemacht und in den Medien voller Bewunderung für ihre vermeintliche technische Effizienz und rekordverdächtigen Leistungswerte ausgiebig zelebriert.

Im Unterschied zu Schußwaffen gelten sie dennoch als ein technisches Mittel für den motorisierten Straßenverkehr, das über die Straßenverkehrsordnung hinaus nicht in seiner Nutzung beschränkt wird. Zudem ist die Bundesrepublik praktisch das einzige Land der Welt, das über keine Höchstgeschwindigkeitsbeschränkung verfügt und mit den Bundesautobahnen auch ein Verkehrsnetz anbietet, auf dem käuflich erwerbbare Kraftfahrzeuge bis zu ihren Leistungsgrenzen ausgefahren werden können. Kurzum, die strukturellen und sozialen Voraussetzungen für die Nutzung des Automobils zur Kompensation all dessen, was der Mann ansonsten alles nicht ist, darf und kann, sind mit dem Konsum leistungsstarker Großverbraucher allemal gegeben.

Daß maskuline Aggressivität häufig per mechanischer, durch fossile Energie auf geradezu explosive Weise aufgeladener Kraftübersetzung abgeführt wird, bedarf keiner vulgärpsychologischen Vergleiche, um in seiner empirischen Evidenz zu überzeugen. Auch bei dem vieldiskutierten Phänomen der illegalen städtischen Straßenrennen sind fast immer junge Männer die Akteure. Sie ziehen es vor, den Kick des Geschwindigkeitsrausches nicht dort zu erleben, wo sie die legale Möglichkeit dazu hätten, sondern durch das Gefahrenmoment, das dem Mehrfachen der erlaubten Höchstgeschwindigkeit in Ortschaften entspringt, wie der Konkurrenzsituation des Rennens zusätzlich zu intensivieren. Die neoliberale Marktgesellschaft, die das Individuum auf den Kampf jeder gegen jeden drillt, ihm als Ersatz für die nie erlebte Freiheit das Privileg der freien Auswahl des Konsumguts anbietet, die Beschleunigung zum Sinnbild einer produktiven Lebensweise erhebt und den Brand fossiler Energie synonym mit Stärke in Krieg und Verkehr setzt, schafft mit der herrschenden Form von Mobilität und Energiestoffwechsel beste Voraussetzungen dafür, daß der Eindruck aufkommen kann, im Straßenverkehr herrsche Krieg.

Mit kleinen, am Gebrauchszweck motorisierter Mobilität ausgerichteten PKWs wären derartige Straßenrennen weit weniger attraktiv, und der Wagen des verstorbenen Unfallopfers wäre nicht 70 Meter weit durch die Luft geschleudert worden. Das auf der Straße herrschende Gewaltverhältnis wird nicht nur durch die Tatsache bestimmt, daß Autofahrer beim Zusammenprall mit Fußgängern oder Radfahrern in der Regel am längeren Hebel sitzen. Unter den PKWs selbst herrscht eine physische Hierarchie, die im Zweifelsfall über Leben und Tod entscheidet. Tonnenschwere SUVs, auf die in der Bundesrepublik mehr als 50 Prozent der Neuzulassungen entfallen, sind im Verhältnis zu Kleinwagen rollende Festungen, die alles plattmachen, was ihnen in den Weg kommt. Wer sich den hohen Kraftstoffverbrauch dieser Fahrzeuge leisten kann, kommt eher mit dem Leben davon als die Nutzer ökologisch weniger schädlicher und zudem raumsparender Citymobile, die nur geringes Gewicht haben und kaum über Knautschzonen verfügen.

Die verständliche Empörung über aggressive junge Männer, die sich am Steuer über alles hinwegsetzen, was sie vermeintlich einschränkt, ohne zu realisieren, daß ihre alltäglichen Ohnmachtserfahrungen ganz anderen Einschränkungen geschuldet sind als derjenigen, die ihnen die Straßenverkehrsordnung auferlegt, erfüllt mithin auch den Zweck, die Glorifizierung PS-starker Fahrzeuge und die dadurch aufrechterhaltene Funktion der Autoindustrie als eines Aktivpostens deutschen Wirtschaftswachstums vor Kritik zu schützen. In den Blick genommen wird lediglich das Unrecht der Tat, nicht jedoch der an anderer Stelle der Produktions- und Entsorgungskette nicht minder mörderische Verbrauch von vitalen Lebensressourcen durch den motorisierten Individualverkehr.

Gemeingefährlich daran ist vieles, das beginnt mit der Versiegelung der Erde durch breite Asphaltwege und Parkplätze, geht mit Blutzoll der 3000 menschlichen und Hunderttausenden tierlichen Todesopfer durch den Straßenverkehr weiter und hört mit der Privatisierung des öffentlichen Raum durch mobile Wohnzimmer noch lange nicht auf. Mit dem Strafrecht die zerstörerischen Folgen gesellschaftlicher Verwertungsverhältnisse zu kompensieren führt denn auch in eine Repression, die desto mehr auf die Schuld des einzelnen fokussiert, als die Kritik seiner Vergesellschaftung nicht mehr auf den Begriff gebracht wird.

2. März 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang