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REPRESSION/1542: Pogrome mit beschränktem Aufklärungsbedarf (SB)



Im zu Ende gehenden Jahr 2016 wurden in der Bundesrepublik mehr als 900 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte verübt, statistisch gesehen also fast drei pro Tag. Nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) wurden bis zum 27. Dezember bundesweit 921 solcher Attacken registriert, die in 857 Fällen einen rechtsradikalen Hintergrund gehabt hätten. Im Gesamtjahr 2015 lagen die entsprechenden Zahlen geringfügig höher, doch dürften sich die aktuellen Daten noch durch nachträgliche Registrierungen erhöhen. Damit haben sich die Angriffe im Vergleich zu 2014 nahezu verfünffacht, wobei das konstant hohe Niveau gegenüber dem Vorjahr nicht zuletzt deswegen dramatisch zu nennen ist, weil im ablaufenden Jahr deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Legt man die Zahlen des Registrierungssystems Easy zugrunde, erreichten 2015 etwa 890.000 Asylsuchende die Bundesrepublik, während es dieses Jahr bis Ende November rund 305.000 waren.

Hinter diesen unverdaulichen Zahlen verbergen sich fliegende Steine und Bierflaschen, Molotowcocktails, Brandfackeln, Böllerschüsse und Sprengstoffexplosionen, Körperverletzungen, Bedrohungen, Beleidigungen, Schmierereien und vieles mehr. Denkt man an die Gewalttaten in Hoyerswerda (September 1991), Rostock-Lichtenhagen (August 1992), Mölln (November 1992), Solingen (Mai 1993) und Lübeck (Januar 1996) zurück, bei denen Menschen zu Tode kamen, haben die rassistischen Pogrome inzwischen eine flächendeckende Wirkung erreicht. Wie viele Migrantinnen und Migranten aus solchen Motiven umgebracht wurden, ist nicht bekannt, da lange aus behördlicher Sicht kein Aufklärungsbedarf bestand oder nur zögernd eingeräumt wurde. So wurden die Fälle der rund 200 seit 1990 zumeist auf offener Straße erschlagenen Menschen ausländischer Herkunft erst im Kontext der bekanntgeworden NSU-Mordserie ab 2011 daraufhin untersucht, ob es sich um fremdenfeindliche Straftaten gehandelt haben könnte, die nicht länger als isolierte Einzelfälle unter den Teppich gekehrt werden dürfen.

Die gestiegene Wahrnehmung des Bedrohungsszenarios seitens der Sicherheitsbehörden dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß sich die Angriffe in zunehmendem Maße auch gegen nichtmigrantische Menschen wie Unterstützer, Hilfsorganisationen, Politiker etablierter Parteien, Kirchenvertreter, Behördenmitarbeiter und Journalisten richten. So erklärt BKA-Präsident Holger Münch in einem Interview für die Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft der Polizei (GdP):

Wir beobachten, dass Straftaten gegen Entscheidungsträger, Politiker, Betreiber von Flüchtlingsunterkünften und Helfer keine Einzelfälle sind. Es werden Menschen angegriffen, die, oft in ihrer Freizeit, anderen helfen wollen, sich für unsere Gesellschaft und das Zusammenleben engagieren. Das können wir nicht tolerieren.

Im Jahr 2016 habe die Polizei bereits im Sommer über 800 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger in Deutschland und mehr als 120 Straftaten gegen Hilfsorganisationen, ehrenamtliche und freiwillige Helfer verzeichnet. Der BKA-Präsident fordert, den deutlich zugenommenen Drohungen und Haßbotschaften in sozialen Netzwerken entschieden entgegenzutreten. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, daß das Internet ein strafverfolgungsfreier Raum sei. [1]

Das BKA erfaßt erst seit 2001 politisch motivierte Kriminalität von "rechts" zur "Ausländer/Asylthematik". Darin sind auf die "Unterbringung von Asylbewerbern" bezogene Delikte bei Demonstrationen, außerhalb von Unterkünften oder mittels Internet enthalten. Seit Januar 2014 werden direkte Delikte "gegen Asylunterkünfte" gesondert erfaßt. Was dem BKA und dem Bundesamt für Verfassungsschutz besondere Sorge bereiten dürfte, ist der deutliche Wandel im Spektrum der Täterschaft. In der Vergangenheit war die rechtsradikale Szene in so hohem Maße vom Geheimdienst infiltriert, daß nicht nur die NPD und der Thüringer Heimatschutz nicht selten Außenstellen der Dienste geglichen haben dürften. Wenngleich man davon ausgehen muß, daß diese Instrumentalisierung der Rechten ungeachtet der NSU-Affäre fortgesetzt wird, kommen doch in zunehmendem Maße weniger kontrollier- und steuerbare Täterkreise hinzu.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz befürchtet, "dass ein neuer organisierter Rechtsterrorismus entstehen könnte". [2] Auch BKA-Chef Holger Münch sieht die Gefahr einer Radikalisierung bei deutschen Flüchtlingsgegnern, wobei die Täter der Anschläge nicht nur "alteingesessene Rechte", sondern auch viele seien, die bisher nicht als politisch motivierte Straftäter aufgefallen waren.[3] Anfang Oktober warnte Bundesinnenminister Thomas de Maizière, daß zwei Drittel der ermittelten Tatverdächtigen in den jeweiligen Regionen wohnhafte Bürger seien, die sich bisher nichts zu Schulden kommen ließen. Eine Zivilisationsschranke sei gefallen, eine "klammheimliche Zustimmung" dürfe es nicht geben.[4]

Dem BKA zufolge handelt es sich bei den Tatverdächtigen vorwiegend um Männer im Alter zwischen 18 und 35 Jahren, wobei zwei von drei in ihrem eigenen Wohnort straffällig geworden seien. Zwei Drittel waren demnach polizeilich bekannt, ebenfalls zwei Drittel hatten bislang keinen Kontakt zum rechtsextremistischen Spektrum, während das übrige Drittel eindeutig der rechten Szene angehört. Man beobachte zudem die Bildung lokaler Netzwerke, die sich zu Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte verabredeten. Die Bildung terroristischer Gruppen werde so begünstigt. Laut Münch wird diese Entwicklung insbesondere durch die Alternative für Deutschland (AfD) befördert. Sie habe "Fremdenfeindlichkeit ... salonfähig gemacht", biete den ideologischen Nährboden und verleihe der Hetze einen legalen Anstrich. Rassisten hätten so das Gefühl, daß ihre Weltanschauung gesellschaftsfähig sei. Die Hemmschwelle zu entsprechenden Taten sinke. [5]

Im Oktober 2015 kritisierten die Kritischen Polizisten die geringe Aufklärungsquote und den fehlenden Willen zur Aufklärung der Straftaten. Daß sich daran bis heute offenbar nur wenig geändert hat, legt die Antwort der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern auf eine aktuelle Anfrage der Linksfraktion nahe. Demnach konnte die Polizei dieses Bundeslandes nur einen kleinen Teil der fremdenfeindlichen Angriffe auf Asylbewerber-Unterkünfte aufklären. Im Schnitt haben die Ermittler lediglich bei einer von rund vier Attacken Tatverdächtige ausfindig gemacht. Der Linksabgeordnete Torsten Koplin bedauerte eine "zu geringe Aufklärungsquote", wobei für ihn unverständlich sei, daß bei Angriffen auf Gemeinschaftsunterkünfte kein einziger Tatverdächtigter ermittelt wurde, obgleich diese Unterkünfte in der Regel bewacht würden: "Es ist doch ominös, dass der Wachschutz in den Fällen nichts zur Aufklärung der Tat beitragen konnte", so Koplin. [6]


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article160655659/Fast-1000-Anschlaege-auf-Fluechtlingsheime-in-diesem-Jahr.html

[2] Die Zeit, 28. August 2015: Kriminalität: Furcht vor neu organisiertem Rechtsterrorismus

[3] Deutschlandfunk, 11. Oktober 2015: Interview der Woche - "Dann fallen andere Einsätze mal hinten runter"

[4] Spiegel, 9. Oktober 2015: Flüchtlinge: De Maizière beklagt zunehmende Gewalt gegen Asylbewerber

[5] migazin.de, 5. September 2016: AfD Nährboden für Hetze - BKA-Chef befürchtet mehr Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte

[6] https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Angriffe-auf-Asylbewerber-Unterkuenfte-kaum-aufgeklaert,polizei4130.html

29. Dezember 2016


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