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REPRESSION/1414: Britische Regierung bestätigt Normalität des Ausnahmezustands (SB)



Mehrere Jahre lang hielt die britische Regierung sogenannte Terrorverdächtige in Hochsicherheitsgefängnissen fest, ohne daß sie über die Gründe ihrer Gefangenschaft in Kenntnis gesetzt worden wären oder man ihnen eine Entlassung in Aussicht gestellt hätte. Dies ermöglichten der Terrorism Act 2000 und dessen Verschärfung durch den Anti-Terrorism Crime and Security Act 2001. Diese schon Gesinnungsdelikte mit mehreren Jahren Haft bedrohenden Gesetze richteten sich ausschließlich gegen Ausländer.

2004 verwarfen die Law Lords des britischen Oberhauses, die oberste Berufungsinstanz des Vereinigten Königreichs, die zeitlich unbegrenzte Internierung des Terrorismus verdächtigter Ausländer ohne Richterbeschluß als unvereinbar mit der Europäische Menschenrechtskonvention und dem Habeas Corpus Act. Das führte 2005 zur Verabschiedung der Prevention of Terrorism Bill, mit dem sogenannte Control Orders eingeführt wurden. Sie berechtigen die Innenministerin, eine ganze Reihe schwerwiegender administrativer Einschränkungen über Briten wie Nichtbriten zu verhängen, die bis auf den Hausarrest ohne Beteiligung der Justiz erwirkt werden. Für den Fall einer Zuwiderhandlung drohen Haftstrafen von bis zu fünf Jahren Dauer.

Als Anlaß zum Verhängen einer Kontrollanordnung muß die Innenministerin lediglich "angemessene Gründe" dafür haben, eine Person "terrorismusbezogener Aktivitäten" zu verdächtigen. Auf welche Weise sie zu diesem Schluß gelangt, muß sie nicht belegen, da ihre Quellen unter Geheimnisschutz stehen. Die Betroffenen haben keinerlei Möglichkeit, die Gründe für diese Exekutivmaßnahme in Erfahrung zu bringen. Da die Innenministerin über einen breiten Katalog an Kriterien verfügt, anhand derer Menschen in Terrorverdächtige verwandelt werden können, handelt es sich um ein diktatorisches Gewaltmittel, mit dem sich Oppositionelle theoretisch fast nach Belieben aus dem Verkehr ziehen lassen.

Zur Qualifikation einer unbescholtenen Person zum Terrorverdächtigen und der damit verbundenen Aufhebung bürgerlicher Rechte reicht es aus, wenn der Betroffene andere Personen in deren angeblich terroristischen Verhalten "begünstigt", "ermutigt" oder "unterstützt", selbst wenn diese lediglich dafür "bekannt" sein sollen oder oder man von ihnen "vermutet", daß sie in "terrorismusbezogene Aktivitäten" verstrickt seien. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, über vermeintliche Staatsfeinde einen individuell zugeschnittenen Ausnahmezustand zu verhängen und sie einem feinabgestuften Katalog der Entrechtung zu unterwerfen.

Die ohne vorherige Einschaltung der Gerichte und ohne zeitliche Befristung verhängten "Kontrollanordnungen" können die Bewegungsfreiheit einer Person mittels eines Hausarrests weitgehend aufheben, sie aber auch daran hindern, ins Vereinigte Königreich einzureisen, es zu verlassen oder bestimmte Regionen des Landes zu besuchen. Zu den Bewegungsverboten kann sich die Auflage gesellen, den Behörden permanent durch eine elektronische Fußfessel per Satellit Aufschluß über den jeweiligen Aufenthaltsort zu geben. Weiterhin kann dem Terrorverdächtigen untersagt werden, mit der Presse über seinen Fall zu sprechen. Ihm kann der Kontakt mit bestimmten Leuten, die Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten oder die Nutzung des Telefons und Computers verboten werden. Ihm kann der Erwerb bestimmter Güter oder die Inanspruchnahme bestimmter Dienstleistungen untersagt werden, und er kann Opfer routinemäßig durchgeführter Hausdurchsuchungen werden. Mitbetroffen sind in allen Fällen Angehörige und Freunde, die hinsichtlich der den Terrorverdächtigen betreffenden Maßnahmen keinen größeren Rechtsschutz genießen als dieser.

Das von New Labour eingeführte Regime der Control Orders wurde vor allem von den damals oppositionellen Liberaldemokraten heftig kritisiert. Seit diese zusammen mit den konservativen Tories auf der Regierungsbank sitzen, hat sich ihr Widerstand gegen die jährliche Erneuerung des Gesetzes, die bei Notstandsmaßnahmen wie dieser erforderlich ist, deutlich abgeschwächt. Nun hat Innenministerin Theresa May angekündigt, zum Jahresende eine abgespeckte Version der Kontrollanordnungen in der angekündigten Reform der Antiterrorgesetzgebung zu verankern. Zwar sollen damit einige Vollmachten wie die eigenmächtige Verhängung der Maßnahme durch die Regierung entfallen, auch soll das Verbot elektronischer Kommunikationsmittel weniger leicht angeordnet werden können, dafür jedoch würde der rechtliche Ausnahmezustand zum gesetzlichen Normalfall.

Auch die von May angekündigte Einschränkung anlaßloser Kontrollen oder der 28tägigen Administrativhaft erfüllen keinesfalls die von der Regierung Cameron versprochene Wiederherstellung der durch die Antiterrorgesetze New Labours eingeschränkten Bürgerrechte. Die Verwandlung einer Notstandsmaßnahme in geltendes Recht kommt viel mehr einer Ermächtigung des Staates zur Anwendung massiver Repression gegen unbescholtene Bürger gleich, die in Zukunft keinesfalls auf sogenannte Terrorverdächtige beschränkt bleiben müssen. Wie das zivilgesellschaftliche Pendant der Control Orders, die von Magistraten unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Maßnahmen verhängten Anti-Social Behavior Orders (ASBOs), belegen, sind Anlässe zur Einführung von Sonderstrafen nicht schwer zu finden. Die soziale Malaise bringt nicht nur Normabweichungen hervor, die von der moralischen Mehrheit als sanktionswürdig erachtet werden, sie setzt viel mehr verschärfte Normen erwünschten Verhaltens, mit Hilfe derer irreguläre Entwicklungen präventiv unter Kontrolle gebracht werden sollen.

So handelt es sich bei der Etablierung der Kontrollanordnungen als reguläres Mittel administrativer Verfügungsgewalt um die Blaupause einer Ermächtigung, die sich als Zugewinn an Freiheit nur vor dem Hintergrund eines bereits erfolgten Verlustes geben kann, der im Kern bestehen bleibt. Wie groß dieser genau sein wird, ist noch offen. Die Ankündigung, das Regime der Control Orders nicht vollständig aufzuheben, sondern in ein reguläres System der Freiheitsberaubung unbescholtener Menschen zu überführen, das der Exekutive keine Rechtfertigung ihrer Entscheidungen und keine Offenlegung der Quellen des Terrorverdachts abverlangt, ist ein weiterer Beleg dafür, daß der Marsch in den totalen Sicherheitsstaat als Einbahnstraße konzipiert ist.

26. Januar 2011