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RAUB/1231: Sterbehilfe - kannibalistisches Streben ... (SB)



Sie hätten keinesfalls die Absicht, mit ihren Argumenten "eine in sich oder aus sich heraus logische Begründung für die Legalisierung des assistierten Suizids oder der Euthanasie" aufzustellen, erklären die schottischen Wissenschaftler zu Beginn ihres Fachartikels "Counting the cost of denying assisted dying" [1]. Was Dr. David Shaw, der an den Universitäten Basel und Maastricht lehrt, und Professor Alec Morton von der Universität Strathclyde am 10. März im Journal Clinical Ethics [2] veröffentlicht haben, läuft jedoch auf nichts anderes als das hinaus, was angeblich nicht intendiert sei. Frei nach der bekannten Formel "Man wird doch noch mal fragen können" führen die beiden Bioethiker drei Gründe dafür an, wieso die Inanspruchnahme ärztlicher Sterbehilfe nicht nur ein Recht jedes Menschen sein sollte, der sein Leben verkürzen möchte, sondern warum sich ein solcher Schritt individuell wie gesamtgesellschaftlich rechnet.

Mit der Erlaubnis des assistierten Suizids werde sterbewilligen PatientInnen die Möglichkeit gegeben, unnötiges Leid zu vermeiden. Diese Grundforderung der wachsenden Schar von WissenschaftlerInnen und PatientInnen, die die Legalisierung der ärztlichen Sterbehilfe im Vereinigten Königreich wie in der Bundesrepublik [3] verlangen, formalisieren die beiden Wissenschaftler dadurch, daß sie "negativ qualitätsbestimmte Lebensjahre" zugrundelegen, deren Vermeidung Leid ersparen könnte. Diese Jahre wiederum könnten auf der anderen Seite PatientInnen zugutekommen, die gerne länger leben und dabei ihre Lebensqualität verbessern wollen.

Mit einer Gleichung, bei der die durch vorzeitiges Ableben eingesparten negativ qualitätsbestimmten Lebensjahre an anderer Stelle des Gesundheitssystems als positiv qualitätsbestimmte Lebensjahre wieder herauskommen, werden zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte willkürlich in direkten Zusammenhang gebracht. Was haben die Lebensprobleme und -wünsche zweier Individuen miteinander zu tun, die durch nichts anderes verbunden sind als die Eigenschaft, medizinische Hilfe beim von chronischem Mangel gezeichneten öffentlichen Gesundheitssystems Britanniens, dem National Health Service (NHS), zu suchen? Anstatt das Problem der Unterfinanzierung des Gesundheitswesens insgesamt zu adressieren, wird mit dieser willkürlich geschaffenen Abhängigkeit ein Notstand etabliert, den nicht die Gesellschaft, sondern möglicherweise sterbewillige PatientInnen zu beheben hätten.

Dabei tritt an die Stelle der Frage, wie mit dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt umgegangen wird und ob nicht der Staat, reiche BürgerInnen oder florierende Unternehmen die Kosten zur Sanierung des NHS übernehmen könnten, eine in jede Richtung tausch- und verfügbare Währung namens "qualitätsbestimmte Lebensjahre". Das allen Menschen in unterschiedlicher Dauer gegebene Leben wird vor dem Hintergrund eines nicht weiter hinterfragten Mangels in negativen Wert gesetzt. Um aus Minus Plus zu machen, so das Ergebnis der Gleichung, muß jemand vorzeitig sterben. Daß dies nur unter Einwilligung der betroffenen Person geschieht, setzen die beiden Bioethiker voraus. Dennoch müßte ihnen schon aus historischer Kenntnis bekannt sein, daß es dafür, daß dies immer und unter allen Umständen so sein wird, keinerlei Gewähr gibt. Das geht aus der volkseugenisch begründeten Vernichtung von PatientInnen im Euthanasieprogramm des NS-Regimes ebenso hervor wie aus den sozial bedingten Tötungen bereits geborener Säuglinge, die es zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Kulturen gegeben hat.

Um das Maß eines Nutzens vollzumachen, dem die fortschreitende Ausweitung der ärztlichen Sterbehilfe zum Mittel der Wahl zugrundeliegt, wenn Menschen ihr Leben als nicht mehr lebenswert erachten, wird als drittes Argument angeführt, daß vorzeitig Sterbende ihre Organe spenden könnten. Damit könnte eine "zusätzliche potentielle Quelle qualitätsbestimmter Lebensjahre" erschlossen werden, freuen sich die beiden Bioethiker, um summa summarum zu resümieren:

Alles zusammengenommen legt die kumulative Vermeidung negativ qualitätsbestimmter Lebensjahre und der Gewinn an positiv qualitätsbestimmten Lebensjahren nahe, daß die Erlaubnis des assistierten Sterbens auf substantielle Weise zum einen der kleinen Population, die assistierten Suizid oder Euthanasie in Anspruch nehmen möchte, und der größeren allgemeinen Bevölkerung zugute kommt. Daher wäre ein Verbot des assistierten Sterbens eine Lose-Lose-Situation für alle Patienten." [4]

Kannibalisiert wird mit dem Win-Win-Verhältnis legalisierter Sterbehilfe nicht nur das individuelle Leben von Menschen, die so verzweifelt sind, daß sie bereitwillig den finalen Giftbecher trinken, anstatt auch im Endstadium solidarische Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Die ganze Gesellschaft wird in ein sich selbst verzehrendes Verhältnis gesetzt, wenn medizinökonomische und bevölkerungspolitische Logiken in die kompensatorische Beseitigung von Menschen münden, denen auf gut bioethisch unterstellt wird, ihr Leben habe keinen "Benefit" mehr. Dafür, daß ein solches Denken in Zeiten permanenter Nahrungsmittelkrisen, ökologisch verschärften Ressourcenmangels und klimatisch forcierter Massenfluchten nicht auf globaler Ebene genozidale Konsequenzen zeitigt, gibt es keine zuverlässig belastbaren Gründe.

Derartige Fortschritte im bioethischen Diskurs bekannt zu machen ist schon deshalb erforderlich, weil in der Bundesrepublik viele liberal bis links eingestellte Menschen das Recht auf ärztliche Sterbehilfe für eine progressive Forderung halten. Mit der Quantifizierung des Lebens und seiner qualitativen Vergleichbarkeit werden jedoch faschistischen Maßnahmen der sozialen und demographischen Kontrolle Tür und Tor geöffnet. Gerade weil die Unauslotbarkeit individueller Existenz und menschlicher Subjektivität jeder Form von staatlicher Herrschaft und ökonomischer Ausbeutung im Wege stehen, werden Menschen auf den Leisten biopolitischer Verfügbarkeit geschlagen und Forderungen unterworfen, die nie die ihren waren.


Fußnoten:

[1] https://strathprints.strath.ac.uk/71186/1/Shaw_Morton_CE_2020_Counting_the_cost_of_denying_assisted.pdf

[2] https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1477750920907996?journalCode=ceta

[3] https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1227.html

[4] (in eigener Übersetzung) a.a.O.

19. März 2020


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