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RAUB/1224: Automobil - und darüber hinaus ... (SB)



Gewaltige Verkehrsmittel, Bauten und Werkzeuge entmachten den politischen Prozeß und zwingen den wehrlosen Menschen in ihren Dienst. Sobald das kritische Quantum des Energieverbrauches pro Kopf überschritten ist, muß die Erziehung für die abstrakten Ziele einer Technokratie an die Stelle der legalen Garantien für die individuelle, konkrete Initiative treten. Dieses Quantum ist die Grenze, an der Rechtsordnung und Politik zusammenbrechen und die technische Struktur der Produktionsmittel die soziale Struktur vergewaltigen muß
Ivan Illich - Fortschrittsmythen [1]

Bei der Forderung nach einem generellen Tempolimit auf Autobahnen geht es nicht nur um Fragen der Verkehrssicherheit und des Klimaschutzes. Nichts Geringeres als der Einstieg in den Ausstieg aus dem motorisierten Individualverkehr steht zur Disposition. Dafür gibt es viele gute Gründe, nicht zuletzt soziale, weil sich diese Form der Mobilität niemals auf alle Menschen übersetzen ließe. Eine Weltbevölkerung von acht Milliarden und mehr wird schon aus stofflichen und ökonomischen, aber auch klimapolitischen und infrastrukturellen Gründen niemals gleichberechtigt an einem System des motorisierten Individualverkehrs teilnehmen können. Vorprogrammiert mit der prognostizierten Ausweitung dieser Mobilitätsform ist eine Klassengesellschaft, in der die einen den angeblich allen Menschen zur gleichberechtigten Nutzung zustehenden öffentlichen Raum auf Rädern und hinter Glas durchqueren, während die anderen sich zur raumgreifenden Dimension ihrer mit tödlicher kinetischer Energie aufgeladenen Fahrzeuge defensiv zu verhalten haben.

Gleiches gilt für die anteilige Verwendung von fossilen oder erneuerbaren Treibstoffen als Antriebsenergie. Da deren Verbrauch mit zunehmender Geschwindigkeit exponentiell zunimmt, wird diese knappe Ressource für den privaten Nutzen in Anspruch genommen, die Zeit zur Überwindung einer Strecke zu verkürzen, und entfällt damit für sozial verträglichere Verbrauchsformen. Das bedeutet, wie der Philosoph und Begründer des Konvivialismus, Ivan Illich, 1973 in der Urfassung seines Textes über "Energie und Gerechtigkeit" erklärte, daß jenseits einer bestimmten Geschwindigkeit niemand Zeit sparen kann, ohne andere dabei zu benachteiligen. Man könnte auch von einem individuellen Geschwindigkeitskapitalismus sprechen, der materiell privilegierten Menschen ermöglicht, Lebenszeit durch eine Beschleunigung zu akkumulieren, die die davon Ausgeschlossenen mit den Folgen des überproportionalen Energieverbrauches belastet. Illich jedenfalls war schon damals klar: "Produktive Sozialbeziehungen unter freien Menschen bleiben auf das Fahrradtempo beschränkt" [2].

Die Versiegelung wertvoller Böden für Autobahnen, die nicht zu Fuß betreten werden dürfen und damit den Besitzern von Autos exklusiv vorbehalten bleiben, die Privatisierung des öffentlichen Raums durch mobile Wohnzimmer, die das direkte Umfeld zahlreicher Menschen bei der Passage von einem Ort zum anderen durchqueren und deren lokale Lebensqualität massiv verschlechtern, der Energie- und Rohstoffhunger der Baustoffindustrie, deren Zementproduktion zu den großen Emittenten von Treibhausgasen gehören, die Krankheit und vorzeitigen Tod bringende Vergiftung der Atemluft durch die Abgase fossiler Treibstoffe wie den aus dem Abrieb von Reifen und Bremsbelägen entstehenden Feinstaub, die Okkupation weiterer, auch zum Anbau von Nahrungsmitteln geeigneter Flächen zur Herstellung von Agrosprit oder Elektrizität, all das sind soziale und ökologische Verbrauchsfaktoren, die den motorisierten Individualverkehr insgesamt zum Problem erheben und nicht nur seine fossilistische Variante.

Denkt man an die zahllosen Wildtiere, die bei Autounfällen getötet werden, und schaut man auf andere Weltregionen, wird die Bilanz noch desaströser. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen [3] erliegen jedes Jahr etwa 1,35 Millionen Menschen einem tödlichen Verkehrsunfall, davon mehr als die Hälfte FußgängerInnen und ZweiradfahrerInnen. Verkehrsunfälle sind die Todesursache Nummer eins bei jungen Menschen im Alter von 5 bis 25 Jahren. Auf 20 bis 50 Millionen wird die Zahl dabei verletzter Menschen geschätzt, von denen viele dauerhafte körperliche Einschränkungen und Behinderungen davontragen. Die finanziellen Folgen dieser Unfälle belaufen sich laut WHO in den meisten Ländern auf drei Prozent ihres Bruttoinlandproduktes, zu entrichten natürlich auch von denjenigen, die sich kein Automobil leisten. 90 Prozent, also die weit überdurchschnittliche Zahl dieser Verkehrsunfälle, entfallen auf Länder mittleren oder geringen Wohlstandes. Doch auch in den reichen Industriestaaten fallen Menschen geringen Einkommens eher Unfällen zum Opfer als wohlhabende Personen, wie die Mentalität, sich eine fahrende Festung in Form eines SUV zuzulegen, illustriert.

Der Automobilismus ist eine, auf die mindestens 5000 Jahre menschlicher Zivilisationsgeschichte bezogen, noch sehr junge Entwicklung, hat die industrielle, sozialräumliche und gesellschaftliche Entwicklung der Welt jedoch fest im Griff. Dabei mußte er, wie in der sehr empfehlenswerten arte-Dokumentation Die Erdzerstörer dargelegt, erst gegen den Widerstand der Bevölkerung der Städte durchgesetzt werden, die sich ihr Recht, gefahrlos auf der Straße zu flanieren, nicht nehmen lassen wollten. Ein Konzernkartell setzte die Automobilisierung der urbanen Zentren planmäßig zu Lasten des in den USA damals noch gut ausgebauten, mit Straßenbahnen auf der Schiene verlaufenden Personennahverkehrs durch. In der Folge wurde der Städtebau primär durch die Automobilität geprägt, und Autobahnprojekte wie in Deutschland und den USA wurden zum Inbegriff der industriellen Moderne. Noch in den 1920er Jahren waren Demonstrationen gegen den Tod zahlreicher Kinder im motorisierten Straßenverkehr US-amerikanischer Städte an der Tagesordnung.

Der Protest gegen den Automobilismus findet heute wieder in Form von Fahrrademonstrationen statt, deren AktivistInnen die Straße für sozialökologisch verträgliche Verkehrsformen zurückerobern [4], er tritt in Kampagnen für einen kostenlosen Öffentlichen Personen- und Nahverkehr (ÖPNV) [5] hervor und wird in den Aktivitäten zahlreicher selbstorganisierter Initiativen für eine Mobilitätswende manifest [6]. Daher wird im Autoland Deutschland schon der Brandgeruch der Revolution gewittert, wenn die höchst sinnvolle und von einer Mehrheit der BürgerInnen unterstützte Maßnahme eines absoluten Tempolimits auf Autobahnen gefordert wird. Vehementen Widerstand dagegen leistet eine Gruppe von HerrenfahrerInnen, die nicht von ungefähr mehrheitlich männlichen Geschlechtes sind und das liberale Argument, sich in ihrer Freiheit nicht beschneiden lassen zu wollen, in Form eines hierarchischen Gewaltverhältnisses artikulieren, denn die Freiheit der vom Automobilismus betroffenen Menschen kommt in dieser Weltsicht nicht vor. Hier geht es nicht nur um das Interesse der Autoindustrie, auch weiterhin lukrative Geschäfte selbst in Ländern zu machen, in denen die Folgen des Straßenverkehrs weit tödlicher sind als in der Bundesrepublik. Auch die neokolonialistischen Rohstoffinteressen, mit denen die deutsche Regierung auch in Zukunft das steil abfallende Produktivitätsgefälle zum Globalen Süden bewirtschaften will, sind nicht die entscheidenden Faktoren für unbehindertes Rasen.

Es geht ganz fundamental um das Insistieren auf den motorisierten Individualverkehr, auf eine raumgreifende Verbrauchsform, deren Sozialbeziehungen an der schlichten Frage ausgerichtet werden, wer wen vor der Stoßstange hertreiben beziehungsweise im Rückspiegel zurücklassen kann. Dieses Verhältnis mutet nicht nur archaisch an, es ist die Fortschreibung einer primitiven Hackordnung, die im patriarchalen Kapitalismus einen Stand von Destruktivität erreicht hat, der auch die durch Gaspedal und Lenkrad zu Herren über Leben und Tod ermächtigten AutofahrerInnen zu verschlingen droht.


Fußnoten:

[1] Ivan Illich: Fortschrittsmythen, Reinbek bei Hamburg, 1978, S. 77 [1]

[2] a.a.O S. 82

[3] https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/road-traffic-injuries

[4] https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0123.html

[5] https://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0357.html

[6] https://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0100.html

12. Februar 2020


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