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RAUB/1139: Flucht - die anderen und wir ... (SB)



Keiner will Flüchtling sein, keiner auf der anderen Seite des Zauns stehen, der so oder so immer höher gezogen wird. Im Streit zwischen den Unionsparteien um die künftige Asylpolitik und ein Migrationsmanagement, dem das Lager die Signatur historischer Amnesie ist, geht es nur scheinbar um eine Machtfrage zwischen zwei Regierungsparteien. Wo die Verfügungsgewalt über die Frage, wer als Mensch dazugehört und wer nicht, zur Disposition steht, herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß diese nur in ganz bestimmten Händen liegen soll. Angesichts künftiger Verteilungs- und Ressourcenkämpfe verbleibt die Debatte, ob die Flüchtlingsabwehr unter dem Primat neoliberaler Ein- und Ausschließungslogik oder ganz offen als nationalchauvinistischer Kampf um die Fleischtöpfe organisiert werden soll, an der Oberfläche der seit Tagen geführten Debatte um die Zukunft der Union. Je höher dort die Wogen der Erregung schlagen, desto tiefer im kollektivem Vergessen versinken die 35.000 Todesopfer EU-europäischer Flüchtlingsabwehr.

Wie in einem Vexierspiegel bildet sich im Streit der Unionsparteien die ganze Palette sozialdarwinistischer Bürgerlichkeit ab. Mögen deren Farben in Sachen pro und contra EU auch scharfe Kontraste bilden, so ändert das nichts daran, daß die Parteien von AfD bis SPD und sogar Die Linke einen hegemonialen Block entschiedener Negation der Behauptung bilden, alle Menschen verfügten gleichermaßen über das Recht, in ihrer Würde respektiert und geschützt zu werden. In der hochproduktiven Industriegesellschaft der Bundesrepublik, die fast die Hälfte ihres Nationaleinkommens im globalen Handel verdient, wollen die meisten schlicht nicht wahrhaben, daß ihr Wohlstand auf einem Weltmarkt erwirtschaftet wird, auf dem das jeweilige Produktivitätsniveau darüber entscheidet, ob man von Lohnarbeit noch satt wird oder hungrig durch den Rost fällt.

Nähme man die VerfechterInnen einer rigiden Flüchtlingsabwehr beim Wort und die von ihnen vollzogene Differenzierung in humanitäre und ökonomische Fluchtgründe ernst, dann müßten sie ihrerseits darauf verzichten, in Staaten, deren BürgerInnen hierzulande nicht willkommen sind, weil sie über keinen anerkannten Fluchtgrund verfügen, Geschäfte abzuwickeln, die das Gefälle der Produktivitätsniveaus immer steiler werden lassen. Wenn materielle Not in einer Welt, deren Kriege wesentlich von den NATO-Staaten befeuert werden und deren neokolonialistische Ausplünderung maßgeblich von Westeuropa und Nordamerika ausgeht, nicht als Fluchtgrund gelten soll, dann sollte das auch die Auslagerung kapitalistischer Verwertungszwänge in die abgehängten Länder des globalen Südens in Frage stellen. Warum können Reisende aus Europa über den Köpfen der im Mittelmeer beim vergeblichen Versuch, in der EU Aufnahme zu finden, ertrinkenden Menschen zu deren Herkunftsorten reisen, ohne daß ihnen irgendwelche Probleme bei der Einreise gemacht werden? Nicht die Staatsbürgerschaft, sondern die Klassenzugehörigkeit entscheidet über Leben und Tod, gibt es doch auch hierzulande Menschen, die niemals einen Fuß in ein Flugzeug nach Afrika setzen werden, weil sie schlicht zu arm dafür sind.

Im Streit zwischen CDU und CSU geht unter, daß die politische Mitte nicht anders als die neue Rechte zu Praktiken der Freiheitsberaubung und Gewaltanwendung bereit ist, die in ihrer Brutalität zu verbergen kein humanitäres Mäntelchen groß genug ist. Die neue Barbarei ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, der die offen sozialdarwinistische Rechte willkommene Vorwände liefert, hinter denen die Menschenfeindlichkeit der Flüchtlingsabwehr verborgen werden kann. Wer dabei nicht mitmachen will, und sei es nur, weil er ahnt, daß der soziale Krieg auch seine Existenz in Frage stellt, muß sich klar darüber werden, auf welcher Seite des Zaunes er steht. Der flüchtende Mensch, der unter den Augen sich sonnender StrandtouristInnen ans rettende Ufer gelangt, um von dort aus möglichst schnell sicheres Hinterland zu erreichen, lebt in einer vollkommen anderen Wirklichkeit als die Bevölkerungen der EU. Für sie ist die Reisefreiheit so selbstverständlich, daß zu ihrer Würdigung bis heute die Leiche der DDR gefleddert werden muß, um nicht darauf zu kommen, daß sie für die meisten Menschen außerhalb der EU keine Gültigkeit besitzt.

Dieser Realität, die die im kalten Meer Ertrinkenden in aller vernichtenden Ohnmacht überkommt, auch nur flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken könnte daran erinnern, daß alle Sicherheit so relativ wie das Ende absolut ist. Um so erbitterter wird mit Zähnen und Klauen jener Rest verteidigt, der gegen den elementaren Einbruch des Hungers und den scharfen Schmerz, vom Kollektiv der Menschen ausgeschlossen zu sein, immun machen soll. Mit moralischen Forderungen oder der Erinnerung an das "C" im Namen der Unionsparteien kommt man da nicht weiter - es handelt sich unterschiedslos um Auswüchse einer Fluchtbewegung, die in der Abwehr realer Flüchtlinge darüber hinwegzutäuschen versucht, daß der Schmerz des anderen niemals vollständig ignoriert oder negiert werden kann, sprich für das eigene Leben nicht bedeutsamer sein könnte.

26. Juni 2018


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