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RAUB/1129: Müll - von Abfallkolonie zu Abfallkolonie ... (SB)



Die sogenannten hoch entwickelten Gesellschaften und Produktionsweisen der Industriestaaten zeichnen sich gegenüber dem als mehr oder minder rückständig diskreditierten Rest der Welt durch forcierte Stoffwechselprozesse aller Art aus. Sie vernichten weitaus mehr menschliche Substanz, beuten viel mehr Ressourcen aus und produzieren ungleich mehr Abfallstoffe, wobei sie aus ihrer Führungsposition in dieser unablässigen Umlastung die Ideologie ableiten, daß dies das einzig gültige Erfolgsmodell menschheitsgeschichtlicher Entfaltung sei. Macht's doch wie wir, predigen sie den Hungerleidern, als sorgten sie nicht mit Waffengewalt, Wirtschaftsmacht und politischer Einflußnahme unentwegt nach Kräften für den Fortbestand ihrer Vorherrschaft. Wo von Produktivkraftentwicklung und Wertschöpfung die Rede ist, als bringe Geistesleistung und Schaffensdrang wie aus dem Nichts zuvor nie Dagewesenes hervor, verschleiert dies eine entufernde Mangelproduktion, welche die Überlegenheit der Gewinner aus der Unterwerfung der Verlierer generiert und sich ausschließlich an ihr bemißt.

Nimmt man allein das Ende der Verstoffwechselung ins Visier, wo die aus dem unumkehrbaren Verbrauch resultierenden mehr oder minder schädlichen Feststoffe, Flüssigkeiten und Gase anfallen, zeichnet sich das exorbitante Ausmaß der ungelösten Probleme in aller Deutlichkeit ab. Klimawandel, verseuchte Gewässer und Böden oder schwimmende Kontinente aus Plastikabfällen auf den Ozeanen, überall schlagen die Folgen der imperialen Lebens- und Wirtschaftsweise auf die menschliche Spezies zurück, zuerst jedoch abermals auf deren schwächste Teile und zuvor noch auf eine Vielzahl anderer Lebewesen. Wohin mit dem Müll? Diese Frage beantwortet der Metropolenbewohner tagtäglich mit der allergrößten Selbstverständlichkeit: Wegwerfen! Daß sein Verstand in der Regel nur bis zur Biotonne, zum Wertstoffhof und zum Altpapierschreibblock reicht oder er sich gar mit Mülltrennung und Jute statt Plastik auf der sicheren Seite wähnt, mag viele Gründe haben. Der unangenehmste dürfte die leise Ahnung sein, daß sich Abgründe auftun, wo die Konfrontation mit der eigenen Existenzweise nicht länger gemieden wird.

Unter diesen Voraussetzungen löst die Nachricht ein kleines Erdbeben aus, daß die Chinesen unseren Abfall nicht mehr haben wollen. Den meisten Bundesbürgern dürfte bis dato überhaupt nicht bekannt gewesen sein, daß China nicht nur die Werkbank, sondern zugleich die weltgrößte Müllkippe Japans, Europas und der Vereinigten Staaten war. Aus den Augen, aus dem Sinn - die Ratio der vielzitierten Wegwerfgesellschaft greift plötzlich nicht mehr, weil die Volksrepublik wiederum einen Sprung nach vorn gemacht und einen Entwicklungsstand erreicht hat, auf dem die Funktion einer Entsorgungsdeponie für andere Länder obsolet geworden ist.

Aus heiterem Himmel kommt die jüngste Entwicklung nicht. Die Regierung in Beijing hatte der Welthandelsorganisation bereits Mitte vergangenen Jahres mitgeteilt, daß der Schutz der Umwelt künftig Vorrang habe. Seit Anfang Januar ist der Import von Abfall zum größten Teil gestoppt, ab 2019 gilt ein totales Einfuhrverbot für etwa 24 Sorten Müll, darunter Elektroschrott, Altpapier, Plastikabfälle, Textilreste, aber auch Schlacke aus der Stahlproduktion. Dafür gibt es mehrere Gründe. Als China insgesamt noch ärmer war, es an Rohstoffen fehlte und Umweltschutz keine Rolle spielte, nahm man anderen Ländern den Müll zur Restverwertung ab. Ein Elendsheer von Wanderarbeitern wühlte sich für einen Hungerlohn durch mit giftigen Stoffen versetzte Müllberge, um alles herauszufischen, was sich noch verwerten ließ. Ganze Landstriche lebten vom Ausschlachten importierten Elektroschrotts meist unter erbärmlichen Bedingungen. So wiesen Ärzte in der südchinesischen Stadt Guiyu bei 80 Prozent der untersuchten Kinder exzessiv hohe Konzentrationen an Blei im Blut nach. Was sich nicht wiederverwerten läßt, landet oft in Flüssen, auf Äckern und schließlich auf dem Teller. Wie in vielen anderen Weltregionen leben, arbeiten und sterben diese Menschen im und am Müll.

Zugleich konsumierte die einheimische Bevölkerung früher noch vergleichsweise wenig und warf nicht viel weg. Das hat sich nach wenigen Jahrzehnten hohen Wachstums dramatisch geändert, zwar bei weiten nicht für alle Menschen im Land, aber doch für erhebliche Teile der urbanen Bevölkerung. Die Löhne sind soweit gestiegen, daß sich die nachträgliche Mülltrennung mit der Hand kaum noch lohnt. Zudem produziert China inzwischen selbst 525.000 Tonnen Müll pro Tag, im Jahr 2025 werden es einer Schätzung der Weltbank zufolge 1,4 Millionen Tonnen sein.

Die rasante Industrialisierung im Zuge des Wirtschaftsbooms hat die Umweltprobleme massiv verschärft. Die konsumfreudige Mittelschicht in den großen Städten fordert immer lauter bessere Luft, sauberes Wasser, unbelastete Nahrung und beklagt sich zunehmend über die Verschandelung der Landschaft. Die Regierung zieht daraus die Konsequenzen und hat sich bei der Modernisierung der Wirtschaft auch den Kampf gegen die Umweltverschmutzung auf die Fahnen geschrieben. Ohne der Illusion Vorschub zu leisten, die Umweltproblematik sei irgendwo auf der Welt auch nur annähernd in den Griff genommen, darf man doch China ein Herangehen attestieren, von dem der Umweltschutz in westlichen Ländern zumeist nur träumen kann. Viele Milliarden Yuan werden in den Bau moderner Müllverbrennungsanlagen investiert, in drei Dutzend Städten wird demnächst Mülltrennung zur Pflicht. Allein in Beijing sollen 70.000 Arbeiter zu "Müll-Vorbildern" ausgebildet werden. Sie erhalten ein grünes Armband und zeigen ihren Mitbürgern, wohin Verpackungen, Restmüll, Glas und Kompost gehören. Zugleich sollen sie über die Einhaltung der Regeln wachen und dazu auch die Tonnen kontrollieren. Von einem radikal veränderten Bewußtsein zeugt auch die Maßnahme, 3,6 Milliarden Kubikmeter Müll aus einer unregulierten Müllkippe südlich der Hauptstadt wieder auszugraben, um sie korrekt verarbeiten zu lassen.

Die Industrieländer müssen sich also darauf einstellen, viel mehr anfallenden Müll selbst zu verarbeiten, denn bisher hat China ihnen jedes Jahr etliche Millionen Tonnen davon abgenommen. Die Müllimporte begannen in den frühen 1990er Jahren, als sich China zur Werkbank der Welt entwickelte. Mit Plastikspielzeug, Fernsehbildschirmen, Kühlschränken, Kleidung und Schuhen verließen riesige Containerschiffe die chinesischen Häfen. Sie kehrten mit Abfall vor allem der westlichen Industrieländer zurück, in dem sich viele verwertbare Rohstoffe befanden. So importierte China zeitweise mehr als 70 Prozent des weltweit anfallenden Elektroschrotts und fand auch für den Plastikabfall Verwendung. Allein im vergangenen Jahr hat die Volksrepublik rund 7,3 Millionen Tonnen Plastikmüll im Wert von 3,7 Milliarden Dollar eingeführt, das entspricht 56 Prozent der weltweiten Importe. Der meiste Plastikabfall stammt aus Japan und den USA, auf die jeweils 10 Prozent entfielen. Die beiden Länder sind auch Chinas größte Lieferanten von Altpapier. 2017 landeten 70 Prozent des gesamten Müllexports der EU in China und Hongkong. [1]

Deutschland hat im letzten Jahr über 800.000 Tonnen Kunststoffabfälle und damit fast die Hälfte der insgesamt angefallenen Menge dorthin verschifft. Seit der Wiedervereinigung hat sich hierzulande allein das jährliche Aufkommen an Kunststoffverpackungen von 1,6 auf 3,1 Millionen Tonnen fast verdoppelt, keine andere Verpackungsart legte derart zu. Der Plastikmüll landet in der Wertstofftonne, wird eingesammelt und in Sortieranlagen getrennt, schließlich gepreßt oder zu Granulat verarbeitet und zu einem erheblichen Teil nach China exportiert. Das ist nun vorbei, zunächst für unsortierte Abfälle und in Kürze wohl auch für die sortierten.

Der chinesische Bann trifft die deutsche Abfallentsorgung an empfindlicher Stelle. Das Recycling von Kunststoffen sollte eigentlich in den kommenden Jahren schrittweise zunehmen, derzeit müssen 36 Prozent der Plastikabfälle wiederverwertet werden, bis 2022 soll der Anteil auf 63 Prozent ansteigen. Parallel dazu arbeitet die Europäische Union an einem neuen Paket für die sogenannte Kreislaufwirtschaft mit dem Ziel, mehr Müll wiederzuverwerten. Die Entscheidung der chinesischen Regierung sorgt nun für heftige Turbulenzen im Recyclinggeschäft. Die Branche rechnet bislang mit Kosten zwischen 60 und 80 Euro, um aus Bergen von Verpackungsmüll je eine Tonne sortenreinen Kunststoff zu gewinnen. Was die Kosten betrifft, sind die Recyclate kaum konkurrenzfähig, gerade große Hersteller griffen lieber zu Rohware statt zu wiederverwertetem Material. [2]

Wenn das Umweltbundesamt konstatiert, daß man die aktuelle Entwicklung zum Ansporn nehmen sollte, zu einer besseren Kreislaufwirtschaft zu kommen, wird dieser Euphemismus der brisanten Situation eher nicht gerecht. Ganz davon abgesehen, daß es sich nicht um einen Kreislauf handelt, wenn Bruchteile der ursprünglichen Menge unter beträchtlichem Aufwand rückgeführt werden, wären flankierende Maßnahmen von politischer Seite erforderlich, um diesen Prozeß durch Subventionierung zu verstärken. Die schlechteste Lösung sei aber, künftig mehr Kunststoffe zu verbrennen, warnt die Behörde. [3] Längst machen Überlegungen die Runde, den überschüssigen Müll künftig in andere europäische Länder oder am besten gleich nach Indien zu exportieren. Irgendeine neue Abfallkolonie wird sich doch finden lassen!


Fußnoten:

[1] http://www.taz.de/!5433877/

[2] http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/abfallwirtschaft-china-hat-genug-von-europas-muell-1.3811255

[3] https://www.focus.de/finanzen/news/china-stoppt-importe-deutschland-bekommt-ein-muellproblem_id_8217532.html

5. Januar 2018


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