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RAUB/1127: Tafeln - Reparaturbetrieb des Armutsstaats (SB)



In Deutschland versorgen mehr als 900 Tafeln bis zu 1,5 Millionen Menschen regelmäßig mit Lebensmitteln. Etwa 60.000 Helfer engagieren sich in diesem Zusammenhang ehrenamtlich. Tendenz steigend. In den vergangenen 25 Jahren haben sich die Tafeln zur größten sozialen Bewegung der heutigen Zeit entwickelt, die Lebensmittel rettet und an Bedürftige weitergibt. Und dieses Vorbild wirkt weit über die Grenzen hinaus, sind doch nach diesem Muster die Wiener Tafel in Österreich, die Schweizer Tafeln, "Feedback" im südafrikanischen Kapstadt und eine Foodbank im australischen Sidney entstanden. [1]

Wenn Sozialverbände kritisieren, daß die Notwendigkeit von Tafeln ein Armutszeugnis für die Bundesrepublik sei, und die Ausgabe von Lebensmitteln Armut lindere, jedoch die Armut als solche und deren Ursachen nicht beseitige, kommt es sehr darauf an, welche Schlüsse daraus gezogen werden. So lobt der Deutsche Caritas-Verband die Arbeit der Tafeln als notwendige und gute Akuthilfe, betont aber zugleich, daß sie keine Dauerlösung sein könnten. Es wäre fatal, wenn die von der Politik gerngesehene Tafelbewegung dazu beiträgt, daß sich der Staat mit Hinweis auf die Bürgergesellschaft aus der Daseinsvorsorge seiner Bürger sukzessive zurückzieht. Tragen Tafeln, ohne dies zu beabsichtigen, zur Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich bei? Und steht zu befürchten, daß eine erfolgreiche Arbeit der Tafelbewegung den Impuls zu einer nachhaltigen und strukturellen Armutsbekämpfung um so mehr schwächt?

Ursula Hudson von Slow Food Deutschland kritisiert im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [2], daß die Politik die Verantwortung für ein soziales Problem auf ehrenamtliche Helfer abwälze. Die Tafeln versuchten, in einem schlechten System Gutes zu tun, und seien zu einer Dauereinrichtung geworden. In einem prosperierenden Land wie Deutschland zeuge dies von einer mangelnden Achtung vor den Menschen, aber auch vor der Natur und den Lebensmitteln. Die Politik sei gefordert, für angemessene Löhne und Renten zu sorgen wie auch den Umgang mit Lebensmitteln in der gesamten Kette von der Landwirtschaft über die Verarbeitung und den Handel bis hin zu den Verbrauchern im Sinne höherer Wertschätzung neu zu gewichten.

Wie in nahezu allen Aspekten der sozialen Frage fehlt es auch hier nicht an einer Offenlegung der herrschenden Armut, an fundierten Untersuchungen und dezidierten Vorschlägen, was zu tun sei. Dennoch verhallen die Appelle an die Politik ungehört, verschlimmert sich die Lage von Jahr zu Jahr ungeachtet aller Verweise auf Wirtschaftswachstum und sinkende Arbeitslosenzahlen. Mangelt es der deutschen Regierungspolitik an Kompetenz, gutem Willen oder finanziellen Mitteln, die um sich greifende Not einzudämmen und die ärmeren Bevölkerungsteile zu entlasten?

Das wäre höchst ärgerlich, aber andererseits zumindest insofern ein Lichtblick, als Abhilfe mittels des vertrauten Arsenals demokratischer Meinungsbildung und Einflußnahme nicht ganz auszuschließen wäre. Es steht jedoch zu befürchten, daß die Analyse tiefer zu greifen hat und Dinge zu Tage fördert, die mit der derzeit herrschenden Weihnachtsstimmung absolut inkompatibel sind. So sollte es doch kein Geheimnis sein, daß Deutschland seine Vormachtstellung in Europa insbesondere mittels eines rabiaten Arbeitsregimes auf Grundlage eines ausgeweiteten Niedriglohnsektors und verschärfter Sozialkontrolle erwirtschaftet hat. Senkung der Lohnkosten und Abbau des Sozialstaats waren weder Pannen noch Fehlentwicklungen eines ansonsten intakten Staatswesens zum Wohle aller, sondern aggressive Rettungsstrategien zur Fortschreibung der herrschenden Gesellschaftverhältnisse und profitgetriebenen Ökonomie in der Krise.

Mit dem Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung ist die Überantwortung derselben an die Bürgerinnen und Bürger oder die sogenannte Zivilgesellschaft als systematisch herbeigeführter Prozeß der Umlast und Dämpfung der verheerenden sozialen Folgen verbunden. Damit geht die in allen Lebenslagen anzutreffende Bezichtigung einher, für jegliche Mißstände und folglich auch ihre Behebung selbst verantwortlich zu sein. So kreuzt sich das an sich begrüßenswerte und nicht selten auch kritische Engagement an sozialen Brennpunkten mit einer Okkupation durch fremdnützige Interessen, die sich massenhafter ehrenamtlicher Arbeit als Instrument kostenloser Sozialarbeit mit Befriedungsfunktion zu bedienen trachten.

Die Einverleibung in das System, das man kritisch zu hinterfragen meint, dürfte sich meistenteils schneller und unbemerkter vollziehen, als der Kreis engagierter Bürgerinnen und Bürger es realisiert. Dies berührt bei den Tafeln unter anderem den Ansatz, den betroffenen Menschen über Lebensmittel hinaus womöglich auch eine Stimme zu geben, anstatt sie im doppelten Sinne abzuspeisen. Es betrifft die vielerorts stattfindende Übernahme sozialarbeiterischer Aufgaben durch die Tafeln, aber auch die wachsende Konkurrenz mit anderen Abnehmern kostenloser Lebensmittel oder die Praxis der Handelsketten, zunehmend Produkte kurz vor dem Verfallsdatum selbst verbilligt anzubieten, da deren Akzeptanz durch die Tafeln inzwischen etabliert worden ist. Die zündende Idee, Lebensmittel, die andernfalls weggeworfen würden, an Bedürftige zu verteilen, bedient sich einer vermeintlichen Nische im System, die nur solange Bestand hat, wie darin nichts heranwächst, was sich direkt oder mittelbar einer Verwertung zuführen ließe. Für ein Engagement an der Basis stellen sich daher vielfältige Fragen, die im Diskurs der Sozialverbände und -wissenschaften noch längst nicht hinreichend ausgelotet sind.


Fußnoten:

[1] https://www.tafel.de/ueber-uns/die-tafeln/geschichte/

[2] http://www.deutschlandfunk.de/armut-in-deutschland-tafeln-versuchen-in-einem-schlechten.694.de.html?

25. Dezember 2017


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