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RAUB/1105: Fossiler Liberalismus vs. sozialökologische Utopie (SB)



Ich bin eigentlich schon noch optimistisch, denn es bringt überhaupt nichts, pessimistisch zu sein, bevor tatsächlich es nicht mehr möglich ist, und selbst dann wäre es immer noch wichtig, die Schäden so stark zu begrenzen, wie es möglich ist.
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Wolfgang Lucht, Experte für Klimafolgenforschung am Potsdam-Institut, bleibt allen düsteren Aussichten zur Entwicklung des Weltklimas zum Trotz zuversichtlich. Um zu verstehen, warum sein Optimismus einzig einer zweckrationalen Erwägung über die Sinnhaftigkeit guter Gefühle entspringt, hilft die Klarstellung des ebenfalls am Potsdam-Institut tätigen Klimawissenschaftlers Ottmar Edenhofer weiter. Laut diesem Experten für Klimaökonomie ist das unterstellte CO2-Budget der Welt eigentlich heute schon aufgebraucht. Jede heute emittierte Tonne CO2 müßte kompensiert werden, um das Ziel, die globale Erwärmung auf weniger als 1,5 Grad gegenüber der Durchschnittstemperatur vor Beginn der Industrialisierung zu begrenzen, überhaupt noch zu erreichen [2]. Da die sich in Krisenkonkurrenz und Krieg verzehrenden Staaten den Ausstoß klimawirksamer Treibhausgase innerhalb weniger Jahre auf null fahren müßten, um diese im Weltklimaabkommen von Paris vereinbarte Grenze nicht zu überschreiten, wirkt der frohgemute Glaube an ihre Einhaltung wie das Pfeifen im Walde.

Die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Prognose und realpolitischem Wegducken könnte kaum größer sein, daß weiß auch Lucht, wenn er meint, irgendwann einmal müsse so etwas wie "ein Aufwachen bezüglich dessen, wie das 21. Jahrhundert gestaltet werden sollte, durch die Länder der Welt gehen". Da alle Fakten auf dem Tisch liegen, kommt der Auffassung, die Menschen steuerten sehenden Auges in die Katastrophe, keine geringere Relevanz zu.

Fossiler Liberalismus vs. Ökosozialismus

Angesichts dessen, daß in der Bundesrepublik eine Art fossiler Liberalismus den Ton angibt, laut dem jeder, der eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Autobahn einführen, den Tierverbrauch begrenzen oder das Abholzen von Wäldern untersagen will, ein Feind der Freiheit sei, stehen die Fürsprecherinnen und Fürsprecher radikaler Veränderungen ziemlich allein in der von Stürmen, Wasserfluten und Dürren verheerten Landschaft. Mit administrativen Mitteln die Emission von Treibhausgasen zu reduzieren ist in der Theorie notwendig, stößt aber in der Praxis auf Widerstände, in denen die klassische Parole aller Bleifüße, "Freie Fahrt für freie Bürger", ebenso widerhallt wie der Verdacht, systematisch einer Mangeldiktatur überantwortet zu werden.

Daß diese Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen ist, hat allerdings mehr mit der privatwirtschaftlichen Organisation der kapitalistischen Gesellschaft zu tun als einer mutmaßlichen Verschwörung, die sich das Ziel gesetzt hat, einen Großteil der Bevölkerung am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Einschnitte in den individuellen Lebensstil werden sich nicht vermeiden lassen, wenn die klimapolitischen Ziele halbwegs ernstgenommen werden, doch wer diese definiert und wer unter ihnen zu leiden hat, ist eben keine am Markt vermeintlich selbstregulativ getroffene Entscheidung. Die Strategie des grünen Kapitalismus, Emissionsbegrenzungen über den Preis zu regeln, so daß das Gros der Bevölkerung sich den eigenen Wagen und die tägliche Wurst schlicht nicht mehr leisten kann, läßt sich nur durch ordnungspolitische Maßnahmen verwirklichen, bei denen sich bestimmte Interessen zu Lasten anderer durchsetzen.

Die vermeintlich freiheitliche Haltung, seinen Verbrauch nach Belieben gestalten zu können, schließt diejenigen aus, die die dabei externalisierten Kosten in erster Linie zu tragen haben. Die Erwärmung der Atmosphäre, die als Speicher für die Abgase fossilistischer Industrien und Verkehrsformen fungiert, die Vergiftung des Trinkwassers, das als fast kostenloser Produktionsfaktor kontaminiert wird, die Verödung der Böden, die durch den Anbau von Futtergetreide für die Tiermast oder Biomasse für Agrosprit und Stromerzeugung ausgelaugt werden - nur ein Teil dieser Zerstörungen kann überhaupt durch kostenaufwendige Kompensationsmaßnahmen wettgemacht werden. Diese wären für die betroffenen Menschen und Tiere noch unerschwinglicher, als ihr Schutz im ersten Schritt einer Einstellung destruktiver Verbrauchspraktiken gekostet hätte, so daß die Ideologie des fossilen Liberalismus an ihrem langen Ende, also möglichst hinter dem Horizont nachvollziehbarer Kausalitäten, als tödliche Form von Aggression erkennbar wird.

So müßte zu Beginn jeder klimapolitischen Debatte die Eigentumsfrage gestellt werden, um überhaupt eine Ausgangslage herzustellen, die Raubzüge zu Lasten der großen Mehrheit der Menschen unmöglich machte. Will man kein defensives Krisenmanagement betreiben, bei dem die Politikerinnen und Politiker zum Jagen getragen werden müssen, weil sie nationale Privilegien und Standortvorteile verteidigen, während die großen Investoren und Unternehmen ihren Schnitt mit einem grün moderierten Akkumulationsregime machen, dann wäre eine Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse unabdinglich. Die Vermutung, daß dies auf eine sozialökologische Revolution hin zu einer ökosozialistischen Gesellschaft oder vergleichbaren Formen kollektiver Verbrauchs- und Wachstumsregulation hinausliefe, ist ebensowenig von der Hand zu weisen wie die Bedrohung durch ein Mangelregime, das die Zahl der Menschen, die bereits jetzt unter starken Einschränkungen ihrer materiellen Existenzsicherung zu leiden haben, rasant anwachsen ließe.

Die sozialökologische Utopie bedarf des Verzichts nicht

Beide Wissenschaftler, Lucht und Edenhofer, betonen die Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Braunkohleverstromung, der nach heutiger politischer Beschlußlage allerdings erst bis 2040 erfolgt sein soll. Die demgegenüber von Klimaaktivistinnen- und aktivisten erhobene Forderung nach einem sofortigen Kohleausstieg ist denn auch weit rationaler als das opportunistische Manövrieren einer Kohlelobby, die den Blick nicht auf die Dringlichkeit globaler Problembewältigung weiten will. Es bedürfte nur weniger Jahre, die Kohleverstromung durch die bereits gut ausgebauten erneuerbaren Energieen zu ersetzen, löste man das im Mittelpunkt der Bestandssicherung des Kohlestroms stehende Problem der dabei wegfallenden Arbeitsplätze. Der immer wieder angeführte "Systembruch", zu dem es bei einem schnellen Umstieg käme, betrifft die soziale Frage viel mehr als die Versorgungssicherheit einer Industrie, die nach Maßgabe eines rationalen Klimaschutzes eher schrumpfen als weiter wachsen müßte.

Kurz gesagt, es stehen zentrale Pfeiler eines, wie es in der Klimabewegung auch heißt, "imperialen Lebensstils" zur Disposition einer Veränderung, für die die antikapitalistische und internationalistische Linke seit jeher kämpft, wenn auch nicht unter dem Titel des Klimaschutzes. So wäre das zentrale Argument der Kohlelobby, der Erhalt einiger zehntausend Arbeitsplätze, mit einer sozialökologischen Planung allemal besser zu lösen als an einem Markt, der die Menschen zusehends in den Niedriglohn treibt oder sie unter sozialstaatliche Zwangsverwaltung stellt. "Climate Change, Not System Change" lautet eine der Parolen einer Klimabewegung, die, wie unausformuliert und indifferent auch immer, ein anderes Gesellschaftsmodell propagiert. Auch als lodengrüner Wiedergänger wäre der Kapitalismus nicht verträglicher für den Bestand von Lebensvoraussetzungen, die am effizientesten dadurch verheizt werden, daß sie privatwirtschaftlicher Aneignung überlassen bleiben.

Im Kampf gegen Braunkohleabbau und -verstromung hat die seit 2012 anhaltende Besetzung des Hambacher Forstes Tatsachen geschaffen, an denen RWE als Betreiberin der Abbauggebiete und Kraftwerke im Rheinischen Braunkohlerevier und der Staat NRW nicht mehr ungesehen vorbeikommt. Den Aktivistinnen und Aktivisten, die im Wald und auf einer anliegenden Wiese ganzjährig unter einfachsten Bedingungen leben, ist es nicht nur gelungen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf diesen in der EU zentralen Ort fossiler Energieerzeugung und ökologischer Zerstörung zu lenken. In ihrem hartnäckigen Widerstand gegen die Abholzung des Restes eines einstmals einzigartigen großen Waldes haben sie auch eine Art sozialer Utopie verwirklicht, die sie einer Welt entgegenstellen, die das Verheizen des Planeten zum alternativlosen Programm erklärt hat.

In der Radikalität dieses Kampfes zeigt sich, daß Zweckoptimismus wie bloßer Pessimismus kontraindiziert sind, handelt es sich doch in beiden Fällen um bequeme Ausflüchte, die eher Gucken und Abwarten zur Folge haben, als zu Ein- und Angreifen zu ermutigen. Dieser Tage wartete das SZ-Magazin mit einer großen Reportage [3] über die Situation im Hambacher Forst und seiner vom Braunkohleabbau ganz und gar bestimmten Umgebung auf. Sachlich offensichtlich korrekt und und im Rahmen einer Neutralität suggerierenden Beobachterdistanz gut geschrieben, läßt die Reportage jede Positionierung vermissen, die ahnen lassen könnte, daß auch Autoren am Zustandekommen des Klimawandels und aller damit einhergehenden sozialen Fragen zugleich beteiligt wie davon betroffen sind. Insofern ist der umfassende Bericht ein Paradebeispiel dafür, daß die gesellschaftliche Debatte zum Klimawandel und seine sozialökologische Perspektive auf die eng umgrenzte Zone kapitalistischer Sachzwanglogik begrenzt ist. Das heißt nichts anderes, als daß sie praktisch nicht stattfindet und die unbescheiden gestellte Frage "Was Tun?" weiterhin vertagt wird.

Weil die SZ-Autoren trotz umfassender Recherche nicht darüber reflektieren wollen oder können, daß der Hambacher Forst alles andere als ein Abenteuerspielplatz für erlebnishungrige Jugendliche ist, daß der Ausstieg aus der Welt des Konsumismus ganz gezielt mit den Attributen einer Warenästhetik bricht, die das Kerngeschäft derartiger Hochglanzmagazine darstellt, daß die Verwirklichung individuellen Lebenssinnes nicht verhandelbar ist und streitbares Eintreten für die persönlichen Ideale nicht im Präsentieren rebellischer Gesten und militantem Waldläufertum aufgeht, bleiben sie Produzenten einer Wirklichkeit, die die ehernen Grenzen ihrer Zwangslogik lieber bunt ausstaffiert, als sich auf folgenreiche Weise mit ihnen zu konfrontieren.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/streit-ueber-klimaschutzplan-der-ausstieg-aus-der-kohle-ist.694.de.html?dram:article_id=370289

[2] http://www.klimaretter.info/politik/hintergrund/21035-das-budget-ist-schon-aufgebraucht

[3] http://www.sueddeutsche.de/panorama/umweltaktivisten-in-hambach-an-der-kante-1.3220594?reduced=true

3. November 2016


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