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RAUB/1063: Wenn zwei sich die Hände reiben, bleibt todsicher jemand auf der Strecke (SB)




Am Finanzmarkt trieben gierige Manager und betrügerische Anlageberater ihr Unwesen, um damit ein an und für sich korrekt funktionierendes Wirtschaftssystem zu ruinieren, macht eine beliebte Erklärung für die Misere des Kapitalismus glauben. Neue Nahrung wurde dieser Ansicht in einem Feature des NDR [1] gegeben, dessen Autoren sich mit den Praktiken des Finanzvertriebs Allgemeiner Wirtschaftsdienst (AWD) bei der Kundenberatung auseinandersetzten. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die illustre Figur des Hannoveraner Unternehmers und AWD-Gründers Carsten Maschmeyer, der insbesondere wegen seiner Freundschaft mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff weit über die Kreise der Finanzwirtschaft hinaus medial in Erscheinung getreten ist. Wie all jene sinistren Gestalten, die das vermeintlich ehrenwerte Geschäftsgebahren der Finanzdienstleister durch besonders rüde Methoden bei der Kundenakquisition beschädigt haben sollen, bevölkert seinesgleichen den zum Pranger grundgerechter Empörung umfunktionierten Boulevard einer Krisenanalyse, die mit Antworten schnell bei der Hand ist, um Fragen weiterführender Art gar nicht erst stellen zu müssen.

Während die im Beitrag des NDR zitierten Aussagen ehemaliger AWD-Kunden, in den 1990er Jahren falsch beraten worden zu sein und deswegen erhebliche finanzielle Verluste erlitten zu haben, die Gerichte beschäftigen, ist Maschmeyer längst weitergezogen. Er tritt, wie der NDR berichtet, in einem dies betreffenden Verfahren lediglich als Zeuge auf. Nachdem der AWD-Konzern 2008 vom Schweizer Versicherungskonzern Swiss Life übernommen wurde, sich die in den Neuerwerb gesetzten Hoffnungen jedoch nicht erfüllten, zog sich Maschmeyer aus dem Verwaltungsrat der Swiss Life zurück. Heute ist er Vorstandsmitglied der MaschmeyerRürup AG, einer Beratungsgesellschaft für Banken, Versicherungen und Regierungen, die er 2010 gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup gründete. Der ehemalige "Wirtschaftsweise" hatte, nachdem er sich mit seinem Eintreten für die Privatisierung der Altersvorsorge um die Kapitalisierung des umlagefinanzierten Solidarsystems verdient gemacht hat, 2009 als AWD-Chefökonom zum geschäftlichen Erfolg des Finanzdienstleisters beigetragen.

Der Aufstieg des AWD zu einem der größten Finanzvertriebe Europas beruht laut dem NDR unter anderem auf geschlossenen Fonds. Diese finanziellen Beteiligungen an Unternehmen aller Art gehen mit dem Risiko einher, daß die Anleger bei Mißerfolg der Geschäfte, die diese Firmen tätigen, Gefahr laufen, das eingesetzte Kapital zu verlieren. Im NDR-Bericht werden einige Beispiele geschildert, bei denen die Anleger große Verluste hinnehmen mußten, weil die ihnen von AWD-Vertretern verkauften Finanzprodukte den Erwartungen, aufgrund lukrativer Geschäftsergebnisse der damit kapitalisierten Unternehmen eine angemessene Verzinsung des angelegten Kapitals zu erhalten, nicht standhielten. Die Einkommen der AWD-Berater beruhten auf Provisionen für die vermittelten Anlagen, sie waren also nicht vom Risiko der Person, die sie für diese Form der Kapitalanlage gewannen, betroffen.

Da viele der ehemaligen AWD-Kunden, wie an einem exemplarischen Beispiel geschildert, offensichtlich mit dem Argument geworben wurden, auf diese Weise ihre Altersvorsorge abzusichern, wiegt der Verlust für sie schwer. Während Maschmeyer laut NDR bis heute von "tragischen Einzelfällen" spricht und der AWD eine den Gesetzen entsprechende Beratungspraxis geltend macht, präsentierte das NDR Fernsehen 2011 "eine Liste von 34.000 Kunden, denen geschlossene Fonds angedreht worden sind", indem ihnen irreführenderweise erklärt worden sei, eine sichere Anlageform gewählt zu haben. All dies sei jedoch nur "sehr schwer" zu beweisen, so der NDR, demzufolge auch viele Rechtsanwälte, die mit dem Vorwurf erhöhter Provisionen vor Gericht zogen, damit "nicht weitergekommen" sind. Die meisten Klagen scheinen "derzeit im Sande zu verlaufen" [1], so daß es im NDR-Bericht bei der bloßen Mutmaßung bleibt, die AWD-Kunden, die ihre Altersvorsorge verloren haben, seien nicht seriös beraten worden.

Der in einem Fallbeispiel zutage tretende Glaube des Anlegers, er habe auf Empfehlung des AWD-Beraters eine besonders sichere Anlageform gewählt, hätte allerdings der kritischen Nachfrage bedurft. Der mit der Kapitalisierung der Altersvorsorge erweckte Eindruck, der Bürger könne auf diese Weise an Kapitalgewinnen teilhaben, die auf der vorteilhaften Verzinsung des eingesetzten Geldes beruhten, ohne damit auch das Risiko eines Verlusts zu übernehmen, entbehrt jeder Ratio des kapitalistischen Normalbetriebs. Der jeweilige Grad der Verzinsung des eingesetzten Kapitals gilt als Maßstab der damit eingegangenen Möglichkeit, daß sich die in dieses Geldgeschäft gesetzte Erwartung nicht erfüllt. Nicht umsonst betrifft die gesetzlich bis 100.000 Euro vollständig gewährte Einlagensicherung vor allem Sparkonten, deren Verzinsung bestenfalls die Inflationsrate deckt. Auch die freiwilligen Einlagensicherungssysteme der Banken gelten nicht für riskante Anlagegeschäfte, sondern lediglich für Sparkonten sowie Tages- und Festgeldguthaben.

Indem der NDR den Hannoveraner Unternehmer als eine Art Glücksritter darstellt, dessen Glaubwürdigkeit zu einem Gutteil seinen Verbindungen zur niedersächsischen Politprominenz eines Gerhard Schröder und Christian Wulff geschuldet sei, geht die kalte Funktionsweise einer Eigentumsordnung, in der noch niemals Geld, sondern immer Menschen gearbeitet haben, im Zerrbild einer Marktwirtschaft auf, die sozial wäre, wenn sich nur alle an ihre Regeln hielten. Das schon aufgrund der offenkundigen Schwierigkeit, mit rechtlichen Mitteln Kompensationsleistungen zugunsten der Geschädigten zu erwirken, naheliegende Eingeständnis, daß die vom NDR geschilderten Beratungspraktiken nicht in einem ausschließenden Verhältnis zu anderen als erfolgreich ausgewiesenen Geschäftsmodellen auf dem Finanzmarkt stehen, ließe vom vermeintlichen Ausnahmecharakter der Person Maschmeyers nicht viel übrig.

Die an der Frage, ob der Mensch als Besitzbürger in den Genuß von Kapitalgewinnen kommt oder als Lohnabhängiger gezwungen ist, seine Arbeitskraft unter fremdbestimmten Bedingungen zu verkaufen, entschiedene Klassenzugehörigkeit wird durch die Unterstellung, auch der Kleinanleger könne am großen Reibach der angeblichen Geldvermehrung aus sich selbst teilhaben, nicht überwunden, sondern zementiert. Er soll sich als Teilhaber einer gesellschaftlichen Reichtumsproduktion fühlen, um ihn im alltäglichen Sozialkampf auf die Seite des Kapitals zu ziehen und den stets virulenten Klassenkonflikt damit zu entschärfen.

Um dies vergessen zu machen und den begründeten Zorn der Menschen über eine Krisenbewältigung, die die Verluste sozialisiert und die Gewinne privatisiert, in kontrollierbare Bahnen zu lenken, bedarf es einer personalisierten Schuldzuweisung, die in diesem Fall an einen als besonders rücksichtslos dargestellten Unternehmer adressiert wird. Der im Titel "AWD - Aufstieg und Ende einer norddeutschen Marke" bilanzierte Niedergang eines sich einst im Glanz und Glamour unternehmerischen Erfolgs sonnenden Finanzkonzerns tröstet die Betroffenen mit der kleinen Münze der Genugtuung, daß die großen Räuber im Haifischbecken auch nicht frei von Problemen und Mißerfolgen sind, darüber hinweg, daß sie dennoch unvergleichlich viel weniger auszustehen haben als in ihrem physischen Wohlergehen in Frage gestellte Menschen.

Die Aufklärung darüber, daß arbeitsfreie Einkommen nicht aus dem Nichts entstehen, sondern stets einer materiellen Produktivität bedürfen, die die essentiellen Güter und Leistungen der physischen Lebenssicherung bereitstellt, könnte hingegen ein Aufbegehren zur Folge haben, daß sich nicht mit einem Sittengemälde über die Abgründe menschlicher Niedertracht beschwichtigen läßt. Das Angebot, aus Geld mehr Geld zu machen, geht, wenn nicht zu Lasten des damit geköderten Kunden, dann doch zu Lasten eines Dritten, der für den damit abgeschöpften Mehrwert mit im Lohnverhältnis unbezahlter Arbeit einsteht. Wenn sich die für die Kapitalanlage garantierte Sicherheit als leeres Versprechen erweist, dann ist das Vertrauen, das der vermeintlich Getäuschte in die ihm gemachten Zusagen gesetzt hat, negativ äquivalent zur positiven Absicht des Anbieters, einen Handel zu seinem Vorteil zu machen. Die vielzitierte Win-Win-Situation beiderseitigen Vorteils, die den Kunden im guten Glauben wiegt, man könne sich zu zweit an einem Füllhorn unerschöpflicher Plusmacherei laben, setzt das konstitutive Minus, also den Verlust an Lebenskraft und -zeit, mit der irgend jemand die Waren erzeugt, die für den Ertrag dieses Handels erstanden werden, voraus. Dies nicht wahrhaben zu wollen, entspricht der Verkennung, daß sich Marktsubjekte bei jeder noch so herzlichen Geschäftsanbahnung nicht als Freunde, sondern als Sachwalter des im Kapital fungierenden Interesses gegenübertreten, sich unter allen Umständen zu verwerten.

Der in der Enttäuschung, über das Messer des geschickteren Räubers balbiert worden zu sein, anklingende Glaube an die Seriosität und Solidität des kapitalistischen Gegeneinanders könnte zu gesellschaftlich produktiver Erkenntnis führen, wenn diese Lektion als Ende der Täuschung über die Funktionsweise kapitalistischer Wertschöpfung unumkehrbar gemacht würde. Dies zu verhindern ist die Aufgabe einer journalistischen Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse, die an deren Gewaltcharakter nicht rührt. Anstelle dessen wird der Verstoß gegen eine Ehrlichkeit skandalisiert, deren moralische Evidenz die damit beschworene Gültigkeit der herrschenden Ordnung erst recht undurchschaubar macht. Es kann nicht erstaunen, daß eine Kapitalismuskritik, die das Rätsel des Werts aufzuklären trachtet, mehr gefürchtet wird als der Verlust der Deutungshoheit herrschender Interessen in einem sich fortsetzenden Raubkapitalismus.

Fußnote:

[1] http://www.ardmediathek.de/ndr-info/ndr-info-das-forum?documentId=13944080

10. April 2013