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RAUB/1060: Erfolgsmodell Hartz IV - Rationalisierung der Arbeitsgesellschaft (SB)




Zehn Jahre, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 den Bundesbürgern die Agenda 2010 in einer Regierungserklärung präsentierte, sind sich die Eliten in Wirtschaft und Politik weitgehend einig in der positiven Bewertung der sogenannten Reform des Arbeitsmarktes. Der Erfolg der tiefgreifenden Rationalisierung der Arbeitsgesellschaft drückt sich auch darin aus, daß der anfangs noch vernehmliche Protest gegen die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe bis auf einige Erwerbsloseniniativen verstummt ist. Der durch den Maßnahmekatalog verschärfte Überlebensdruck hat die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterklasse zu defensiven Rückzugsmanövern verleitet und den vereinzelten Erwerbslosen in regressive Flucht geschlagen. Wer sein Überleben noch mit Lohnarbeit finanzieren kann, will den Absturz in das schwarze Loch möglicherweise unumkehrbarer Verarmung und Maßregelung nicht dadurch beschleunigen, daß er sich auf streitbare Weise exponiert. Hartz-IV-Empfänger wurden im Korsett aus finanzieller Unterversorgung und arbeitsadministrativer Gängelung systematisch handlungsunfähig gemacht, so daß Mittel wie Mut zum politischen Widerstand schwerer denn je zu mobilisieren sind. Wo noch der Funke des Aufbegehrens glimmt, da verrichten die meist vergebliche Hoffnung auf eine Rückkehr in normale Arbeitsverhältnisse, die Scham der sozialen Deklassierung, die massenmedial induzierte Orientierung an den Gewinnern, die Einflüsterungen rassistischer Demagogen und die Resignation angesichts unüberwindlich erscheinender Machtverhältnisse wirksame Löscharbeit.

Dementsprechend unterentwickelt ist die fundamentale Kritik des tiefgreifenden Wandels, den die vom VW-Personalmanager Peter Hartz geleitete Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" zur Durchsetzung einer effektiveren Form der Arbeitsmarktpolitik und einer Neustrukturierung der staatlichen Arbeitsvermittlung angeschoben hat. Während im politischen Diskurs vor allem über die Frage debattiert wird, inwiefern das Konzept des Förderns und Forderns das Ziel einer Senkung der Arbeitslosenrate durch die Reintegration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt erfüllen kann, wurde und wird kaum darüber diskutiert, welch tiefgreifende Auswirkungen die Zurichtung Erwerbsloser auf die Verwertung ihrer Arbeitskraft zu fast jedem Preis auf die Formen und Bedingungen gesellschaftlicher Existenz hat.

Diese Folgen des Hartz-IV-Regimes, das sich als transformativer Kern der Agenda 2010 herauskristallisiert hat, beruhen auf einem ganzen Arsenal an Methoden und Instrumenten, die den herrschenden Klassenantagonismus vertiefen und Millionen Menschen in ein Leben stürzen, das ihre demokratischen Rechte Makulatur werden läßt. Dies geschieht zwar unter dem liberalen Vorbehalt, daß niemand die Leistungen des Sozialgesetzbuches II in Anspruch nehmen müsse, doch setzte diese Freiheit voraus, daß der kapitalistisch vergesellschaftete Mensch über andere Möglichkeiten zur materiellen Sicherung seines Lebens verfügte, als seine Arbeitskraft an die Eigentümer der Produktionsmittel zu verkaufen.

Da dem Subjekt des arbeitsteilig und bürokratisch hochorganisierten Gemeinwesens keinerlei Möglichkeit bleibt, sein Überleben auf archaische Weise aus eigener Kraft zu bestreiten, und die Mittel der Reichtumsproduktion sich in privater wie staatlicher Hand befinden, wäre es nur recht und billig, wenn die vollständigen Voraussetzungen seiner sozialen Teilhabe und nicht nur ein Minimum an materiellen Grundbedürfnissen durch das gesamtgesellschaftliche Produkt befriedigt würden. Rechtsfragen grundsätzlicher Art stellen sich jedoch nicht, wenn der materielle Widerspruch des Kapitalverhältnisses in Kollaboration von grundrechtlich gewährter Gleichstellung und geldvermittelten Tauschverhältnissen als harmonisches Ganzes inszeniert wird.

Wie teuer den einzelnen sein Leben zu stehen kommt, darüber befindet angeblich niemand anderes als der jeweilige Marktakteur. Wäre dieser durch die Anerkennung seiner sozialen Rechte der Not enthoben, sich auf einem Arbeitsmarkt, dessen Teilhaber sich keineswegs per Angebot und Nachfrage in Augenhöhe gegenübertreten, zu verdingen, dann wäre der Preis der Arbeit nicht mehr durch ihre stets verknappte Verfügbarkeit zu bestimmen. Unterlag das Verhältnis von Kapital und Arbeit schon in der angeblich goldenen Zeit des korporatistisch und sozialpartnerschaftlich organisierten Rheinischen Kapitalismus der ständigen Aushandlung zwischen Lohnforderung und Mehrwertabschöpfung, so trat die BRD mit dem Anschluß der DDR und der Einführung des Euro in eine Phase des globalen Wettbewerbs, die beste Voraussetzungen für die Durchsetzung neuer Leistungs- und Effizienznormen bot.

Vorbereitet wurde dies schon in den 1980er Jahren durch den von wachsenden Erwerbslosenzahlen begleiteten Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Dem krisenhaften Verfall der Profitraten sollte mit dem neoliberalen Konzept der Privatisierung und Deregulierung bislang öffentlich gewährleisteter Formen der Produktivitätssteigerung und Daseinssicherung entgegengewirkt werden. Der Zusammenbruch der RGW-Staaten eröffnete insbesondere der Kapitalmacht der BRD die Chance, das vorhandene Potential an Arbeitskräften durch die gut ausgebildete Bevölkerung der DDR zu günstigen Konditionen zu erweitern und eine eventuell aus den Volkseigenen Betrieben erwachsende Konkurrenz mit dem Argument unzureichender Wettbewerbsfähigkeit zu eliminieren oder zu übernehmen. Zudem boten sich ihr durch die geopolitische Aufwertung der Mittellage Deutschlands, durch das erhebliche Produktivitätsgefälle zu seinen östlichen Nachbarn und durch die Definitionshoheit über deren Beitrittsbedingungen in die EU weitere Expansionschancen.

Was anfangs durch die großen Kosten der sogenannten Wiedervereinigung als riskantes Manöver erschien, mündete mit Freisetzung neuer Investitionssphären durch die Auflösung der korporatistischen Verschränkung der BRD-Konzerne, durch die mit der Einführung des Euro verbesserte Schlagkraft der deutschen Exportwirtschaft und durch die supranationale Durchsetzung des neoliberalen Strukturwandels in der EU in eine aggressive Dynamisierung deutscher Kapitalinteressen. Indem die Untergrenze verhandelbarer Löhne mit der Einführung von Hartz IV am 1. Januar 2005 deutlich abgesenkt und der gewerkschaftlich organisierte Widerstand gegen diesen Angriff auf alle Erwerbsabhängigen durch die sozialdemokratische Querfront aus Regierung und DGB verhindert wurde, konnte der Preis der Arbeitskraft erfolgreich zugunsten niedriger, am Weltmarkt durchsetzungsfähiger Lohnstückkosten begrenzt werden.

Hartz IV wird heute nicht nur im großen Entwurf des deutschen und europäischen Krisenmanagements als Erfolgsmodell gefeiert. Die Einführung eines materiellen Zwang mit sozialwissenschaftlich hochentwickelten Methoden organisierenden Systems der Arbeitsverwaltung erfreut sich bei den Eliten in Staat und Gesellschaft auch deshalb so großer Beliebtheit, weil es innovative Formen der Herrschaftsicherung etabliert hat, die den bei massenhafter Verarmung ansonsten zu erwartenden Widerstand wirksam neutralisieren. Die genauere Betrachtung des sozialstrategischen Zugriffs, der zu diesem Zweck entwickelt wurde, ist Gegenstand eines weiteren Beitrags.

11. März 2013