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RAUB/1027: Schuld kennt keinen Ausweg - Griechenland soll Flüchtlingsstrom eindämmen (SB)



Die Umlastung der Schuld kapitalistischer Krisenfolgen auf die europäische Peripherie und namentlich Griechenland eröffnet ein Szenario der Bezichtigung, unter das sich auch die steigende Zahl von Asylbewerbern leichtgängig subsumieren läßt. Die Doktrin der Festung Europa, Handelsströme zum eigenen Nutzen zu befördern und zugleich Menschenströme zu verhindern, kurz Freiheit ganz nach Maßgabe gefüllter Fleischtöpfe per Ausschluß der Hungerleider zu definieren, wird wie alles in der EU arbeitsteilig exekutiert: Was die Führungsmächte verlangen, müssen Randläufer wie die Griechen ausbaden.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und seine österreichische Kollegin Johanna Mikl-Leitner wissen, wer sich den Schuh anzuziehen hat: Sie beklagten in Brüssel einen "signifikanten" Anstieg von Asylbewerbern in ihren Ländern, wobei sie die Ursache dieser "illegalen Migrationsströme" an der griechisch-türkischen Grenze" verorten. "Diese Grenze ist offen wie ein Scheunentor", so Mikl-Leitner. Kontrollen an den Grenzen gebe es nicht, und auch sonst sei der Umgang mit der Flut von Asylbewerbern dilettantisch, befanden sie unisono mit ihren Kollegen aus Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Schweden und Großbritannien. Sie werfen den griechischen Behörden "mangelnden politischen Willen" in der Flüchtlingspolitik vor. Die Asylbehörde des Landes sei mit elf Angestellten ausgestattet - anstatt mit dem angepeilten Personal von 300 Beamten, kritisierte die Österreicherin. Die sieben EU-Länder fordern von der Regierung in Athen, die Behörde so aufzustellen, daß sie die "Flüchtlingsströme bewerkstelligen" könne. Erforderlich sei zudem eine engere Zusammenarbeit mit den türkischen Grenzbehörden sowie Kontrollen durch EU-Experten vor Ort. [1]

Kein Wort von den drakonischen Sparzwängen, die der griechischen Regierung aufgenötigt werden, die sie wiederum in Gestalt einer beispiellosen Verelendung auf die Bevölkerung abwälzt. Wenn es um die Flüchtlingsabwehr geht, ist plötzlich kein Behördenapparat groß genug, die anbrandende Welle der Armutsmigration einzudämmen. Wie die Griechen das Problem lösen, ist ihre Sache - und dies obwohl allen Beteiligten klar sein muß, daß das griechische Flüchtlingswesen längst zusammengebrochen ist. Es könne nicht sein, daß ein Mitgliedsland, das seinen Aufgaben nicht nachkommt, ungeschoren davonkommt, drohte die österreichische Innenministerin.

Die sieben EU-Länder fordern, daß die Schengen-Regeln der Europäischen Union die Wiedereinführung von Grenzkontrollen erlauben, wenn Länder wie Griechenland die EU-Außengrenze nicht schützen. Nötig sei zudem eine engere Zusammenarbeit mit der Türkei, da "sehr viele Flüchtlingsströme" über das Land kämen. Darunter falle auch die Unterzeichnung eines Abkommens mit der Regierung in Ankara, damit die EU über die Türkei eingereiste Flüchtlinge dahin zurückschicken könne. Friedrich erklärte, es mangle nicht an Rechtssetzungsdefiziten, sondern an Umsetzungsdefiziten. Eine der verlangten Maßnahmen sei auch, die Grenzkontrollen wieder gegenüber Griechenland einführen zu können, wenn die Sicherheit durch Athen nicht gewährleistet werden könne. [2]

Aufgrund seiner geographischen Lage und angesichts der schwer zu kontrollierenden Küstenlinie mit zahlreichen Inseln hat sich Griechenland zwangsläufig zu einem Hauptziel undokumentierter Migranten entwickelt. Dies gilt um so mehr, als der Grenzschutz an den Küsten Spaniens, Maltas und Italiens massiv verschärft wurde und Frontex im Mittelmeer Jagd auf Flüchtlingsboote macht. Dadurch wird die südöstliche Route via Griechenland geradezu erzwungen [3]. Insbesondere für Migranten aus Afghanistan, dem Irak, Iran und Somalia, die Schutz in Europa suchen, ist die Fluchtroute über die Türkei nach Griechenland der einzig mögliche Weg. Die 206 Kilometer lange Landgrenze zwischen den beiden Ländern ist nur schwer zu kontrollieren, was insbesondere für die Region um Orestiada und das Delta des Grenzflusses Evros gilt. Zahlreiche Migranten bezahlen den Versuch, auf diesem Weg nach Griechenland zu gelangen, mit dem Leben. [4]

Griechenland steht seit Jahren wegen der Verletzung von Flüchtlings- und Menschenrechten in der Kritik. Die fortdauernde humanitäre Krise bis hin zum völligen Zusammenbruch des Asylsystems ist keineswegs nur hausgemacht, sondern vor allem ein Resultat fehlender Unterstützung bei der Flüchtlingsaufnahme innerhalb der Europäischen Union, die auf zynische Weise, die Verantwortung für die Flüchtlingsabwehr den Außengrenzen zuschiebt. Wer in Griechenland strandet, erfährt Rechtlosigkeit, willkürliche Inhaftierung, Obdachlosigkeit und Hunger.

Der Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg hat bereits im Januar 2011 in einem Grundsatzurteil festgestellt, daß die Überstellung eines Asylsuchenden nach Griechenland eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt. Straßburg stellte eine Verletzung des Artikel 3 der Konvention fest: Die Haft- und Lebensbedingungen, denen der Schutzsuchende in Griechenland ausgesetzt wurde, stellen eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar. [5]

Nach umfangreichen und detaillierten Dokumentationen zu den Menschenrechtsverletzungen in Griechenland sind die Befunde eindeutig: Das rudimentäre Asylsystem des Landes ist völlig kollabiert. Das EU-Mitgliedsland verletzt die verbindlichen europäischen Mindeststandards für ein Asylverfahren, für die soziale Aufnahme von Schutzsuchenden und die internationalen Standards der Flüchtlingsschutzgewährung. Weder existiert ein "faires" Asylverfahren, noch ist der Zugang zu einem Verfahren sichergestellt. Schutzsuchenden droht die erneute Inhaftierung und möglicherweise die Abschiebung, ohne daß ihr Schutzgesuch gehört würde. Die Asylanerkennungsquote in der ersten Instanz liegt seit Jahren nur wenig über null Prozent, ein Aufnahmesystem für Asylsuchende ist nicht vorhanden.

Die EU-Kommissarin Cecilia Malmström stellte schon am 28. September 2010 während eines Aufenthaltes in Athen fest: "Die Aufnahme von Asylbewerbern funktioniert nicht, Menschen werden unter schrecklichen Bedingungen gehalten, und es gibt fast 50.000 Menschen, die seit Jahren darauf warten, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden". Heute steht die griechische Regierung mehr denn je vor einem Problem, das sie nicht nur nicht lösen will, sondern auch nicht lösen kann. Sie müßte von Grund auf ein neues Asylsystem schaffen - und dies in der größten Wirtschafts- und Finanzkrise in der jüngeren Geschichte des Landes. Wenn zahllose Griechen ohne jedes Einkommen sind und viele weitere kaum noch wissen, wie sie mit den dramatisch geschrumpften Bezügen ihrer Erwerbstätigkeit über die Runden kommen sollen, stehen Migranten jenseits des Horizonts politischer und sozialer Erwägungen.

Fußnoten:

[1] http://www.focus.de/politik/ausland/offen-wie-ein-scheunentor-eu-staaten-fordern-besseren-grenzschutz-von-griechenland_aid_721922.html

[2] http://derstandard.at/1331206756124/Druck-auf-Athen-Oesterreich-und-sechs-EU-Staaten-Allianz-gegen-illegale-Migration

[3] http://www.migration-info.de/mub_artikel.php?Id=090710

[4] http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/622645/Griechenland-will-Grenzwall-gegen-Einwanderer

[5] http://www.proasyl.de/de/presse/detail/news/europaeischer_menschenrechtsgerichtshof_verurteilt_belgien_und_griechenland/

8. März 2012