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RAUB/1004: Britische Regierung trifft Maßnahmen für den Bürgerkrieg (SB)



Die weltweite Krise kapitalistischer Verwertung verschärft die dieser Raubordnung inhärente Verelendung bis ins Herz der Metropolengesellschaften. Zwangsläufige Folge sind Hungerrevolten und Sozialkämpfe, deren prinzipielles Auftreten so sicher prognostizierbar wie ihr konkreter Ausbruch und Verlauf unvorhersehbar ist. Für die Protagonisten und Profiteure forcierter Aufbürdung der Lasten von oben nach unten stellt sich das Problem, die Bestandssicherung der herrschenden Verhältnisse repressiv durchzusetzen und zugleich ideologisch von den Ursachen des dramatischen Verfalls der Existenzmöglichkeiten abzukoppeln. Was die Umwälzungen in den arabischen Ländern Vorderasiens und Nordafrikas, die Massendemonstrationen der Bevölkerung Israels und den Protest der drastischen Sparzwängen unterworfenen Griechen, Iren, Spanier oder Portugiesen mit der Jugendrevolte in französischen Vorstädten und zuletzt den Unruhen in England verbindet, ist das all diesen Phänomenen gemeinsame Aufbegehren gegen unerträgliche Lebensverhältnisse. So verschieden die Erscheinungsformen angesichts ihres jeweils spezifischen Kontexts auch anmuten mögen, so sehr müssen die gesellschaftliche Eliten und das politische Establishment die Verknüpfung des vielgestaltigen Widerstands zum unterschiedslosen Schulterschluß der Unterworfenen und Ausgegrenzten fürchten.

Die in London regierende Koalition aus Konservativen und Liberalen hat die von New Labour vorangetriebene Verwertungsoffensive samt dem Erbe der Krise aufgegriffen und zu einer beispiellosen Architektur sozialer Grausamkeiten verdichtet. Hochgelobt von der Phalanx bürgerlicher Medien im In- und Ausland, die Mut und Entschlossenheit zur Verabreichung bitterster Pillen in den höchsten Tönen lobten, zog man die Sparschraube bis zum Anschlag an. Auf diese Weise verwandelte sich die niemals zu begleichende Staatsverschuldung in die Schuldknechtschaft jener wachsenden Teile der Bevölkerung, die mit ihrer erbärmlichen sozialen Lage und gefährdeten physischen Existenz dafür einstehen müssen.

Der britische Überwachungsstaat hat den Bürgerkrieg und dessen Niederschlagung seit Jahren strategisch konzipiert und sein Arsenal sozialer Kontrolle in weltweiter Vorreiterschaft auf diversen Gebieten ausgebaut. Wer unablässig die allgemeinen Erwerbsmöglichkeiten durch eine extreme finanzkapitalistische Clusterbildung vernichtet, die Polarisierung verschärft, Sozialleistungen abbaut, ganze Stadtteile verkommen läßt und durch den Abzug der letzten verbliebenen Gemeindezentren endgültig verödet, weiß selbstverständlich um die Folgen dieser Kriegsführung gegen die eigene Bevölkerung. Dennoch konfrontieren die aktuellen Unruhen in Tottenham und ihr Übergreifen auf Ealing, Croydon, Clapham, Peckham, Hackney und Lewisham wie auch entsprechende Gewaltausbrüche in Bristol, Liverpool und Birmingham die britischen Politiker, Behörden und Sicherheitskräfte mit einer unkontrollierbaren Eruption gleichsam dämonischer Zerstörungswut, die sich unterschiedslos gegen alles und jeden richtet.

Es sind keine Kräfte am Werk, die sich nach politischen Positionen, inneren Strukturen oder Entscheidungshierarchien verorten, präventiv reglementieren und mit dem Instrumentarium von Observation und abgestufter Sanktionierung neutralisieren ließen. Sie brechen aus jener Sphäre eines sozial abgekoppelten und strukturell ausgegrenzten Niemandslands hervor, das die britische Gesellschaft ausgespuckt und sich selbst überlassen hat, um sich jeder Verantwortung für die extremen Verheerungen ihrer Polarisierung zu entziehen.

Vermummte verwüsten Ladenzeilen, plündern Geschäfte, stecken Supermärkte, Autos, Busse, Wohnungen und Häuser in Brand, greifen Polizeiwachen an. Anwohner sind in akuter Gefahr, überfallen, ausgeraubt, schwer verletzt, getötet oder verbrannt zu werden. Gruppen gewalttätiger Kinder zwischen 10 und 14 Jahren treiben ihr Unwesen, Banden Jugendlicher brechen als Flashmob wie aus dem Nichts über Stadtviertel herein. Nach Einschätzung von Scotland Yard waren in den ersten beiden Nächten vor allem Jugendliche an den Unruhen beteiligt, während inzwischen vermehrt Gruppen älterer Plünderer mit Fahrzeugen auf Raubzug gehen und dabei selbst Sanitäter und Feuerwehrleute angreifen.

Augenzeugen schildern alptraumartige Szenen und Verwüstungen wie in einem Kriegsgebiet. Von manchen Häusern blieben nur die Grundmauern übrig, ganze Einkaufstraßen gleichen Schlachtfeldern, verkohlte Autowracks, Trümmer und Glassplitter zeugen von dem Chaos der zurückliegenden Nacht und lassen für die nächste noch Schlimmeres befürchten. Polizeiangaben zufolge gingen in London in einer einzigen Nacht 21.000 Notrufe ein, 6.000 Beamte waren auf der Straße, normale Streifenpolizisten wurden zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt. Seit Ausbruch der Unruhen wurden 450 Personen festgenommen, wegen Überfüllung der Zellen mußten Gefangene an die Polizeistationen im Umland abgeben werden. [1]

Offizielle Stellungnahmen zeugen vom Entsetzen angesichts einer unvorhergesehenen Eskalation, die mit den vorhandenen Sicherheitskräften und der üblichen Polizeitaktik unmöglich einzudämmen war. "In Großbritannien halten wir niemanden mit Wasserwerfern zurück", erklärte Innenministerin Theresa May in Reaktion auf Fernsehbilder und Kritik in der Öffentlichkeit. Sie setze auf die Mitarbeit der Menschen vor Ort - so funktioniere britische Polizeiarbeit. Eltern der randalierenden Jugendlichen und Vertreter der Gemeinden sollten die Gewalttäter auf den Bildern der Überwachungskameras identifizieren. [2]

Die Ministerin verurteilte die Unruhen als Verbrechen. Eine solche Gewalt habe Großbritannien seit Jahren nicht gesehen. Sie hat ebenso wie Premierminister David Cameron und der Londoner Bürgermeister Boris Johnson ihren Urlaub abgebrochen. Vor der Tür von Downing Street 10 sprach der Regierungschef von "purer Kriminalität". Man werde alles tun, um die Ordnung wiederherzustellen. Jugendlichen Tätern drohte er eine harte Bestrafung an: "Ihr werdet die Kraft des Gesetzes spüren." Wenn sie alt genug seien, diese Verbrechen zu begehen, seien sie auch alt genug, für sie zu büßen. Vizepremierminister Nick Clegg empörte sich in Tottenham über "opportunistische Kriminelle", die schon jetzt "große Narben" in der Gesellschaft hinterlassen hätten. Der amtierende Londoner Polizeichef Tim Godwin forderte die Bevölkerung auf, die Straßen zu verlassen. Eltern sollten sich nach ihren Kindern erkundigen und sie nach Hause holen. "Was hier passiert, kann einfach nicht entschuldigt werden", kommentierte Scotland Yard-Chefin Christine Jones die Szenen auf den Straßen Londons. [3]

Die Unruhen auf "pure opportunistische Kriminalität" zu reduzieren, ohne mit einem einzigen Wort auf den sozialen Kontext, geschweige denn die eigene Politik einzugehen, unterstreicht das Bestreben, sie als isoliertes Phänomen fehlgeleiteter jugendlicher Gewalttäter auszuweisen, die man rigoros abstrafen müsse. So sehr die besseren Kreise der britischen Gesellschaft das Übergreifen der Verwüstung und Plünderung auf die wohlhabenderen Stadtteile zu verhindern trachten, so peinlich zeigen sie sich bemüht, jede Verknüpfung des Aufruhrs mit den massiven Sparmaßnahmen oder dem repressiven Vorgehen der Polizei aus dem Feld zu schlagen.

Auslöser der Unruhen war der Tod des 29jährigen Familienvaters Mark Duggan, der bei einer Kontrolle von einem Polizisten erschossen wurde. Die Version von seiten der Polizei, der Mann habe aus einem Taxi das Feuer auf die Fahnder eröffnet, wurde durch den Umstand erschüttert, daß eine angebliche Kugel Duggans, die das Funkgerät eines Polizisten traf, offenbar aus einer Polizeiwaffe stammte. Pressemeldungen zufolge ließ man die Angehörigen des Getöteten, die Aufklärung verlangten, mehrere Stunden vor einer Polizeiwache auf der Straße stehen. Erst danach soll die Eskalation ihren Lauf genommen haben, von der sich die Familie Duggans distanziert hat.

Inzwischen ist der bislang im Raum stehende Verdacht, es habe sich um einen Akt rassistisch motivierter Polizeigewalt gehandelt, von den nachfolgenden Ereignissen in den Schatten gestellt worden. "Die Schlacht um London", wie britische Zeitungen titelten, hat bereits Schäden in Millionenhöhe angerichtet, zur Absage von Fußballspielen Londoner Clubs und des Freundschaftsspiels gegen die Niederlande im Wembley Stadion geführt. Das Auswärtige Amt in Berlin hat seine Reisehinweise für Großbritannien geändert und rät Reisenden nun, besondere Vorsicht walten zu lassen und sich "bei Anzeichen von Ausschreitungen zurückzuziehen". Insbesondere nachts sollten unbekannte Gegenden und bestimmte Viertel in der britischen Hauptstadt gemieden werden. Das sind herbe Schläge für die Tourismusbranche, zumal London in einem Jahr Austragungsort der Olympischen Spiele ist. Wie das Internationale Olympische Komitee mitgeteilt hat, genieße Sicherheit bei den Spielen hohe Priorität für das IOC. Man habe jedoch Vertrauen in die britischen Behörden.

Dieses Winks mit dem Zaunpfahl hätte es nicht bedurft. Premierminister Cameron hat den Nationalen Sicherheitsrat einberufen, der zweifellos eine Verschärfung der Polizeieinsätze anordnen wird. In der Nacht auf Mittwoch sollen die Polizeikräfte in London auf 16.000 Mann aufgestockt werden, ein Einsatz der Armee ist angeblich bislang nicht vorgesehen. Diese Äußerung läßt darauf schließen, daß es im Zweifelsfall nur noch ein kleiner Schritt zum Bürgerkrieg ist.

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/artikel/C31325/krawalle-in-grossbritannien-polizei-wird-massiv-aufgestockt-30481854.html

[2] http://www.focus.de/panorama/welt/krawalle-in-london-und-anderen-staedten-londoner-haftzellen-ueberfuellt_aid_653807.html

[3] http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article1985048/Gewalt-und-Vandalismus-jetzt-auch-ausserhalb-Londons.html

9. August 2011