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RAUB/0994: Kriegsvorwand Frauenbefreiung nach zehn Jahren Afghanistankrieg abgetragen (SB)



In keinem anderen Land der Erde sind Frauen so schlechtgestellt wie in Afghanistan. Laut einer aktuellen Studie der Londoner Thomson-Reuters-Stiftung leiden Afghaninnen nicht nur unter männlicher Gewalt, sondern auch unter materieller Armut und unzureichender medizinischer Versorgung. Für Monique Villa, Chefin der Stiftung, sind "'verborgene Gefahren' wie der Mangel an Bildung oder miserabler Zugang zur Gesundheitsfürsorge (...) ebenso tödlich, wenn nicht sogar schlimmer als physische Gefahren wie Vergewaltigung oder Mord, die normalerweise die Schlagzeilen füllen." [1] Fast zehn Jahre der angeblich humanitären Kriegführung in Afghanistan, des Nation Building und der Demokratisierung des Landes haben nicht ausgereicht, die materielle Lage der afghanischen Frauen so entscheidend zu verbessern, daß sie zumindest nicht dabei zuschauen müssen, wie ihre Kinder verhungern oder an ansonsten gut therapierbaren Infektionskrankheiten sterben.

In diesem Krieg wurde von Anfang an besonderes Gewicht auf die Befreiung der Frauen vom patriarchalischen Joch gelegt. Daß dieser Feldzug auch von US-Außenministerin Hillary Clinton in erster Linie mit Bomben und Raketen, kaum jedoch mit Brot und Medikamenten geführt wird, sagt einiges aus über die Tragfähigkeit der propagandistischen Rampe, über die die Soldaten ins Kriegsgebiet marschieren. Mit 46 Jahren gehört die durchschnittliche Lebenserwartung einer Afghanin zu den niedrigsten der Welt. Die Versorgung mit Strom und ungefährlichem Trinkwasser liegt insbesondere auf dem Land weitgehend darnieder. Ein Viertel der 25 Millionen Afghanen hängt am Tropf der internationalen Hungerhilfe, zwei Drittel der Bevölkerung gilt als mangelernährt, 80 Prozent der Menschen können nicht lesen noch schreiben, und von industrieller Produktivität ist weit und breit nichts zu sehen.

Währenddessen tummeln sich in der Hauptstadt Kabul mehrere tausend NGOs und Entwicklungshilfeorganisationen anderer Länder, deren Mitarbeiter nicht nur die lokale Ökonomie beleben, sondern auch für eine inflationäre Preisentwicklung sorgen, die die geringen Einkommen der Einheimischen restlos überfordert. Es handelt sich um ein typisches Beispiel moderner Kolonialökonomie, wie man sie bereits aus dem Protektorat Kosovo kennt, dessen Abtrennung von Serbien die materielle Lage der Bevölkerung kaum verbessern konnte, obwohl die NATO-Staaten eine pro Kopf der Bevölkerung um ein Vielfaches höhere Finanzhilfe als in Afghanistan bereitgestellt haben. Dennoch konnten die wirtschaftlichen Aktivitäten der Vorkriegszeit nicht wiederbelebt werden, während Drogen-, Waffen- und Menschenhandel zu den wichtigsten Erwerbszweigen dieses EU-Protektorats gehören. Die Parallelen zu Afghanistan sind unübersehbar, nur daß sich die soziale Lage am Hindukusch noch um einige Grade brutaler und elender darstellt.

Stellungnahmen deutscher Kriegsbefürworterinnen, die sich insbesondere die Befreiung der afghanischen Frauen an die Fahne geheftet haben, zu den materiellen Defiziten und dem krassen Mißverhältnis zwischen ziviler Hilfe und militärischer Bemittelung sind inzwischen sehr dünn gesät. Wie sollte frau auch erklären, daß patriarchalische Unterdrückung eben nicht durch patriarchalische Kriegführung zu beseitigen ist, sondern maßgeblich von den Betroffenen selbst zum Anlaß streitbarer emanzipatorischer Entwicklung genommen werden sollte, wenn frau von patriarchalischer Herrschaft profitiert? Wie läßt sich die Gutheißung imperialistischer Kriegführung mit der Kritik an materieller Verelendung vereinbaren? Wer diesen Krieg mit der Not afghanischer Frauen legitimiert hat, täte gut daran, Rechenschaft über den Verzicht auf das Machbare, die angemessene materielle Versorgung insbesondere von Müttern, abzulegen. Tatsächlich tritt dieser Krieg auch im Falle der Bundeswehr längst als geostrategischer und bündnispolitischer Selbstzweck hervor. An moralischen Argumenten möchten sich heute nicht einmal mehr Militärseelsoger messen lassen, geschweige denn lodengrüne Politikerinnen.

Fußnote:

http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13432344/Afghanische-Frauen-leben-am-gefaehrlichsten.html

17. Juni 2011