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RAUB/0968: Im Karzer der Arbeitsgesellschaft ... "bildungsfern" bei Wasser und Brot (SB)



Bei der Festlegung dessen, was ein Mensch in der Bundesrepublik benötigt, um ein dieser Gesellschaft angemessenes Leben zu führen, nähert sich die Bundesregierung immer mehr der Definition eines Existenzminimums an, das am bloßen materiellen Überleben orientiert ist. So spiegelt sich in den sogenannten Wertentscheidungen, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bei der Neuregelung des SGB II getroffen hat, ein Menschenbild, mit dem der Homo oeconomicus auf seine Mangelkonstitution festgeschrieben wird. Die sozialdarwinistische Administration der als entbehrlich verstandenen Bevölkerung befreit deren Versorgung zusehends von allem, was nicht unmittelbare körperliche Folgen von Krankheit und Tod zeitigt.

Mit einer an Zynismus grenzenden Diktion wird die beschlossene Streichung der Ausgaben für Alkohol und Tabakwaren begründet:

"Alkohol und Tabakwaren sind legale Drogen oder sogenannte Genussgifte und gehören somit nicht zum existenzsichernden Grundbedarf. Deswegen fließen die in der EVS ermittelten Durchschnittswerte (8,11 Euro für Alkohol und 11,08 Euro für Tabak) nicht in den neuen Regelsatz ein. Anders als der Alkoholgehalt gehört die Flüssigkeitsaufnahme an sich zum existenzsichernden Grundbedarf. Deswegen wird, nachdem die Position für alkoholische Gertränke entfällt, an anderer Stelle ein Betrag für eine entsprechende zusätzliche Menge nichtalkoholischer Getränke regelsatzerhöhend aufgeschlagen (2,99 Euro für Mineralwasser)." [1]

Einmal abgesehen davon, daß rauschhafter Exzeß bei den bislang im Regelsatz für diese "legalen Drogen" enthaltenen Ausgaben ferner nicht liegen könnte, läßt der Verweis auf den "existenzsichernden Grundbedarf" ahnen, daß das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist. So wären Formen der zentralisierten Unterbringung bei Wasser und Brot denkbar, die weit weniger Kosten erzeugten und dennoch den Anspruch eines minimalen Überlebensbedarfs erfüllen könnten. Da man mit Lagern in diesem Land Erfahrungen gemacht hat, die selbst den Verfechtern großdeutscher NS-Herrlichkeit peinlich sind, bleiben derartige Vorschläge bislang ebenso aus wie der Ruf nach Sterilisierung von Langzeitarbeitlosen.

Schon in der Streichung ihres Elterngelds nimmt jedoch eine Populationseugenik Gestalt an, mit der eine Wertentscheidung gegen den Kinderwunsch erwerbsloser Paare getroffen wurde. Vorschläge zur Kasernierung von Hartz IV-Empfängern im leerstehenden Wohnraum ostdeutscher Plattenbausiedlungen wurden schon zur Beginn der Agenda 2010 laut, und die Müntefering-Sentenz von der Bindung der Arbeitspflicht und dem nur dann gewährten Anspruch auf Ernährung bleibt ebenfalls unvergessen. Wer die Latenz eliminatorischer Zwangsregime empört von sich weist, schützt Geschichtsblindheit vor und hat von der politisch volatilen Dynamik administrativer Sachzwanglogik nichts verstanden.

Sogenannte Genußgifte sind Bestandteil der soziokulturellen Lebenswelt der Bundesbürger und für Menschen in beengten Lebensverhältnissen, die sich einmal in dieser Form von Kompensation eingerichtet haben, erst recht unverzichtbar. Ihnen ein gelegentliches Bier und die Zigarette mit dem unausgesprochenen Verdikt zu entziehen, daß wer nicht arbeitet, auch nicht genießen solle, fördert ein Menschenbild zutage, das in der Institution des Arbeitshauses oder Arbeitslagers seinen adäquaten Ausdruck findet. Das angeblich unproduktive Element soll kujoniert werden, bis auch der letzte Rest an Eigenständigkeit gebrochen ist, der zu Aufbegehren und Widerstand Anlaß geben könnte.

Gezielt negiert werden die durch Rauchen und Trinken geschaffenen sozialen Begegnungsflächen und die Unterbrechung der totalen Verfügbarkeit, deren Nutznießer in einer Zigarettenpause schon das Übel mehrwertmindernder Sabotage wittern. Wo das medizinaltechnokratische Gesundheitsregime den Idealtypus des asketischen, sein selbstoptimiertes Erscheinungsbild regelrecht inszenierenden Leistungsträgers propagiert, da soll dessen negativer Schattenwurf nicht nur durch eine Arbeit, deren Zwangscharakter und Rechtlosigkeit alles andere als frei macht, sondern auch durch postkonsumistische Enthaltsamkeit auf mangelinduzierte Freudlosigkeit zugerichtet werden.

Bezeichnenderweise werden sogenannte Genußgifte nicht einmal mit dem Argument gesundheitlicher Optimierung aus dem Regelsatz gestrichen, würfe das doch die Frage auf, wieso Hartz IV-Empfängern nicht ein ungleich höherer Regelsatz für qualitativ hochwertige Ernährung zugebilligt wird. Man will nicht daran rühren, wie es um die geistige und körperliche Entwicklung dauerhaft aus der Arbeitsgesellschaft ausgegrenzte Menschen bestellt ist. Während deren Minimalversorgung die untere Grenze einer Lohndrückerei markiert, die der deutschen Exportwirtschaft zu neuen Siegen im Kampf um verbliebene Akkumulationschancen verhilft, sollen die Käufer der dazu benötigten Arbeitskraft keinesfalls mit den gesundheitsschädigenden Folgen fremdbestimmter Arbeit belastet werden. Die auch im Zusammenhang mit Genußmittelkonsum von Erwerbslosen erhobene Forderung, individuell in Kauf genommene Gesundheitsrisiken mit der Entrichtung höherer Krankenkassenbeiträge zu quittieren, zieht die negativen Auswirkungen der Industriegesellschaft auf die Gesundheit ihrer Bürger nicht ins Kalkül neoliberaler Sanktionslogik. So sehr man sich einig darüber ist, diese Folgekosten der kapitalistischen Wertschöpfung zu sozialisieren, so wenig will man wahrhaben, wie sehr die physische und psychische Verfaßtheit des einzelnen Menschen Ergebnis der ihn bedingenden Vergesellschaftungsform ist.

Die bisher für Alkohol und Tabak gewährten 19,19 Euro durch 2,99 Euro für Mineralwasser zu ersetzen zeugt denn auch vom Zynismus einer Funktionselite, deren Selbstverständnis so exklusiv ist, daß ihr die Probleme und Nöte armer Menschen nicht fremder sein könnten. Angesichts des rudimentären Sprachvermögens, das die Urheber der Belehrung "Anders als der Alkoholgehalt gehört die Flüssigkeitsaufnahme an sich zum existenzsichernden Grundbedarf" an den Tag legen, mutet das unter Ministerialbeamten übliche Räsonieren über "bildungsferne Schichten" aberwitzig an. Warum Deutschkurse für Migranten obligatorisch machen, wenn die einheimische Bevölkerung ihrer Sprache nicht mächtig ist? Überhaupt zu postulieren, daß der Mensch trinken muß, und dies als "Bedarf" und nicht als "Bedürfnis" auszuweisen, läßt ahnen, daß das vermeintlich Selbstverständliche längst nicht mehr unverhandelbar ist.

Daß Erwerbslose auf das tote Gleis einer Mangelverwaltung geschoben und dort dem permanenten Rechtfertigungszwang eines informellen Duldungsstatus ausgesetzt werden sollen, zeigt sich auch in der Aberkennung jeglichen Anspruchs auf Bildungszuwendungen nach Vollendung des 25. Lebensjahrs. Wer es bis dahin nicht geschafft hat, als Erwerbstätiger Fuß zu fassen und der Forderung eines lebenslangen Lernens zu genügen, mit dem die Kosten der Adaption verwertungstauglicher Fähigkeiten auf den Verkäufer seiner Arbeitskraft umgeschlagen werden, der fällt frei nach der Devise "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" als Adressat weiterer Bildungsangebote aus.

Der im gesellschaftspolitischen Diskurs besonders hoch gehandelte Bildungsauftrag zielt nicht darauf ab, Kulturgüter zu vermitteln und zu entwickeln. Es geht nicht um humanistische Bildung, um staatsbürgerliche Aufklärung oder gar Emanzipation vom Stigma "bildungsferner" Schichten. Verlangt wird die Optimierung des eigenen Beitrags zum gesamtgesellschaftlichen Produkt. Wie Arbeit zum Ideal verabsolutiert wird, um über ihren Antagonisten, das Kapital, nicht sprechen zu müssen, wird Bildung zur Generallösung hochgejubelt, um über ihre Inhalte zu schweigen. Daß deren aktive Förderung im existenzsichernden Versorgungsprofil für Erwachsene, die für die Arbeitsgesellschaft mehrheitlich abgeschrieben sind, nicht mehr vorgesehen sein soll, dokumentiert das grundsätzliche Mißtrauen gegenüber jeder Form von Wissen, das sich nicht in die große Maschine einspeisen und hermetisch kontrollieren läßt.

So dumm wie das zugleich verordnete wie verächtlich gemachte Unterhaltungsfernsehen soll der für überflüssig erklärte Mensch bleiben, und in den Genuß kleiner Pausen vom Stress der Schuld, in die er für das Gnadenbrot seiner Delinquenz gestellt wird, soll er schon gar nicht gelangen. Das kapitalistische Krisenmanagement befleißigt sich einer instrumentellen Sachzwanglogik, die ihre Urheber von jedem Verdacht, gegenüber Erwerbslosen eine Politik der strafenden Ausgrenzung zu betreiben, freispricht. Vor dem Hintergrund budgetpolitischer und weltwirtschaftlicher Zwangslagen wird das Bild eines humanen Störfaktors entworfen, eines Menschen, der zu negieren ist, sobald er als solcher in Erscheinung tritt.

Fußnote:

[1] http://www.bmas.de/portal/47918/2010__09__24__zentrale__informationen__sgb2.html#thema_02

27. September 2010