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RAUB/0951: Neokonservatives Austeritätsregime vernichtet menschliche Autonomie (SB)



Die EU soll keine Transferökonomie werden, lautet das erklärte Ziel der westeuropäischen Kapitaleliten. Der mit dem ganzen Gewicht industrieller Produktivität und finanzkapitalistischer Hebelwirkung erwirtschaftete Reichtum soll aus zwei Gründen nicht in die Armutszone der ost- und südeuropäischen Peripherie abfließen. Zum einen will man das akkumulierte Kapital weiterverwerten, anstatt es in marode Staatshaushalte und die Versorgung notleidender Bevölkerungen zu stecken. Zum andern soll das innereuropäische Gefälle der Wirtschaftsleistungen erhalten bleiben, weil es ein wesentlicher Faktor im neoliberalen Standortwettbewerb ist. So können die Lohnforderungen der Arbeiter und Angestellten in den Ländern mit hohem Produktivitätsniveau unter Verweis auf die Abwanderung von Unternehmen in Billiglohnländer nach unten gedrückt werden, während die Ansprüche der Erwerbstätigen in den Niedriglohnländern mit nämlichem Argument der Wahrung ihres Standortvorteils im Zaum gehalten werden.

Über eine sozialfreundliche Alimentierung der griechischen Lohnabhängigen, die für die Krise der Staatsfinanzen ihres Landes am wenigsten können, wurde dementsprechend nicht einmal im Ansatz nachgedacht. Ganz im Gegenteil, die Politik der Bundesregierung, das Land am ausgestreckten Arm so lange zappeln zu lassen, bis die Regierung in Athen sich bereiterklärt, drakonische Sparmaßnahmen durchzusetzen, beweist, daß die Krisenregulation vor allem auf dem Rücken der Lohnabhängigen und Erwerbsunfähigen ausgetragen werden soll. Dies gilt allerdings nicht nur für die griechische Bevölkerung, sondern für das Gros der Menschen in der EU. Die zur Verhinderung einer Transferunion konzipierte Austeritätspolitik trifft auch die Menschen in den großen EU-Staaten Westeuropas, und das nicht nur wegen der Krise der Staatsfinanzen. Es liegt in der Funktionslogik des kapitalistischen Akkumulationsregimes, den Faktor Arbeit billig und die Bereitstellung der Mittel für die materiell angemessene Lebensführung Erwerbsloser zu diesem Zweck knapp zu halten.

Aus der sozialfeindlichen Stoßrichtung des Krisenmanagements machen Vordenker der europäischen Integration wie Timothy Garton Ash denn auch kein Hehl. Als Direktor des European Studies Centre an der University of Oxford und Vorstandsmitglied im Think Tank European Council on Foreign Relations (ECFR) vergleicht er das "europäische Sozialmodell" in der britischen Tageszeitung The Guardian (12.05.2010] mit einem "alten, rostigen Benzinschlucker", der in ein "neues, schlankeres, kargeres/gemeineres [meaner], aber auch grüneres Hybrid" verwandelt werden müsse: "In der unvermeidlichen neuen Politik der Austerität stellt sich die Frage, ob es sich um eine bloß destruktive Austerität oder auch eine kreative Austerität handelt. Die Herausforderung ist eine kollektive, in der Eurozone, von der sich Britannien nicht vollständig separieren kann, aber auch eine individuelle für jedes europäisches Land." [1]

Die unterstellte Unvermeidlichkeit des Sparregimes bahnt der Fortsetzung einer Wohlstandsverteilung den Weg, die große Teile der Bevölkerung unumkehrbar in Armut und Elend verbannt. Die Entkopplung der Arbeitslöhne von der Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Produkts schanzt den Kapitaleliten seit Jahrzehnten einen wachsenden Anteil am Volksvermögen zu, was allein mit dem Argument legitimiert wird, daß sie als Kapitalinvestoren das Wachstum der Volkswirtschaft ermöglichten. Seit die nichtvorhandene Deckung des akkumulierten Finanzkapitals durch materielle Güterproduktion und Dienstleistungen offen zutage getreten ist, wurde diesem Argument eigentlich der Boden entzogen.

Um so aggressiver insistieren neokonservative Demagogen wie Ash auf die Doktrin der "kreativen Zerstörung", die die humane Entwicklung ausschließlich als Produkt gegen den Menschen eingesetzter Zwänge versteht. Mit der weiteren Auszehrung öffentlicher Haushalte und Verbilligung des Faktors Arbeit wird eine sozialdarwinistische Gesellschaftsordnung durchgesetzt, die den Menschen seiner letzten Potentiale berauben soll, sich auf andere Interessen als die des materiellen Überlebens durch optimierten Raub zu besinnen. Demgegenüber gilt es, nicht ökonomisch determinierte Qualitäten menschlicher Lebens- und Kulturpraxis stark zu machen, so daß der Widerstand gegen die Totalisierung der Verwertungslogik auf bereits zurückeroberte Positionen der Solidarität und Selbstbestimmung aufbauen kann.

Fußnote:

[1] http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2010/may/12/britain-europe-separate-and-same-crises

15. Mai 2010