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RAUB/0930: Britischer Pfarrer kratzt an den Besitzverhältnissen (SB)



Der Rat eines englischen Pfarrers an seine Gemeinde, sich in Zeiten der Not mit Ladendiebstahl zu behelfen, gerät zu einem Stich ins Wespennest. In seiner unkonventionellen Sonntagspredigt erstaunte der Seelsorger der Gemeinden St. Lawrence und St. Hilda in der Grafschaft York, Tim Jones, die Kirchgänger mit seinem Verständnis für die Übertretung des siebten Gebots, wobei er die Umstände und Verfahrensweise recht präzise definierte.

Der ehemalige Gefängniskaplan veranschaulichte der versammelten Gemeinde seine überraschende Empfehlung am Beispiel eines Haftentlassenen, der an die Tür des Pfarrhauses klopft, weil er hungrig ist und seit Wochen keine Unterstützung erhalten hat: "Wenn er bettelt, kann dies gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen, wenn er, weil ihm keiner Geld leiht, zu einem Kredithai geht, begibt er sich in sklavereiähnliche Abhängigkeit. Das Gehalt eines Priesters reicht auch nicht aus, um die Bedürfnisse aller zu decken. Unter diesen Umständen rate ich Menschen, die von der Gesellschaft so übel im Stich gelassen wurden, nicht zu Raub oder Prostitution, sondern zu Ladendiebstahl", zitiert der Guardian den Kirchenmann.

Pfarrer Tim Jones riet betroffenen Menschen allerdings, keine kleinen Familienbetriebe zu bestehlen, sondern große, landesweit vertretene Unternehmen wie Kaufhausketten. Außerdem sollten sie im Gedächtnis behalten, daß die Kosten in Form höherer Preise an alle Kunden weitergegeben werden: "Sie sollten nicht mehr stehlen, als sie brauchen."

So hoch die Wogen der Empörung nach Bekanntwerden dieser Predigt auch schlugen, steht Pfarrer Jones doch laut der britischen Zeitung The Press zu seiner Aussage. Er geht mit der Gesellschaft hart ins Gericht, die den Bedürftigen kaum eine andere Möglichkeit lasse, als Straftaten zu begehen. Vor allem wolle er seine Worte nicht als bloßen Aufruf zum Ladendiebstahl verstanden wissen, da es sich eher um einen Aufruf an die Gesellschaft handle, ihre verletzlichsten Menschen nicht mit Gleichgültigkeit und Verachtung zu behandeln.

Heftige Kritik setzte es von seiten der Polizei, die in der Predigt einen keinesfalls hinzunehmenden Aufruf zur Verübung von Straftaten sieht. Mit Empörung reagierten auch die Besitzer britischer Handelsketten. So wurde der Sprecher der Supermarkt-Kette Asda mit den Worten zitiert: "Vielleicht sollte Pfarrer Tim Jones seine Predigt in unserem Geschäft wiederholen und dann einmal die Reaktionen hören."

Dessen Vorgesetzter Richard Seed, Erzdekan von York, distanzierte sich umgehend von der Predigt und betonte, daß die anglikanische Kirche weder zu Ladendiebstahl noch zu anderen Gesetzesbrüchen rate. Nach Angaben einer Sprecherin seiner Kirche drohen Pfarrer Jones jedoch keine disziplinarischen Konsequenzen - vorerst, muß man wohl hinzufügen, da sich die Front der Säulenheiligen herrschender gesellschaftlicher Verhältnisse angesichts der Kürze der Zeit noch nicht geschlossen hat.

Wird man auf Verdrängung setzen und behaupten, man solle die Worte des Geistlichen nur ja nicht wörtlich nehmen, da er mit deren drastischer Wahl die Menschen lediglich aufrütteln und zu Mildtätigkeit anhalten wollte? Das böte eine willkommene Gelegenheit, vor dem Weihnachtsfest zu den obligatorischen Appellen an den Gemeinsinn überzuleiten und das um sich greifende Elend mit dem zynischen Verweis auf den unterwürfigen Empfang von Almosen zu konterkarieren.

Was aber, wenn Tim Jones kein Jota von seiner Predigt zurücknimmt und sie keineswegs nur als Gleichnis verstanden wissen will? Was, wenn er Zuspruch in der britischen Gesellschaft findet, und die Hungerleider in ihm einen Fürsprecher sehen, der sie in ihren aus der Not geborenen Optionen, das Überleben zu sichern, unterstützt? Was, wenn sich der Gedanke von seinem Urheber emanzipiert und zu fundamentaleren Fragen und Konsequenzen führt? Wenngleich nichts so unumstößlich daherkommt, wie die Besitzverhältnisse, thronen sie doch auf den tönernen Füßen der Beteiligung jener Mehrheit, zu deren Lasten das herrschende Raubgefüge organisiert wird.

22. Dezember 2009