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RAUB/0909: Eklat um schwedischen Organraub-Artikel am Thema vorbei (SB)



Angesichts der heftigen Vorwürfe, die der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet, dem Journalisten Donald Boström und der Regierung in Stockholm wegen des Artikels vom 17. August 2009 über angeblich von den israelischen Streitkräften begangenen Organraub an Palästinensern gemacht werden, lohnt es sich, einen Blick auf die Aussagen zu werfen, die diesem Eklat zugrundeliegen. Dies wird, obwohl der Streit bereits die internationale Aufmerksamkeitsschwelle überschritten hat, in der Berichterstattung der etablierten Medien kaum getan. Als wolle man den inkriminierten Inhalt ohne weitere Analyse mit dem Stigma des Antisemitismus versiegeln, bleibt die Debatte über den unterstellten Sachverhalt zumindest im deutschsprachigen Bereich auf Internetforen und Online-Magazine beschränkt.

In jedem Fall inakzeptabel ist es, wenn die pauschale Verunglimpfung palästinensischer Aktivisten als Terroristen zum guten Ton vieler westlicher Zeitungen gehören, auch wenn ihnen keine Täterschaft bei einem Attentat nachgewiesen werden kann oder wenn sie sich im Widerstand gegen die israelische Besatzungsmacht auf das Völkerrecht berufen, während an die Besatzungsmacht gerichtete Beschuldigungen härtesten Wahrheitskriterien unterworfen werden. Allein die Verneblungsstrategie der israelische Regierung, mit der die Enthüllung der an Palästinensern während des Überfalls auf Gaza begangenen Verbrechen hintertrieben wurde, stellt der Regierung in Tel Aviv nicht eben beste Noten im korrekten Umgang mit Tatsachen aus.

Es ist eine Binsenweisheit, daß die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist, doch warum sollte den Palästinensern nicht zugutegehalten werden, was die israelische Regierung mit ihrer PR-Maschinerie selbstredend in Anspruch nimmt? Die von Boström angestoßene Debatte betrifft eine Facette des himmelschreienden Unrechts, das den Palästinensern angetan wird, und sollte es sich tatsächlich um eine haltlose Behauptung oder urbane Legende handeln, dann ändert das nichts an der Meinungshegemonie, die die israelische Besatzungsmacht auch dann in Anspruch nehmen kann, wenn die Fakten gegen sie sprechen. Meinungsmacht in kapitalistischen Gesellschaften wird durch vielfältige Interessen korrumpiert, nicht zuletzt durch die geostrategischen Konzepten, die die Regierungen der Staaten verfolgen, in denen die entsprechenden Verlagskonzerne angesiedelt sind. Die die Angriffskriege auf Jugoslawien in der Bundesrepublik und den Angriffskrieg gegen den Irak in den USA unterstützenden Medienkampagnen bieten dafür ein anschauliches Beispiel. Man hat es bei medialen Skandalen nie allein mit dem Gegenstand der Erregung zu tun, sondern immer auch mit einem meist unsichtbaren Umfeld von Interessenkonstellationen, die dessen Bewertung beeinflussen.

Zweifellos ist der mit dem Zitat "Unsere Söhne wurden ihrer Organe beraubt" überschriebene Artikel Boströms tendenziös und in dem zentralen Fallbeispiel, mit dem er seinen Verdacht untermauert, klärungsbedürftig. Dennoch bedient sich die Behauptung, er sei von antisemitischen Motiven betrieben, weil damit ein klassischer Topos des christlichen Antijudaismus bedient werde, einer Assoziation, die in dieser Generalisierung bedeutete, über keinen Fall von illegalem Organhandel berichten zu dürfen, an dem Menschen jüdischen Glaubens beteiligt sind. Eben dies tut Boström einleitend, wenn er den vor wenigen Wochen in den USA publik gewordenen Fall des Organhändlers Levy Izhak Rosenbaum aufgreift.

Boström stellt dessen nach eigenem Bekunden florierendes Geschäft, bei dem auch Nieren vorgeblich armer Menschen aus Israel in die USA geschmuggelt wurden, in den Kontext des internationalen Handels mit Organen, der laut dem in Harvard lehrenden Professor für Transplantationsmedizin Francis Delmonici mit einem Umfang von 5000 bis 6000 Operationen im Jahr etwa ein Zehntel aller weltweit transplantierten Nieren ausmacht. In diesem Zusammenhang führt Boström namentlich Pakistan, die Philippinen und China an, wo angeblich exekutierten Gefangenen in staatlichem Auftrag Organe zur Weiterverwendung entnommen werden.

Um die Plausibilität der von Palästinensern gegen Israel erhobenen Vorwürfe des Organraubs zu erhärten, verweist Boström auf eine Konferenz im Jahre 2003, die ergeben habe, "daß Israel das einzige westliche Land ist, dessen Ärztestand den illegalen Organhandel nicht verurteilt. Das Land ergreift keine rechtlichen Maßnahmen gegen Ärzte, die an dem illegalen Geschäft teilnehmen - im Gegenteil, führende Ärzte der großen Krankenhäuser Israels sind laut Dagens Nyheter (5. Dezember 2003) in die meisten der illegalen Transplantationen verwickelt."

Für die Beteiligung von Bürgern Israels an der internationalen Vermittlung von "Spendern", die eine Niere verkaufen, und Empfängern, die dafür meist ein Vielfaches des ursprünglichen Preises bezahlen, gibt es diverse Beispiele, die zumindest den Verdacht nahelegen, daß der liberale Umgang Israels mit der Organsubstitution derartige Geschäfte begünstigt. So behauptete Martina Keller in der Wochenzeitung Die Zeit (50/2002) am Beispiel eines israelischen Organempfängers, der seine Niere bei einem israelischen Geschäftsmann erstanden und in der Türkei eingepflanzt bekommen hatte, in Israel sei der Kauf einer Niere "so normal, dass mancher Kranker erst gar nicht die eigene Familie mit der Bitte um eine Organspende belastet". Obwohl das Geschäft mit Ersatzorganen in Israel verboten sei, hat sich laut Keller eine Praxis etabliert, die dieses Verbot gegenstandslos macht:

"Auch die israelischen Krankenkassen sponsern Auslandstransplantationen - mit Billigung des Gesundheitsministeriums. Auf Dauer ist die Dialyse teurer als eine Organverpflanzung mit ihren Folgekosten. So erstatten die Kassen den Patienten den in Israel üblichen Kostensatz einer Transplantation, rund 32000 Dollar. Das ganze Verfahren ist unkompliziert, denn die Krankenkassen betreiben keine Recherche, ob die Transplantation im Ausland womöglich illegal war. Die Patienten müssen lediglich vor einem Notar erklären, wie viel sie an den Broker gezahlt haben. Denn Quittungen sind unüblich."

Im Online-Magazin Telepolis berichtete Andrea Naica-Loebell zwei Jahre später (22.06.2004) über die Aufdeckung eines internationalen Organhändlerrings, als dessen Kopf der israelische Vermittler Ilan Peri verdächtigt wurde. Dabei erläuterte sie:

"Israel ist eine Drehscheibe für Organe, weil es dort kaum postmortale Spender gibt, was mit der nicht unumstrittenen, sehr strikten Auslegung des jüdischen Glaubens zu tun hat: Viele Juden glauben, dass der Körper möglichst komplett und unversehrt bestattet werden muss (Ask Rabbi Simmons und Jewish Law and Organ Transplantation)."

Auch Naica-Loebell stellt den internationalen Organhandel in einen globalen Kontext, in dem israelische Geschäftsleute lediglich eine durch den laxen Umgang mit dem Verbot der kommerziellen Organspendepraxis begünstigte Position einnehmen. Daß Boström diesen Rahmen wählt, um eine Verbindung zwischen einer 1992 vom damaligen Gesundheitsminister Ehud Olmert gestarteten Kampagne zur stärkeren Beteiligung an der Organspende, der dennoch gegebenen Unterversorgung mit Ersatzorganen und dem Verschwinden junger Palästinenser in den besetzten Gebieten zu ziehen, ist zweifellos spekulativ und könnte als journalistisches Flickwerk von einer Art, wie sie in Boulevardzeitungen üblich ist, beanstandet werden. Nichtsdestotrotz ist der Blick auf den in Israel üblichen Umgang mit dem kommerziellen Organhandel in einem Fall, in dem das meiste im Dunkeln liegt, von Belang, werden doch auch andere Formen des Raubs erst im Kontext sie bedingender gesellschaftlicher Umstände verständlich.

Boströms Bekundung, ihm sei von mehreren Personen über an jungen Palästinensern begangenen Organraub berichtet worden, darunter Mitgliedern der Vereinten Nationen, überläßt er es dem Leser, ihm zu glauben oder nicht. Der schwedische Journalist bedient sich dabei einer Praxis, die in renommierten Zeitungen wie der New York Times häufig anzutreffen ist, wenn etwa prekäre Informationen aus Regierungskreisen in Umlauf gebracht werden.

Der von Boström geschilderte Fall des jungen Palästinensers Bilal Ghanan, der von israelischen Soldaten erschossen wurde und nach fünf Tagen des nachts, eingehüllt in grüne Krankenhausbettwäsche, seiner Familie übergeben wurde, die ihn gleich darauf auf Anweisung der Militärs beerdigte und dabei eine vom Kinn bis zum Abdomen reichende Narbe entdeckt haben soll, wirkt auf den ersten Blick wie ein starkes Verdachtsmoment, das die Behauptung des Organraubs unterstützt. Hier tut sich allerdings das Problem auf, daß die Famile Ghanan Boströms Bericht in weiten Teilen widerspricht. Laut einem von Khaled Abu Toameh für die Jerusalem Post (24.08.2009) verfaßten Bericht erklären die Verwandten Bilals, die dort unter dem Familiennamen Ghanem geführt werden, daß sie dessen Vorwürfe nicht bestätigen können. So sagt sein jüngerer Bruder Jalal: "Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Wir haben keinen Beweis, um dies zu belegen". Die Mutter Bilals bestreitet, einem ausländischen Journalisten gegenüber behauptet zu haben, daß die Organe ihres Sohnes geraubt wurden, will aber die Möglichkeit, daß derartige Dinge geschehen, nicht ausschließen. Jalal und zwei Vettern geben allerdings an, daß an Bilals Leiche die Zähne fehlten und daß sie eine Operationsnaht gesehen hätten, die vom Kinn bis zum unteren Rand des Magens verlaufen wäre. Offensichtlich hätte man eine Obduktion an der Leiche Bilals vorgenommen, vermutet Jalal, und erklärt, die israelische Armee hätte ihnen, als sie den Leichnam mitten in der Nacht übergab, befohlen, ihn sofort zu beerdigen. Er und andere Dorfbewohner hätten einen schwedischen Fotografen gesehen, der einige Bilder von dem Körper Bilals vor der Bestattung gemacht hätte, daß wäre allerdings das einzige Mal gewesen, daß sie diesem Mann begegnet wären. Ein anderer Verwandter Bilals, Ibrahim Ghanem, bestätigt, daß die Familie dem schwedischen Fotografen gegenüber niemals behauptet hätte, daß Israel die Organe aus dem Leichnam gestohlen hätte. Die Familie wisse darüber nichts, weil sie niemals eine eigene Autopsie durchgeführt habe. Jalal und andere Familienmitglieder bestätigen, daß es seit langem Gerüchte über die Ermordung von Palästinensern gebe, die israelische Soldaten mit der Absicht durchführten, ihre Organe zu stehlen, und verlangen eine internationale Untersuchung des Vorwurfs.

Damit ist Boströms Geschichte allerdings nicht widerlegt, hat er in ihr doch keinen Angehörigen Bilal Ghanans zitiert, sondern lediglich behauptet:

"Als Bilal in das Grab gelegt wurde, wurde seine Brust entblößt. Plötzlich wurde den wenigen Leuten, die anwesend waren, klar, welchem Mißbrauch der Junge ausgesetzt war. Bilal war bei weiten nicht der erste junge Palästinenser, der mit einem Schnitt von seinem Abdomen bis zu seinem Kinn beerdigt wurde."

Um dies zu belegen, zitiert Boström die Fragen der Verwandten von vier jungen Palästinensern, die erleben mußten, daß ihre Söhne und Neffen erst Tage nach ihrem Verschwinden von den israelische Soldaten als Leichen, die einer Autopsie unterzogen worden waren, des nachts zurückgegeben wurden. Die Angehörigen wollen wissen, wieso die Leichen bis zu fünf Tage lang in Verwahrung der israelische Streitkräfte blieben, wieso sie gegen den Willen der Familien obduziert wurden, warum sie ihnen mitten in der Nacht im Schutz einer militärischen Eskorte ausgehändigt wurden, warum man das Gebiet um die Beerdigung hermetisch abgeriegelt und die Elektrizität abgestellt hat. Laut Boström kamen im Jahr 1992 im Zusammenhang mit der Ersten Intifada 133 Palästinenser gewaltsam ums Leben, von denen allerdings nur 69 einer postmortalen Untersuchung unterzogen wurden. Mit dieser Zahl tritt er der Behauptung des israelischen Militärs entgegen, daß routinemäßig an allen Opfern Obduktionen durchgeführt würden.

Abschließend erhebt Boström die Forderung, angesichts der großen Nachfrage nach Spenderorganen und den merkwürdigen Umständen des Verschwindens junger Palästinenser Klarheit zu schaffen. Damit hat sich der schwedische Journalist zweifellos weit aus dem Fenster gelehnt, allerdings nicht so weit, daß er jede Bodenhaftung verliert und abstürzt. Vergleicht man seine Vermutungen mit den Verdachtsmomenten, anhand derer Strafverfolgungsbehörden westlicher Rechtsstaaten unbescholtene Personen unter Terrorverdacht stellen und Ermittlungen gegen sie aufnehmen, um von schlimmerem wie präventiven Zwangsmaßnahmen nicht zu sprechen, dann bergen sie allemal so viel Plausibilität, daß die Forderung nach einer Untersuchung der Vorwürfe gerechtfertigt ist.

Die vernichtende Massivität der gegen Boström gerichteten Vorwürfe mag ebenso, wie sie der Gefährlichkeit des antisemitischen Gerüchts geschuldet sein kann, dem angestrengten Austreten eines Brandes dienen, dessen Rauch unangenehme Wahrheiten erahnen läßt. Den Vorwurf propagandistischer Verleumdung konkret zu widerlegen ist das eine, den Urheber einer Bezichtigung mit demagogischen Mitteln niederzumachen das andere. Ersteres wäre erforderlich, um den auf diplomatische Ebene entuferten Streit beizulegen, letzteres ist allzuoft Praxis in einem machtpolitischen Geschäft, in dem man sich des Gerüchts ebensosehr bedient, als man es dem andern anlastet.

(Zitate aus dem Artikel Donald Boströms in eigener Übersetzung aus dem vom Übersetzernetzwerk www.tlaxcala.es auf Englisch verfügbar gemachten schwedischen Originaltext)

25. August 2009