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PROPAGANDA/1505: Feindbild Greta Thunberg - der Zorn der Feisten und Satten ... (SB)



Den sozialökologischen Aktivismus einer 16jährigen Schülerin mit Kindesmißbrauch in Zusammenhang zu bringen, wie im Fall von Greta Thunberg nicht nur einmal geschehen, ist an paternalistischer Ignoranz kaum zu überbieten. Zu unterstellen, daß der Mensch in diesem Alter nicht in der Lage sei, den Wiedersprüchen zwischen gesellschaftlichem Schein und Sein auf den Zahn zu fühlen, läßt vermuten, daß die UrheberInnen derartiger Unterstellungen entweder vergessen haben, wie vehement sich Jugendliche mit einer Welt voller Konflikte und Ungereimheiten auseinandersetzen können, oder, was wahrscheinlicher ist, so behütet und privilegiert aufgewachsen sind, daß ihnen der Gedanke, gegen die ihnen abverlangte Anpassung und Unterwerfung zu rebellieren, niemals gekommen ist.

Frau, minderjährig, Asperger-Syndrom, aktiv gegen alles, was verbrauchsintensiv ist inklusive Tierausbeutung - die Klimaaktivistin Greta Thunberg könnte sich kaum mehr zum neuen Feindbild derjenigen eignen, denen das Privileg, mit dem Fuß auf dem Gaspedal, im Sitz eines Fliegers oder beim Verzehr eines Rindersteaks unter erheblichem Aufwand Raum und Ressourcen zu greifen, von ihresgleichen genommen werden soll. Wie naheliegend es ist, sich ihrer Popularität zu bedienen, um den anwachsenden Widerstand gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen in leichter beherrschbare Bahnen zu lenken, versteht sich von selbst. Den früheren US-Vizepräsidenten Al Gore zur klimapolitischen Lichtgestalt zu erklären und sich mit ihm ablichten zu lassen, kann man Greta Thunberg dennoch kaum anlasten, war sie doch nicht einmal geboren, als dieser erfolgreich darauf drängte, die erheblichen Treibhausgasemissionen des Militärs im Kyoto-Protokoll nicht zu berücksichtigen [1], um nur ein Beispiel für die politische Doppelbödigkeit dieses Exponenten des grünen Kapitalismus zu nennen. Auch der als Beleg angeblichen Kindesmißbrauchs angeführte Medienmechanismus, sich auf Thunberg gerade wegen ihrer Jugend zu stürzen, kann nicht allein erklären, warum ihre Botschaft so viel Resonanz erzeugt. In jedem Fall spricht sie eine Widerspruchslage an, die Jugendliche in aller Welt beschäftigen muß, wenn sie überhaupt Fragen an die Zukunft ihres Lebens haben.

Doch bloße Vereinnahmungstrategien sind nicht das Problem jener, die meinen, Greta Thunberg als Ausgeburt einer grünen PR-Maschinerie oder potentielle Ökofaschistin brandmarken zu müssen. Die vor allem der Neuen Rechten zugehörige Fraktion notorischer Leugner des Klimawandels wie die ultraliberalen SachwalterInnen der Freiheit, die Welt konsumistisch abfackeln zu dürfen, während man dabei zusieht, hegen zu Recht die Befürchtung, daß die schwedische Aktivistin eine neue Dimension des sozialökologischen Widerstandes anstoßen könnte. Wie die jüngste Welle von SchülerInnen initiierter Klimastreiks zeigt, macht ihr Beispiel im Wortsinne Schule. Ich will, daß ihr in Angst geratet, daß ihr die Panik spürt, die ich jeden Tag spüre - welchen Umständen es auch immer geschuldet ist, daß Greta Thunberg auf dem Elitetreffen WEF in Davos sprechen konnte, so machen ihre Worte eine Qualität der Dringlichkeit geltend, die das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit des globalen Klimaschutzes auf sehr direkte Weise kritisiert.

Sieht man von neurechten Demagogen wie jenem österreichischen Identitären ab, der Thunberg aufgrund einer äußerlichen Ähnlichkeit mit der Tochter Heinrich Himmlers vergleicht und erklärt, diese sei ja auch für politische Zwecke mißbraucht worden, so formiert sich die klimapolitische Reaktion auf bewährt populistische Weise und predigt das bequeme Weiter-wie-bisher. Das gilt für einen Hendryk Broder, der bei seiner Rede vor der AfD-Fraktion im Bundestag die Verschärfung des Straftatbestandes für Kindesmißbrauch anhand des Beispiels Greta Thunberg forderte und "das Klima zum Fetisch der Aufgeklärten" [2] erklärt. Das gilt für Christian Lindner, der behauptet, gegen das Auto werde ein Kulturkampf entfacht, bei dem es keineswegs um saubere Luft oder das Weltklima gehe, sondern die Umerziehung der Menschen und die Enthauptung der Autowirtschaft. Warum ein höchst erfolgreicher Wirtschaftszweig von keineswegs antikapitalistischen Grünen beschädigt werden sollte, wenn es ihnen nicht um die Beschränkung des Klimawandels ginge, erklärt der FDP-Chef allerdings nicht.

Wenn Verkehrsminister Andreas Scheuer freie Fahrt für freie Bürger fordert und jegliche Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen als Gängelung geißelt, nimmt er eine Freiheit in Anspruch, der die Unfreiheit anderer vorausgeht. Auch ihm müßte klar sein, daß das Treiben der Bleifußhelden auf einem Eigentumsvorbehalt höchst ungleicher Art basiert. Ob Dürre- oder Flutkatastrophe, ob Verkehrstod oder Feinstaubkontamination, die destruktiven Auswirkungen des motorisierten Individualverkehrs nehmen selbst bei E-Mobilität mit höherer Geschwindigkeit überproportional zu. Das betrifft nicht nur direkte Auswirkungen des Autoverkehrs wie die Belastung der Atmosphäre mit Treibhausgasen oder Stickoxiden, sondern den generellen Ressourcenverbrauch an Fläche, Rohstoffen und Energie, der bei dieser Verkehrsform desto höher zu Buche schlägt, je raumgreifender die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs ist.

Wer in der Sache so liberal wie Scheuer und viele andere UnionspolitikerInnen argumentiert, tut gerade so, als zeichneten ihre Parteien nicht für den Abbau bürgerlicher Freiheitsrechte und die Einschränkung hart erkämpfter ArbeiterInnenrechte verantwortlich. Daß das Eintreten für unbegrenztes Rasen und die behördliche Kujonierung einkommensarmer Menschen in ihren Augen kein Widerspruch sein muß, ist dem Klassencharaker jener Definitionshoheit geschuldet, laut der die Freiheit, unter Brücken zu schlafen, mit der Freiheit, die Welt im fossilen Brand zu verheizen, in eins zu setzen ist.

Dementsprechend ist man sich von der AfD bis zu den Unionsparteien in der Bekämpfung aller wachstumskritischen Bewegungen einig, denen die simple Rechnung, auf einem räumlich begrenzten Planeten nicht unendlich viel verbrauchen zu können, verbindliches Leitbild ist. Macht sich eine junge Frau auf, den Herren der kapitalistischen Wachstums- und Wettbewerbsgesellschaft die Sorge um die eigene Zukunft entgegenzuhalten, dann trifft sie damit ins Schwarze des Tabus, die bereits aus dem Klimawandel resultierenden Notlagen insbesondere im Globalen Süden angestrengt zu ignorieren und keinesfalls über den eigenen Tellerrand hinaus blicken zu müssen.

Daß die Diffamierung Greta Thunbergs sich zumindest teilweise antifeministischer und behindertenfeindlicher Stereotypien bedient, verweist auf den patriarchalen Impetus der Neuen Rechten und ultraliberalen Eliten. Es ist mithin schlimmer, als Lindner vermutet. Nicht Kulturkampf, sondern Klassenkampf ist der politische Kern des sozialökologischen Aufbruches junger Menschen, die keinen prinzipiellen Unterschied darin erkennen wollen, wenn Menschen ausgebeutet und unterdrückt oder rassistisch und sexistisch diffamiert, wenn Tiere gequält und Wälder zerstört werden, um Interessen zu sichern, die durchzusetzen zur Freiheit der Stärkeren verklärt werden.


Fußnoten:

[1] https://socialistproject.ca/2018/12/siloed-thinking-climate-disposable-people/

[2] https://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article187962993/Henryk-M-Broders-Rede-vor-der-AfD-Bundestagsfraktion.html

1. Februar 2019


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