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PROPAGANDA/1487: Bei der Nationalhymne hört der Spaß auf ... (SB)



Locker und leicht sollte er sein, der "positive Patriotismus", mit dem die nationalen Aufwallungen zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ins unschuldige Gewand harmloser Freude am Sport gehüllt wurden. Einen "ganz lässigen, modernen, freundlichen Patriotismus", so der Deutschlandfunk vor zehn Jahren, als Akt einer "Normalisierung" zu propagieren, die den scheinbaren Gegenentwurf des nationalistischen und chauvinistischen Patriotismus entsorgt, um dennoch nichts anderes zu tun, als die Bevölkerung hinter eine Fahne zu scharen, die auch militärische oder ökonomische Eroberungsstrategien im Programm nationaler Souveränität hat, zeitigt absehbare Folgen. Schon damals wurden Menschen, die es wagten, Einspruch gegen die massenmediale Verharmlosung des Nationalstolzes zu erheben, als "Miesmacher" und "Spielverderber" ins Abseits der Nationalgemeinschaft gestellt. Seit Rassismus und Nationalismus nicht nur in Kreisen von AfD und Pegida salonfähig geworden sind, bedarf der restaurative Größenwahn keiner verharmlosenden Bemäntelung mehr, wird in dessen bunter Mimikry doch immer unverkennbarer das Flecktarn kriegerischer Ermächtigung sichtbar.

Daß der angestrengte Versuch, sprachregulativ zu beschönigen, was durch die Kälte und Aggressivität der gesellschaftlichen Realität längst überholt wurde, auf eine Kultur repressiver Gängelung hinausläuft, zeigen auch die Reaktionen auf die Art und Weise, mit der der Sportler Christoph Harting das Abspielen der deutschen Nationalhymne nach der Verleihung der Goldmedaille für seinen Sieg beim Diskuswerfen im Olympischen Wettbewerb quittierte. Weil der Polizeimeister mit dem Gardemaß von 2,07 Metern bei der Siegerehrung zeitweilig die Arme vor der Brust verschränkte, lässig herumtänzelte und eine besonders lebhafte Mimik aufwies, wurde er zum "Verlierer des Tages" (Focus online) gekürt, als "peinlich" (Berliner Morgenpost) gegeißelt und für Volk und Nation zwangsrekrutiert (Märkische Oderzeitung): "Wenn die Fahne hochgezogen, die Nationalhymne angestimmt wird und Harting mit einem von der Sportförderung des Bundes finanzierten Trikot auf dem Treppchen steht, ist er nicht mehr Privatmann, dann ist er Repräsentant eines Landes."

Zutreffend daran ist, daß die Olympischen Spiele eine Arena für Nationenkonkurrenz darstellen, die des Zusatzes "friedlich" nicht bedürfte, wenn damit nicht bestätigt werden sollte, daß der Ernstfall des Krieges ultimativer Fluchtpunkt auf der Skala nationaler Ertüchtigung ist. Harting, der sich weigert, nach der Pfeife der massenmedialen Vermarktung des Sportevents zu tanzen und die Spielregeln des PR-Zirkus durch die brüske Ablehnung von Journalistenfragen bricht, täuscht sich denn auch in der Annahme, die Nationalhymne sei nur für ihn gespielt worden, wie er in einem unter dem Druck der Bezichtigungen zwecks Schadensbegrenzung gegebenen Interviews meint. Auch als Olympiasieger ist er Fußsoldat des nationalen Anliegens, das Megaspektakel für Imagepflege und Standortmarketing zu nutzen. Je fremdbestimmter symbolpolitische Ereignisse, desto austauschbarer ihre Akteure, das belegt die Uniformität des Leistungssportes. Die Vielfalt und Unberechenbarkeit individueller Lebenswirklichkeit wird zwecks fremdnütziger Ausbeutbarkeit auf Zahlenwerte und Leistungsparameter eingedampft, die erhoffte Freiheit physischer Bewegung an die Leine produktiver Domestizierung gelegt.

Hält Christoph Harting den Sachwaltern journalistischer Maßregelung entgegen, daß er vor keinem von ihnen gut dastehen müsse und es ihm egal sei, was sie über ihn denken, dann erklärt er sich auf eine Weise unabhängig von der Währung medialer Beachtung, die den Tauschhandel zwischen PR-technischer Glorifizierung und der dafür erforderlichen Paßförmigkeit des eigenen Auftretens insgesamt in Frage stellt. Wer auch nur geringfügige Anstalten unternimmt, aus dem für Nationalhelden besonders eng geschneiderten Verhaltenskorsett auszubrechen, schafft ein Beispiel, das keine Schule machen darf, denn Helden werden noch gebraucht. Nicht umsonst gilt Opferbereitschaft als soldatische und heroische Kerntugend, wird diese doch nicht erst im Kriege abgerufen, sondern zeigt sich schon in der unwidersprochenen Akzeptanz einer Ordnung, in der jeder klaglos seinen Platz einzunehmen hat, um Staat und Nation von Sieg zu Sieg zu führen.

15. August 2016


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