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PROPAGANDA/1475: Was könnte schlimmer sein als die Störung des Weihnachtseinkaufs? (SB)




Es bedarf schon eines russischen Oligarchen, um das Unrecht staatlicher Repression im HD-Format der Nachrichtenrotation anzuprangern. So sehr sich die Empörung deutscher Politikerinnen und Politiker an der Lagerhaft eines Michail Chodorkowskij oder an der strafrechtlichen Verfolgung der "Gasprinzessin" Julia Timoschenko entzündet, so kalt bleibt ihr Herz angesichts des Schicksals politischer Gefangener in sogenannten Marktdemokratien. Ob in der Türkei kurdische Aktivistinnen und Aktivisten zu Tausenden inhaftiert sind, ob palästinensische Jugendliche in israelischen Knästen traumatisiert werden, ob radikalökologische Aktivistinnen und Aktivisten in den USA und Britannien langjährige Haftstrafen für Aktionen absitzen müssen, bei denen kein Mensch zu Schaden kam, ob Gefangene aus ethnisch benachteiligten Gruppen aufgrund politischer Aktivitäten für Jahrzehnte in die Isolationszellen US-amerikanischer Hochsicherheitstrakte einfahren, entlockt den politischen und medialen Funktionseliten nicht einmal eine Krokodilsträne.

Hier wird nach eindeutigen Kriterien der Herrschaftsicherung geurteilt und berichtet, das belegt auch die Berichterstattung zu der frühzeitig von der Polizei in Hamburg gestoppten Demonstration, auf der am Sonnabend der Erhalt der Roten Flora, die Instandsetzung der Esso-Häuser und das Aufenthaltsrecht der Lampedusa-Flüchtlinge gefordert wurde. Die sich daran anschließenden Straßenschlachten sind einem großen Teil der Zeitungen und Sender Anlaß für die einhellige Verurteilung der Demonstrantinnen und Demonstranten. Ihnen wird pauschal unterstellt, nur aus Lust am "Krawall" nach Hamburg gekommen zu sein. Forderungen nach einer Einschränkung des Versammlungsrechts sind nun so wohlfeil, wie die nachträgliche Rechtfertigung der Verhängung des Ausnahmezustands über die Hamburger Innenstadt billig ist. In der im Vorfeld der Demonstration zum Gefahrenbereich erklärten City wurden der Polizei Sonderrechte zugestanden, wodurch zwei weitere angemeldete Kundgebungen am 21. Dezember zugunsten der Lampedusa-Flüchtlinge und gegen die Privatisierung des öffentlichen Raumes praktisch verhindert wurden.

Das Interesse des Einzelhandels an ungestörter Konsumlaune wiegt deutlich schwerer als die sozialen Nöte und gesellschaftlichen Widersprüche, die zu Weihnachten anhand von Reportagen über soziale Brennpunkte und Mißstände abgefeiert werden. Was in den Konzernmedien öffentlich über Not und Mangel, über Verfolgung und Unterdrückung verhandelt wird, trägt im wohlmeinendsten Falle die Handschrift des karitativen Almosenstaats. Für die Beschimpfung armer Menschen als parasitäre Kostgänger durch ihrerseits durch reale Lohnkürzungen immer härter gebeutelte Lohnabhängige scheint dieser Tage zwar Schonzeit zu gelten, doch von einer Parteinahme zugunsten der arm und krank, fremd und überflüssig Gemachten sind die Leitmedien der Einheitsklasse für Staat und Kapital weit entfernt.

Um so schärfer wird geurteilt, wenn der Frieden der Einkaufspassagen und Freßmeilen durch eine der größten Mobilisierungen der radikalen Linken seit den G8-Protesten in Heiligendamm vor sechs Jahren unterbrochen wird. Wer für die Ruhestörung verantwortlich gemacht wird, ist in Anbetracht dessen, daß ein solcher Protest immer mehr meint als die offiziell erhobenen Forderungen, naheliegend. In einem Land, in dem Familien zwangsgeräumt werden, ohne eine Alternative zum Wohnen zu haben, in dem das Überleben bei Erwerbslosigkeit die Entrechtung des Marktsubjekts zwingend voraussetzt, in dem die Vollmacht zur geheimdienstlichen Überwachung bürgerrechtliche Garantien zunichte macht und das Eigentumsrecht gegen das Interesse der Menschen an einem angemessenen Leben in absolute Stellung gebracht wird, das Versammlungsrecht für eine tendenziell antikapitalistische Bewegung in Anspruch zu nehmen, ohne mit massenmedialer Bezichtigung und sicherheitsstaatlicher Verdächtigung zu rechnen, wäre schlicht widersinnig.

Wenn aus einem Demonstrationszug heraus besonders prominente Symbole kapitalistischer Herrschaft attackiert werden, was auch bei ansonsten friedlichem Verlauf geschehen kann, dann stehen dabei widrige Umstände Pate, die auf dem Pflaster der Straßen lediglich ausgetragen werden. Den kollektiven Bruch mit der herrschenden Ordnung zum Skandal zu erheben, während die Privatisierung der Gewinne und die Sozialisierung der Kosten die gesellschaftliche Norm darstellt, produziert das Stigma der Abweichung zu Lasten derjenigen, die an diesem Beutezug nicht teilhaben wollen oder ihn mit Lohnarbeit notdürftig befestigen. Der nun inflationär verwendete Extremismusbegriff markiert diese Abweichung aus gutem Grund ohne qualitative Analyse der sie bedingenden Faktoren. Wenn ganze Gesellschaften in die Geiselhaft einer durch materielle Produktion nicht mehr hinreichend zu sichernden Profitrate genommen und auf Generationen hinaus dem Diktat der Gläubiger unterworfen werden, dann kann die einseitige Schuldzuweisung an die Adresse der Demonstrantinnen und Demonstranten nicht ausbleiben.

So ruft Hamburgs Innensenator zu mehr Solidarität mit der Polizei auf und meint doch nur die bedingungslose Unterwerfung unter Gewaltverhältnisse, für deren Auswirkungen die Sachwalter des staatlichen Gewaltmonopols im Zweifelsfall den Kopf hinhalten müssen. Das Verhältnis von Legalität und Legitimität bildet soziale Widersprüche paßgenau ab. Je deutlicher das Recht der Eigentumsordnung den Anspruch auf soziale Gerechtigkeit relativiert, desto mehr fühlt sich die Exekutive berufen, mit Gewalt durchzusetzen, was das schlichte Lebensinteresse negiert. Die Ermächtigung zum Ausnahmezustand ist das probate Mittel, wenn in einer sich verstetigenden Krise offenkundig wird, daß das Gros der Bevölkerung nicht einmal mehr auf konventionelle Weise in Wert gesetzt werden kann, sondern als Unwert den Maßgaben der Mangelregulation überantwortet wird.

Noch fällt es nicht schwer, den Demonstrantinnen und Demonstranten jegliche Sympathie durch die Bevölkerung zu entziehen, kann diese doch im europäischen Vergleich noch ein wenig mehr Überlebenssicherheit als andere Bevölkerungen in Anspruch nehmen. Wird der Keil des Sozialneids und der Nationenkonkurrenz trotz aller Fensterreden zu den humanistischen Werten und zum postnationalen Charakter Europas auch noch so kräftig zwischen die Standorte des Kostenwettbewerbs und die Zielgebiete des Kapitalexports getrieben, so ist dieser Vorteil schon aus Gründen der nicht aufzuhaltenden Verwertungskrise befristet. Der Staat bereitet sich durch die Aushöhlung des Versammlungsrechts, durch die Vorratsdatenspeicherung, durch die Militarisierung der Innenpolitik und andere Maßnahmen auf unruhiger werdende Zeiten vor.

Gerade weil die Bundesrepublik ihren Aufstieg zur europäischen Führungsnation zu Lasten der verarmten Staaten Süd- und Osteuropas vollzogen hat, muß gehandelt werden. Vorkehrungen für den Zeitpunkt zu treffen, wenn hierzulande vergleichbares soziales Elend Einzug hält, ist, ob explizit ausgesprochen oder in den Begriffswolken der Aufstandsbekämpfung versteckt, fester Programmpunkt aller Sicherheitsbehörden. Konzernmedien und öffentlich-rechtlicher Rundfunk flankieren den Schutz der herrschenden Ordnung schon im eigenen Interesse. Wenn die Menschen sich nicht mehr an den bunten Welten gefälliger Ablenkung ergötzen, wenn sie die Zurschaustellung menschlicher Schwächen als gegen sich selbst gerichteten Sozialrassismus durchschauen und die Zwangslogik der Arbeitsgesellschaft nicht mehr wie das erste Gebot einer Erlösungsreligion schlucken, dann sind die Ingenieure der Widerspruchsregulation und Herolde des Konsensmanagements schlichtweg überflüssig. Und das könnte sogar schlimmer sein als die Störung weihnachtlichen Konsums.

22. Dezember 2012