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PROPAGANDA/1445: Seedrama im Mittelmeer - Der namenlose Tod der Kriegsflüchtlinge (SB)



Seit Tagen bestimmt die Havarie des Kreuzfahrtschiffs "Costa Concordia" die Schlagzeilen der Zeitungen und Nachrichtensendungen. Kein Detail dieses Unglücks ist zu gering, um nicht ausgiebig debattiert zu werden, kein Passagier zu unwichtig, um nicht Erwähnung zu finden. Während nichts dagegen spricht, umfassend über eine derartige Tragödie zu berichten, kommt doch die Frage auf, wieso der Tod tausender Flüchtlinge im Mittelmeer einen vergleichsweise geringen Stellenwert erhält. Im letzten Jahr kam es aufgrund des Libyenkriegs zu mehreren Katastrophen, bei denen mit Flüchtlingen überladene Boote tagelang sich selbst überlassen blieben, so daß Passagiere schon aufgrund des Mangels an Trinkwasser starben. Über diese Tragödien wurde in den europäischen Medien zwar berichtet, sie erhielten jedoch niemals eine auch nur annähernd vergleichbare Beachtung wie das Schicksal europäischer Touristen, die auf einer Kreuzfahrt ums Leben kommen. Zum einen war dieser Mangel an Aufmerksamkeit der Normalität europäischer Flüchtlingsabwehr geschuldet, den stillen Tod im Mittelmeer als eine Art Kollateralschaden administrativer Grenzsicherung zu behandeln [1]. Zum andern paßte der massenhafte Tod der Flüchtlinge nicht ins Bild der angeblich humanitären Intervention der NATO in Libyen. Daß die Vorverlagerung der Flüchtlingsabwehr nach Nordafrika auf eine Kollaboration der EU mit der libyschen Regierung zurückging und schwarzafrikanische Migranten von den als Freiheitskämpfern glorifizierten Rebellen auf rassistische Weise drangsaliert wurden, wurde verschämt in die Fußnoten der Berichterstattung verbannt.

Ein Schiff mit 72 Flüchtlingen, das Libyen am 25. März 2010 Richtung Lampedusa verlassen hatte und in Seenot geriet, wurde trotz mehrerer Kontakte mit NATO-Einheiten und der Benachrichtigung der italienischen Küstenwache seinem tödlichen Schicksal überlassen. Am 10. April wurde das manövrierunfähige Boot an die libysche Küste getrieben. In den 16 Tagen auf See waren 61 Flüchtlinge verhungert oder verdurstet. Kurz nach Ankunft in Libyen starb ein weiterer Passagier, und im Gefängnis, in das die Migranten von den libyschen Regierungstruppen gesteckt wurden, erlag ein weiterer Flüchtling seiner Entkräftung. [2]

Rund 100 Flüchtlinge überlebten die Fahrt eines 20 Meter langen Holzbootes, das am 6. August 2011 südlich der Insel Lampedusa von der italienischen Küstenwache aufgebracht wurde, nicht. Die 300 geretteten Passagiere befanden sich in einem Zustand starker Entkräftung und Dehydrierung, trieb das Schiff doch mehrere Tage mit defektem Motor auf dem Mittelmeer. Dort war es von einem Schlepper entdeckt worden, der zwar ein SOS-Signal abgab, aber weiterfuhr. Die von der italienischen Küstenwache alarmierte NATO lehnte es ebenfalls ab, den Flüchtlingen zu helfen. [3] Da das Seegebiet zwischen Libyen und Italien zu den insbesondere in Kriegszeiten besten überwachten Regionen des Mittelmeers gehört, muß vermutet werden, daß auch die Tragödien, in denen vollbesetzte Boote spurlos verschwanden, bei rechtzeitiger Hilfe hätten verhindert werden können.

Im den ersten sechs Monaten des Libyenkriegs zählte das UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR 1500 Flüchtlinge, die bei dem Versuch starben, die rund 300 Kilometer lange, den europäischen Grenzschutzbehörden wie der NATO bestens bekannte Fluchtroute von Libyen nach Italien zu überwinden. Diese Menschen hatten sich, von kriegerischer und rassistischer Gewalt getrieben, auf diesen gefährlichen Weg gemacht. Die Passagiere der "Costa Concordia" befanden sich auf einer Vergnügungsreise, die für einige von ihnen schrecklich endete. Es gäbe keinen Grund, diese von den Betroffenen gleichermaßen ohnmächtig erlittenen Tragödien miteinander in Beziehung zu setzen, wenn nicht behauptet würde, daß die Kriege der NATO aus humanitären Gründen geführt würden. Diese massenmedial verstärkte Propaganda verfängt - etwa auch im Falle der gegen Syrien gerichteten Drohungen - unbeschadet der menschenfeindlichen Praxis einer Flüchtlingsabwehr, deren Opfer praktisch zu Nichtmenschen erklärt werden. Hätten die Medien, die das Drama um das Kreuzfahrtschiff zum Topthema erheben, der Not der Kriegsflüchtlinge in gleicher Weise Aufmerksamkeit geschenkt, dann wäre die von ihnen betriebene Rechtfertigung des Libyenkriegs Gefahr gelaufen, unglaubwürdig zu sein.

Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub0983.html

[2] http://www.guardian.co.uk/world/2011/may/08/nato-ship-libyan-migrants?INTCMP=ILCNETTXT3487

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingsdrama-tote-vor-lampedusa-nato-soll-fluechtlingen-hilfe-verweigert-haben-1.1128237

16. Januar 2012