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PROPAGANDA/1434: Mauerbau und Stasitreiben - Wer wollte da noch die Klassenfrage stellen? (SB)



Am 13. August hat Deutschland etwas zu feiern. Mit einer großen Gedenkveranstaltung wird in Berlin in Anwesenheit der gesammelten Politprominenz, angeführt von Bundespräsident Christian Wulff und Kanzlerin Angela Merkel, an den Mauerbau vor 50 Jahren erinnert. "Wir sind Sieger", möchte man da anstimmen, verböte nicht in diesem speziellen Fall die unerwünschte Assoziation mit Siegerjustiz und dergleichen allzu Offensichtlichem mehr die ansonsten weit über den Boulevard hinaus opportune Beschwörung deutscher Identitätsstiftung. Daß die Mauer gut 28 Jahre später gefallen ist, wird bekanntlich an einem anderen Gedenktag abgearbeitet, so daß man sich nun voll und ganz darauf konzentrieren kann, mit Trauer im Blick und Düsternis in der Stimme das Übel zu beklagen.

Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, dieser Tage zwangsläufig ein heißbegehrter Interviewpartner, macht es uns vor: Aufarbeitung habe kein Verfallsdatum, sagte er dem Hamburger Abendblatt [1]. "Natürlich schien auch im Osten die Sonne, und natürlich hatte auch ich in der DDR schöne Zeiten. Aber an Begrifflichkeiten wie Unrechtsstaat sollte man nicht rütteln." Warum das so ist, erklärt Jahn in folgendem Merksatz: "Die DDR war ein klarer Unrechtsstaat, weil das Unrecht von Staats wegen organisiert war." So einfach ist das.

"Meine Erkenntnis ist, durch nichts ist es zu rechtfertigen, dass Menschen auf diese Art ihrer Freiheit beraubt werden!", sagt der im März 2011 vom Bundestag zum Nachfolger von Joachim Gauck und Marianne Birthler gewählte frühere DDR-Bürgerrechtler in der Sendung "hr1-Talk" über den Mauerbau. [2] Wer wie er die historische deutsche Trennmauer entschieden ablehnt und allen Ernstes Lehren aus der Vergangenheit ziehen will, fände in den Mauern der Gegenwart ein reiches Betätigungsfeld. Da wäre beispielsweise die gewaltige Sperrmauer, mit der Israel die völkerrechtswidrig besetzten Palästinensergebiete abriegelt. Fragt man nach toten und verletzten, ihres Landes beraubten, an Bewegungsfreiheit gehinderten und fortgesetzt gedemütigten Menschen, braucht das Westjordanland keinen Vergleich zu scheuen.

Doch um die Konsequenz, daß so etwas Menschen nie wieder angetan werden dürfe, geht es beim Gedenken an den Berliner Mauerbau natürlich am allerwenigsten. 22 Jahre nach dem Ende der DDR und dem Anschluß des deutschen Ostens an die Bundesrepublik wirft dieser Triumph noch immer eine satte Rendite ab, und das nicht nur für die ökonomischen Profiteure des Zugewinns. Mit dem stets aufs Neue beschworenem Sieg im Kampf der Systeme entsorgt man die Klassenfrage, die mit Nachdruck zu stellen die Bundesbürger in wachsender Zahl gute Gründe hätten. Massenhaft verelendet und ausgegrenzt, zermürbt und ausgespuckt von den Mühlen kapitalistischer Verwertung, lektioniert man sie in Gedenken an den Mauerbau, daß sie seit 1989 hüben wie drüben in Freiheit leben und daher das Maul nicht aufreißen sollten.

Wenn der aus Westdeutschland stammende Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering, die DDR nicht für einen Unrechtsstaat hält, nennt ihn Jahn flugs einen "Ostversteher", der sich damit seinem Wahlvolk anbiedere. Und was die Linkspartei betreffe, müsse die sich den "Vorwurf der Verklärung der Zustände in der DDR gefallen lassen". Die Linke habe "noch Nachholbedarf bei ihrer eigenen Aufarbeitung. Es würde der Aufarbeitung insgesamt helfen, wenn die Linke das Verhältnis der SED als Auftraggeberin der Staatssicherheit stärker beleuchten würde."

Sollte der Westdeutsche meinen, die Stasi ginge ihn nichts an, läßt ihn der Bundesbeauftragte mitnichten vom Haken. "Die Stasi war keine Sache des Ostens allein", so der Behördenchef. Sie sei "Teil der Geschichte aller Deutschen" gewesen. Insgesamt habe die linke Polit-Szene für die Stasi große Bedeutung gehabt. "Die Stasi war immer daran interessiert, dass die bundesdeutsche Gesellschaft destabilisiert wurde. Also hat sie auch hier Kontakte gesucht und gefunden und versucht einzuwirken". Von der in jüngerer Zeit mit wachsender Begeisterung kolportierten These, die westdeutsche Linke sei in erheblichem Maße von der DDR-Staatssicherheit unterwandert gewesen, bis hin zum Schluß, die bundesrepublikanische Linksbewegung sei ein Produkt östlicher Geheimdienste und mithin als fataler historischer Irrtum entlarvt, ist es nur noch ein Katzensprung.

Wer das für abwegig hält, muß sich vom Aufklärer Jahn eine weitere Lektion über das Wirken der Stasi im Westen Deutschlands gefallen lassen. Sie habe mit Hilfe von Westdeutschen in der Bundesrepublik vor allem Militär- und Wirtschaftsspionage betrieben. Die Stasi-Unterlagenbehörde gehe davon aus, daß noch Tausende ehemalige Spione der DDR in Westdeutschland unentdeckt sind. Die Experten des Amts hätten für die Zeit zwischen 1949 und 1989 rund 12.000 Westspione berechnet, so der Behördenchef.

Wie kann man unentdeckte Spione berechnen, obwohl man sie per Definition gar nicht kennt? Wie einfach das geht, führt uns Roland Jahn vor. Man müsse nur die Zahl der Strafverfahren gegen solche Agenten als Bezugsgröße heranziehen. Von 1990 bis 1999 habe es etwa 3000 derartige Verfahren gegeben. "Davon kamen allerdings lediglich 500 zur Anklage, 360 Spione wurden verurteilt", so Jahn. Demnach sei die überwiegende Mehrzahl der Stasi-Spione in Westdeutschland bisher ungeschoren davongekommen, was man nur noch rechnerisch für den gesamten Zeitraum ins Verhältnis zu setzen brauche.

Offenbar ist dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen der feine, aber zumindest in Rechtsstaaten nicht unwesentliche Unterschied zwischen Verfahren, Anklageerhebung und ergangenem Urteil hinsichtlich der Schuldfrage nicht geläufig. Wenn man Zahlen braucht, um die Bedeutung der eigenen Behörde aufzuwerten und insbesondere deren ideologischen Auftrag in die Gesellschaft zu übertragen, dürfen es eben schon mal besonders elegante Rechenkünste sein, will man das Publikum an der Nase herumführen.

Fußnoten:

[1] http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article1982186/Roland-Jahn-Zweite-Chance-nur-bei-Einsicht.html

[2] http://www.hr-online.de/website/derhr/home/presse_meldung_einzel.jsp?rubrik=54989&key=presse_lang_42243005

6. August 2011